2023 – ein Jahr des Stillstands oder des Fortschritts?
Im letzten Briefing des Jahres schauen wir zurück – und erklären, was uns nächstes Jahr in den wichtigsten Themenfeldern der Schweizer Politik erwartet.
Von Philipp Albrecht, Dennis Bühler, Lukas Häuptli, Brigitte Hürlimann, Priscilla Imboden und Basil Schöni, 28.12.2023
Vor lauter Nachrichten den Überblick verloren? Jeden Donnerstag fassen wir für Sie das Wichtigste aus Parlament, Regierung und Verwaltung zusammen.
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Personell hat sich die Schweizer Politik im Jahr 2023 verändert: Im Herbst wurden 54 neue Nationalrätinnen und 13 neue Ständeräte gewählt. Und Mitte Dezember zog der Basler Sozialdemokrat Beat Jans in den Bundesrat ein.
Parteipolitisch allerdings blieb fast alles beim Alten. Zwar gewann die SVP neun Nationalratssitze hinzu – im Ständerat aber gelang es ihr einmal mehr nicht, ihre Vertretung auszubauen. Zwar verloren die Grünen fünf Sitze und die Grünliberalen sogar sechs – und doch erreichten sie damit immerhin ihr zweitbestes respektive drittbestes Resultat aller Zeiten. Aus internationaler Perspektive ist die Schweizer Politik weiterhin ungemein stabil.
Mit der Lupe betrachtet, ist der vor vier Jahren von einer linksgrünen Welle erfasste Nationalrat in diesem Herbst wieder leicht nach rechts gerutscht, während der traditionell konservative Ständerat nun einen Hauch linker zusammengesetzt ist. Ob sich die Kammern damit aber auch realpolitisch aufeinander zubewegen, bleibt abzuwarten.
Klar ist, dass die Mitte-Partei in der neuen Legislatur eine noch stärkere Position einnimmt als bisher. Im Ständerat braucht es sie sowohl für rechte als auch für linke Mehrheiten, im Nationalrat ist es ähnlich. Parteipräsident Gerhard Pfister freute sich entsprechend: «Wir erleben die Herausbildung eines Systems mit drei Polen», sagte er. Ihre Macht ausspielen kann Die Mitte allerdings nur, wenn ihre National- und Ständeräte an einem Strick ziehen.
Und im Bundesrat? Mit Alain Berset schied eine Person aus, die das Gremium während mehr als eines Jahrzehnts geprägt hat: in erster Linie in den Pandemiejahren 2020 bis 2022, als er als Gesundheitsminister zur alles dominierenden Figur wurde. Sein Nachfolger ist keine Überraschung: Der bisherige Basler Regierungspräsident Beat Jans wurde von Anfang an als Favorit gehandelt und am 13. Dezember dann auch ungefährdet gewählt.
Überraschend aber ist, dass Jans gar nicht Bersets direkter Nachfolger wird. Tags darauf nämlich informierte SP-Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider ihre verdutzten Regierungskollegen, dass sie ins Innendepartement wechseln möchte – und Jans das Justizdepartement überlasse, obwohl sie diesem erst seit einem Jahr vorstand. Der Gesamtbundesrat gab dem Antrag nach etwas Murren nach.
Auf niemanden in Bundesbern werden die Augen 2024 deshalb stärker gerichtet sein als auf Baume-Schneider, der seit ihrem Amtsantritt nachgesagt wird, keine besonders starke Bundesrätin zu sein: In den nächsten zwölf Monaten stehen in ihrem Zuständigkeitsbereich mindestens fünf – möglicherweise sogar sieben – Volksabstimmungen an.
Spannend werden dürfte es dann bei den nächsten Bundesratswahlen: Der Wähleranteil und die Anzahl Sitze in National- und Ständerat rechtfertigen nicht länger, dass die FDP zwei Bundesratssitze besetzt; Die Mitte dürfte versuchen, auf deren Kosten einen Sitz hinzuzugewinnen. Wahrscheinlicher als auch schon ist zudem, dass die Grünen (in einem Bündnis mit den Grünliberalen?) bei nächster Gelegenheit einen SP-Sitz attackieren werden – die Eintracht im linken Lager hat in den letzten Monaten gelitten.
Damit zum Überblick über die wichtigsten Entwicklungen im Jahr 2023 in acht ausgewählten Politikbereichen. Und falls Ihnen das alles zu düster ist: Scrollen Sie bis zum Ende – ganz unten erwartet Sie eine gute Nachricht.
Inhaltsverzeichnis
Klima und Energie: An der Urne und im Parlament vorwärtsgekommen – doch es geht zu langsam
Europa: Und sie bewegt sich doch – die Schweiz bereitet neue Verhandlungen mit Brüssel vor
Sicherheit: Streit um Panzer und Milliarden – und Startschwierigkeiten beim neuen Staatssekretariat
Gesundheit: Die Politik bekommt die Kosten nicht in den Griff – zwei Volksinitiativen wollen das ändern
Migration: Die Zuwanderung wächst (womöglich) auf Rekordstand – SVP und FDP wollen das für sich nutzen
Wirtschaft: Wie der Staat die Credit Suisse rettete – und welches Risiko die UBS nun darstellt
IT-Sicherheit: Das Jahr, in dem es den Bund erwischte – und die Skepsis wuchs, ob er für die Zukunft gewappnet ist
Medien: Ein Jahr des Stillstands – und nun kommen Halbierungsinitiative und Leistungsschutzrecht
Was sonst noch wichtig war: Agrarpolitik, Corona-Leaks, Diplomatie, Mieten und Sexualstrafrecht
Die gute Nachricht: Endlich frei
Klima und Energie: An der Urne und im Parlament vorwärtsgekommen – doch es geht zu langsam
Das ist passiert: Im Juni sagte die Stimmbevölkerung deutlich Ja zum Klimaschutzgesetz – zwei Jahre nachdem sie das CO2-Gesetz überraschend abgelehnt hatte. Das Klimaschutzgesetz definiert den Weg zu netto null Emissionen, setzt den Absenkpfad für Kohlenstoffdioxid-Emissionen fest und beinhaltet Subventionen für den Ersatz von Heizungen. Die Massnahmen, die nötig sind, um diese Ziele zu erreichen, stehen im neuen CO2-Gesetz, das im Dezember vom Parlament fast fertig beraten wurde: Senkung der Emissionsgrenzwerte für Fahrzeuge, Förderung von Ladestellen für Elektrofahrzeuge sowie von erneuerbaren Technologien und Gebäudesanierungen. Grosse Schritte vorwärts gelangen in der Energiepolitik durch Änderungen im Energiegesetz und im Stromversorgungsgesetz, dem sogenannten Energie-«Mantelerlass», den das Parlament Ende September verabschiedete. Dieses Regelwerk soll die Energiewende beschleunigen, indem es Ziele festsetzt zum Ausbau der Wasser-, Wind- und Sonnenenergie. Dafür kommt es zu Abstrichen beim Landschaftsschutz. Dagegen wehrt sich ein Referendumskomitee, an dem unter anderem die Fondation Franz Weber beteiligt ist, nicht aber die grossen Umweltschutzverbände. Insgesamt wenig förderlich für eine progressive Energie- und Klimapolitik war die Übernahme des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) durch Albert Rösti Anfang 2023. Der SVP-Bundesrat hatte als Nationalrat Mandate aus der Erdöl- und Autoindustrie innegehabt und die von Bundesrätin Simonetta Sommaruga forcierte Klimapolitik bekämpft.
Das ist der aktuelle Stand: Die Schweiz ist nicht auf Kurs, was die Einhaltung ihrer Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaschutzabkommen angeht. Beim Ausbau der erneuerbaren Energie muss es schneller gehen, damit genügend Strom zur Verfügung steht, um die Kernkraft zu ersetzen, sobald die AKW das Ende ihrer Laufzeit erreichen und abgestellt werden. Wichtig für die Stromversorgung ist ausserdem die Zusammenarbeit mit Europa – hier spielt das angestrebte Stromabkommen mit der EU eine zentrale Rolle. Verhandlungen dazu sollen im nächsten Jahr stattfinden.
Wie es weitergeht: Im Jahr 2024 wird die Stimmbevölkerung über das Referendum gegen den Energie-«Mantelerlass» befinden. Und die Republik wird «Challenge Accepted» weiterführen, das erste Angebot, das aus ihrem vor einem Jahr lancierten Klimalabor entstanden ist.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
Nach rechts: Wie Bundesrat Albert Rösti die Klimapolitik und andere Bereiche seines Departements langsam, aber stetig auf SVP-Kurs trimmt.
Warum es in der Klimapolitik Verbote braucht: ein Essay von Republik-Redaktor Elia Blülle.
Keine Kapitulation: der Appell von US-Autorin Rebecca Solnit, in der Klimakrise die Hoffnung nicht zu verlieren.
Europa: Und sie bewegt sich doch – die Schweiz bereitet neue Verhandlungen mit Brüssel vor
Das ist passiert: Zu Beginn dieses Jahres schien alles wie immer. Wie immer, seit die Schweiz die Verhandlungen mit der EU abgebrochen hatte. Das war im Frühling 2021, und von da an fanden zwischen den Parteien Sondierungsgespräche statt. Ein Fortschritt war nicht zu erkennen. Doch dann, scheinbar aus dem Nichts, kam Bewegung ins Dossier: Im März erklärten die Kantone, sie würden neue Verhandlungen mit der EU begrüssen. Und nur fünf Tage später teilte der Bundesrat mit, er wolle «Eckwerte» für ein neues Verhandlungsmandat ausarbeiten. Im Juni verabschiedete er sie dann auch – ohne öffentlich zu kommunizieren, um welche «Eckwerte» es sich handelt. Damit erreichten der Bundesrat und Aussenminister Ignazio Cassis vor allem eines: Die EU-Frage war im Wahlkampf kaum ein Thema. Erst nach den eidgenössischen Wahlen, nämlich im November, beschloss der Bundesrat, auf der Grundlage besagter Eckwerte ein konkretes Verhandlungsmandat auszuarbeiten.
Das ist der aktuelle Stand: Am 15. Dezember hat der Bundesrat seinen Entwurf für dieses Mandat verabschiedet. Aus den zahlreich veröffentlichten Dokumenten dazu geht hervor: Die Schweiz soll den Europäischen Gerichtshof als ausschlaggebende Instanz zur Streitbeilegung anerkennen sowie laufend EU-Recht in denjenigen Bereichen übernehmen, in denen bilaterale Abkommen bestehen. Im Gegenzug macht die Europäische Union Konzessionen bei der Unionsbürgerrichtlinie und beim Lohnschutz. So sollen EU-Bürgerinnen in der Schweiz erst dann Sozialhilfe erhalten, wenn sie mindestens fünf Jahre hier gearbeitet haben. Und beim Lohnschutz soll eine sogenannte Non-Regressions-Klausel gelten. Das heisst, dass die Schweiz künftige EU-Bestimmungen nicht übernehmen müsste, sollten diese den heutigen Lohnschutz schmälern.
Wie es weitergeht: Der Entwurf des EU-Verhandlungsmandats geht jetzt für «zwei bis drei Monate» (Cassis) in eine Konsultation, und zwar beim Parlament, bei den Kantonen sowie den Wirtschafts- und Sozialpartnern. Danach wird der Bundesrat voraussichtlich das definitive Mandat verabschieden und Verhandlungen mit der EU aufnehmen. Wann diese abgeschlossen sind, ist unklar – auch weil in der EU im nächsten Juni Wahlen anstehen. Fest steht, dass die neuen Verträge auch von den Schweizer Stimmberechtigten genehmigt werden müssen. Die Abstimmung könnte zu einem letzten Stolperstein für die Klärung des künftigen Verhältnisses zwischen der Schweiz und der EU werden.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
Neuer Schwung: Warum der im Dezember in den Bundesrat gewählte SP-Politiker Beat Jans dem EU-Dossier nur guttun kann.
Der Blick aus Brüssel: Wie der mit der Schweiz bestens vertraute EU-Parlamentarier Andreas Schwab die bilateralen Beziehungen beurteilt.
Die EU und die Löhne: Warum Gewerkschafter Adrian Wüthrich nicht zu Kompromissen bereit ist, erklärt er im Interview.
Sicherheit: Streit um Panzer und Milliarden – und Startschwierigkeiten beim neuen Staatssekretariat
Das ist passiert: Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine vor bald zwei Jahren forderten SVP und FDP mehr Geld für die Armee. Mit Erfolg: Das Parlament beschloss bald darauf, dass die Armeeausgaben bis 2030 ein Prozent des Bruttoinlandprodukts betragen sollen, was einer mehr als 70-prozentigen Erhöhung gegenüber dem heutigen Armeebudget entspricht. Anfang 2023 machte Finanzministerin Karin Keller-Sutter den Militärfreunden allerdings einen Strich durch die Rechnung: Sie setzte durch, dass das Ziel um fünf Jahre verschoben wird, um die Schuldenbremse einhalten zu können. Ein heisses Thema blieb im gesamten Jahr 2023 umstritten: Waffen für die Ukraine. Der Bundesrat verweigerte europäischen Ländern die Weitergabe von in der Schweiz gekauftem Kriegsmaterial, worauf Deutschland drohte, keine Schweizer Munition mehr zu kaufen. Ebenso untersagte der Bundesrat der Rüstungsfirma Ruag, ausser Dienst gestellte Leopard-1-Panzer nach Deutschland zu verkaufen. Verschiedene Versuche, das Kriegsmaterialgesetz zugunsten der Ukraine zu lockern, scheiterten im Parlament. Dafür möchten National- und Ständerat dem Bundesrat erlauben, von den Beschränkungen für Kriegsmaterialausfuhren abzuweichen, wenn die «Wahrung der aussen- oder sicherheitspolitischen Interessen des Landes dies erfordert». Diese im Dezember beschlossene weitgehende Lockerung des Kriegsmaterialgesetzes schafft keine Möglichkeit für Waffenexporte in die Ukraine, könnte der Rüstungsindustrie aber Exporte beispielsweise in Bürgerkriegsländer ermöglichen. Das sorgt für Ärger bei den Initiantinnen der Korrekturinitiative, die ihre Initiative vor zwei Jahren zurückgezogen hatten, nachdem das Parlament eine solche Lockerung abgelehnt hatte.
Das ist der aktuelle Stand: Punkto Armeefinanzierung bleibt offen, wie die zusätzlichen Ausgaben fürs Militär ohne Steuererhöhung oder massive Kürzungen in anderen Bereichen des Staatshaushalts finanziert werden sollen. Die Weitergabe von Rüstung aus Schweizer Herkunft in die Ukraine bleibt verboten.
Wie es weitergeht: Ab dem 1. Januar gibt es ein neues Staatssekretariat: das Sepos, das sicherheitspolitische Entwicklungen antizipieren soll. Die Sepos-Gründung war ein Sieg für Verteidigungsministerin Viola Amherd. Weniger glücklich verlief ihre Suche nach der Person für die Spitze dieser neuen Behörde: Der vom Bundesrat als Staatssekretär designierte Diplomat Jean-Daniel Ruch erwies sich wegen privater Affären als Sicherheitsrisiko. Ein weiterer Kandidat, Thomas Greminger, zog sich wegen Vermischung von Privatem mit Beruflichem zurück. An der letzten Bundesratssitzung vor Jahresende ernannte der Bundesrat Brigadier Markus Mäder zum neuen Staatssekretär. Da er bisher als Chef Internationale Beziehungen Verteidigung bereits im VBS tätig war, kann er das Amt auf Anfang 2024 antreten. In seiner neuen Funktion wird er sich um die Beziehungen zur Nato, die Neutralitätspolitik und die Erneuerung der Armee kümmern. Seine Stellvertreterin wird Botschafterin Pälvi Pulli sein, die bisherige Chefin Sicherheitspolitik im VBS.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
Ausdruck von Konzeptlosigkeit: ein Essay von Erich Keller über den typisch schweizerischen Streit über Neutralität und Waffenexporte.
Neutralität aus linker Sicht: SP-Co-Präsident Cédric Wermuth äussert sich im Interview unter anderem zur Schweizer Ukraine-Politik und zur Armee.
Gedanken zum Pazifismus: Kann das Stiften von Frieden im Extremfall den Einsatz von Waffen erfordern? Ein Gastbeitrag von Josef Lang.
Gesundheit: Die Politik bekommt die Kosten nicht in den Griff – zwei Volksinitiativen wollen das ändern
Das ist passiert: Das Jahr stand ganz im Zeichen der steigenden Preise. Ende September musste der Bundesrat den höchsten Prämienanstieg seit 14 Jahren verkünden – 2024 erhöhen sich die Beiträge der Versicherten an die Krankenkassen um durchschnittlich 8,7 Prozent (nachdem sie schon 2023 um 6,6 Prozent angestiegen sind). Viele Haushalte leiden bereits unter der Inflation und geraten nun noch stärker in Geldnot. Währenddessen diskutierte das Parlament Massnahmen zur Kostendämpfung. Dabei handelt es sich lediglich um einen Teil eines grossen Pakets, das auf Vorschlägen basiert, die eine Expertenkommission bereits im Jahr 2017 vorgelegt hat. Reformen des Gesundheitssystems haben es in der Schweizer Politik besonders schwer, da alle Branchenakteurinnen, die vom heutigen, überteuerten System profitieren, mit eigenen, teilweise bezahlten Vertretern im Parlament sitzen. Allein das Seilziehen um einen ersten Teil der Kostendämpfungsmassnahmen dauerte fast zweieinhalb Jahre. Noch viel länger dauerte die Diskussion über einen Vorstoss, der die Finanzierung der Tarife in Spitälern und Arztpraxen vereinheitlichen will. Er stammt aus dem Jahr 2009 und wurde nun kurz vor Weihnachten abgeschlossen.
Das ist der aktuelle Stand: Was die steigenden Prämien betrifft, so haben im Oktober und November vermutlich mindestens 15 Prozent der Versicherten ihre Kasse gewechselt, was im langjährigen Durchschnitt viel ist. Noch höher war die Wechselquote im letzten Jahr – da lag sie bei fast 20 Prozent –, als die Prämien weniger stark gestiegen waren als dieses Jahr. Geht es nach dem Bundesrat, sollten erste Massnahmen dazu führen, dass die Kosten nun nicht mehr so stark steigen. Ende Oktober beschloss er, dass Teile der vom Parlament verabschiedeten Kostendämpfungen per 1. Januar 2024 in Kraft treten. Unter anderem werden die Tarifpartner jetzt verpflichtet, die Kosten besser zu überwachen, und die Versicherer können Beschwerde gegen Planungsentscheide der Kantone zu Spitälern einreichen.
Wie es weitergeht: Auf die neue Gesundheitsministerin Elisabeth Baume-Schneider wartet sehr viel Arbeit. Wie gross der Reformbedarf im Schweizer Gesundheitswesen ist, zeigt die Website ihres Bundesamts für Gesundheit, auf der 15 «laufende Revisionsprojekte» aufgeführt sind. Darüber hinaus stehen zwei Volksinitiativen an, die auf Symptombekämpfung setzen. Die SP will mit ihrer Prämienentlastungsinitiative erreichen, dass Versicherte nicht mehr als 10 Prozent ihres Einkommens für die Krankenkassenprämien ausgeben müssen. Was darüber liegt, wird mit Steuergeldern finanziert. Mit einem leicht anderen Ansatz will Die Mitte mit ihrer Kostenbremseinitiative das Gesundheitswesen «retten»: Ist ein bestimmtes Limit bei den Krankenkassenprämien erreicht, muss der Bund unmittelbar Massnahmen zur Kostenbremse umsetzen. Die SP und Die Mitte haben ihre Initiativen trotz Gegenvorschlägen nicht zurückgezogen.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
Warum die Gesundheitskosten ausser Kontrolle sind: eine Übersicht zu den Ursachen und Hintergründen.
Ein revolutionärer Vorschlag: Wie zwei Genfer Professoren das Gesundheitswesen umbauen möchten.
Winter für Winter derselbe Mist: Hat unser Immunsystem in der Pandemie verlernt, mit Grippeviren umzugehen?
Migration: Die Zuwanderung wächst (womöglich) auf Rekordstand – SVP und FDP wollen das für sich nutzen
Das ist passiert: Die Schweiz ist und bleibt ein Einwanderungsland. 2023 dürfte der sogenannte Wanderungssaldo der ausländischen Wohnbevölkerung sogar die Marke von 100’000 Menschen überschreiten. Bis Ende November lag er bei rund 95’000; Zahlen zum Dezember gibt es noch nicht. Am meisten Menschen zogen bis November aus Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Polen zu. Der bisherige Einwanderungsrekord stammt von 2008 und beträgt rund 103’000 Menschen. Auch die Zahl der Asylsuchenden wird 2023 im Vergleich zu den Vorjahren hoch ausfallen: Bis Ende November lag sie bei rund 28’000. Die meisten Geflüchteten stammen aus Afghanistan, der Türkei, Eritrea, Algerien und Marokko. Dazu kommen rund 18’000 Menschen aus der Ukraine, die letztes Jahr in der Schweiz einen sogenannten Schutzstatus S erhielten.
Das ist der aktuelle Stand: Vor allem die SVP, mehr und mehr aber auch die FDP betrachten Migration und Asylwesen als ihre zentralen politischen Themen. Die SVP hat damit ihren Wahlkampf bestritten, die FDP versuchte es ihr ansatzweise gleichzutun. So reichte FDP-Ständerat Damian Müller im Parlament mehrere Vorstösse ein, die eine Verschärfung der Asylpraxis bezweckten. Unter anderem verlangte er, dass der Bund abgewiesene Asylsuchende in Drittländer abschieben darf. Nachdem der Ständerat Müllers Motion angenommen hatte, lehnte der Nationalrat sie ab. Damit ist die Idee vom Tisch. Daneben entschied das Staatssekretariat für Migration, für das 2023 Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider verantwortlich war, dass Frauen aus Afghanistan in der Schweiz grundsätzlich Asyl erhalten. Dies gilt womöglich bald auch in der EU; ein entsprechender Antrag ist seit Anfang November vor dem Europäischen Gerichtshof hängig.
Wie es weitergeht: Es ist absehbar, dass die Zahl der Migrierenden in die Schweiz – seien es Erwerbstätige, seien es Asylsuchende – auch im nächsten Jahr hoch sein wird. Ebenso absehbar ist, dass die Parteien rechts der Mitte daraus politisches Kapital schlagen werden. Noch immer läuft zum Beispiel die Unterschriftensammlung der SVP für ihre sogenannte Nachhaltigkeitsinitiative. Gemäss dieser muss der Bund dafür sorgen, dass die Einwohnerzahl der Schweiz vor dem Jahr 2050 nicht die Zehn-Millionen-Marke überschreitet. Noch steht nicht fest, wann die Initiative zur Abstimmung kommt.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
Die Schweiz hat nicht zu viele Ausländer, sondern zu wenige: Warum unser Land auf zusätzliche Zuwanderung angewiesen ist.
Was macht Fremdenhass zu einer politischen Waffe der Rechten? Der Podcast mit Daniel Binswanger und Natascha Strobl.
Was die Schweiz zum Einwanderungsland macht: die Geschichte der Migration in den letzten 50 Jahren – erklärt mit Grafiken und Zahlen.
Wirtschaft: Wie der Staat die Credit Suisse rettete – und welches Risiko die UBS nun darstellt
Das ist passiert: Am Wochenende des 18. und 19. März schritt der Bundesrat ein, um die Zahlungsunfähigkeit der zweitgrössten Schweizer Bank abzuwenden. Nachdem immer mehr Kunden der Credit Suisse ihre Gelder abgezogen hatten, fädelte die Landesregierung gemeinsam mit der Nationalbank (SNB), der Finanzmarktaufsicht (Finma) und der UBS eine Fusion ein. Die UBS erklärte sich bereit, sämtliche CS-Aktien zum Gesamtpreis von 3 Milliarden Franken zu übernehmen. Die damit verbundenen Risiken deckte der Bund mit Garantien in Höhe von 9 Milliarden Franken und Liquiditätshilfen der SNB über insgesamt 250 Milliarden. Dies verlagerte die Risiken vorübergehend auf die Steuerzahlerinnen, bis die UBS Mitte August bekannt gab, auf die Garantien des Bundes verzichten zu können. Da es sich um eine systemrelevante Bank handelte, verfügte die Landesregierung die Fusion per Notverordnung. So durften die Aktionäre nicht über den Zusammenschluss abstimmen. In der Folge klagten Hunderte Aktionärinnen gegen den Beschluss, später kamen weitere Sammelklagen dazu, bis heute sind es rund 4000. Das Parlament behandelte die Fusion in einer ausserordentlichen Session Mitte April und stimmte (symbolisch) über die Garantien des Bundes ab. Der Ständerat segnete den Entscheid ab, der Nationalrat nicht. Gleichzeitig beschloss das Parlament, eine Untersuchungskommission (PUK) zu bilden, um die Vorgänge rund um die Notfusion zu beleuchten. Auch die Bundesanwaltschaft hat eine Untersuchung eingeleitet.
Das ist der aktuelle Stand: Die UBS besitzt nun eine beispiellose Marktmacht und birgt ein gefährliches «Too big to fail»-Risiko. Ihre Bilanzsumme ist doppelt so gross wie die gesamte Schweizer Wirtschaftsleistung. Die Wettbewerbskommission, die bei der Notübernahme im März vom Bund ausgeschaltet worden war, untersuchte nachträglich den Einfluss der neuen Superbank. Das Ergebnis wird derzeit noch von der Finma «geprüft». Von Kundenseite wird befürchtet, dass sich die Konditionen nun verschlechtern. Der zur UBS zurückgekehrte Ex-CEO Sergio Ermotti hat angekündigt, im Rahmen der Fusion 10 Milliarden Franken einzusparen, hauptsächlich zulasten des Personals. Aktuell ist die Rede von 3000 Kündigungen. Das Parlament hat derweil zahlreiche Vorstösse behandelt, die sich um «too big to fail», den Einfluss der SNB und die künftige Rolle der Finma drehen. Die Finma selber hat ihre Lehren aus der CS-Krise publiziert und fordert stärkere Instrumente zur Bankenaufsicht. Doch Verschärfungen haben es schwer: Erst Mitte Dezember versenkte etwa der Ständerat eine Motion, die die Finma mit zusätzlichen Kompetenzen ausrüsten wollte.
Wie es weitergeht: Die PUK wird bis März 2024 Dokumente auswerten und Behörden anhören. Danach soll der Schlussbericht erstellt werden. Parallel dazu muss das Parlament noch zahlreiche Vorstösse behandeln. Nachdem die UBS im August entschieden hat, die Marke Credit Suisse in der Schweiz definitiv verschwinden zu lassen, wird die CS Schweiz im Laufe des Jahres 2024 in die UBS Schweiz integriert. Die Bank rechnet heute damit, dass die gesamte Integration des operativen Geschäfts bis spätestens 2026 unter Dach und Fach sein wird.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
Die denkwürdige Medienkonferenz: Was wollten Bundesrat, Nationalbank und Credit Suisse uns eigentlich mitteilen? Wir haben übersetzt.
«Staatspolitisch ist die UBS ein Problem»: Was einer der Väter der «Too big to fail»-Regeln von der neuen Superbank hält.
Ruchlosigkeit, überzogene Gier und falsche Anreize: Daniel Binswanger zum Untergang der Credit Suisse – und den Folgen für die Schweiz.
IT-Sicherheit: Das Jahr, in dem es den Bund erwischte – und die Skepsis wuchs, ob er für die Zukunft gewappnet ist
Das ist passiert: Im Jahr 2023 wurde viel gehackt in der Schweiz. Das ist an sich nichts Neues. Angriffe und anschliessende Erpressungsversuche nehmen schon seit einigen Jahren zu, wie eine Auflistung der Fälle im Jahr 2021 eindrücklich zeigt. Doch dieses Jahr traf es gleich drei grössere Schweizer Firmen. Im Frühling hackte die Gruppierung Play den Medienkonzern CH Media, wovon auch die NZZ betroffen war. Die Hacker veröffentlichten über 500 Gigabyte Daten, darunter nicht öffentliche Informationen von Abonnentinnen und Mitarbeitern der betroffenen Medien. Im Sommer wurde bekannt, dass die gleiche Hackergruppe auch die Berner IT-Firma Xplain gehackt hatte. Knapp 400 Gigabyte wurden veröffentlicht. Und diese 400 Gigabyte hatten es in sich: Weil Xplain sich auf Softwarelösungen für Sicherheitsbehörden spezialisiert hat, gehören zu ihren Kundinnen diverse kantonale und eidgenössische Behörden. So wurden etwa vertrauliche Dokumente des Bundesamts für Polizei veröffentlicht, die die Sicherheitsmassnahmen für diplomatische Vertretungen oder Bundesratsresidenzen enthalten. Im Herbst schliesslich gab das Nationale Zentrum für Cybersicherheit bekannt, dass mit der Firma Concevis ein weiteres Software-Unternehmen gehackt wurde, das über Daten der Bundesverwaltung verfügte.
Das ist der aktuelle Stand: Nach dem Hack bei Xplain hat der Bundesrat einen Krisenstab mandatiert, eine Administrativuntersuchung eingeleitet und Strafanzeige eingereicht. Die Resultate werden erst 2024 vorliegen. Im Fall des neusten Hacks bei der Firma Concevis ist noch unklar, in welchem Ausmass der Bund betroffen ist. Auch hierzu laufen Abklärungen. Klar ist, dass vor allem der Datenabfluss bei Xplain grundsätzliche Fragen dazu aufgeworfen hat, wie der Bund seine Daten sichert und wem er Zugriff darauf gibt. Ab 1. Januar 2024 wird zudem das bisherige Nationale Zentrum für Cybersicherheit umgewandelt in das Bundesamt für Cybersicherheit. Dieses wird im Verteidigungsdepartement angesiedelt sein – ein umstrittener Entscheid, der dazu führte, dass erfahrene IT-Sicherheits-Spezialistinnen beim Bund gekündigt haben.
Wie es weitergeht: CH Media, Xplain und Concevis dürften nicht die letzten Firmen oder Institutionen sein, die in der Schweiz gehackt werden. Dass sensible Daten durch Hacks veröffentlicht werden, ist eine Realität, die sich fortsetzen wird. Die Frage ist, wie Firmen, Kantone und Bund mit diesen Risiken umgehen. Nach dem Jahr 2023 ist das Vertrauen in die IT-Kompetenz der Behörden zumindest angeschlagen. Dass dennoch erneut mit E-Voting experimentiert wird und der Ständerat eine zentrale Adressdatenbank aller Menschen in der Schweiz einführen möchte, kommt vielleicht nicht zum günstigsten Zeitpunkt.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
Die Stille nach dem Datenklau: Wie die NZZ und CH Media gehackt wurden und es versäumten, Betroffene zu informieren.
Der Xplain-Explainer: Was es mit dem Hack bei der IT-Firma Xplain auf sich hatte – die wichtigsten Antworten.
Xplain – ein Beschaffungsskandal: Wie das kleine Unternehmen aus Interlaken für den Bund zum Klumpenrisiko wurde.
Medien: Ein Jahr des Stillstands – und nun kommen Halbierungsinitiative und Leistungsschutzrecht
Das ist passiert: Die medienpolitischen Diskussionen drehten sich im ablaufenden Jahr vor allem um die SRG. Im August kam die sogenannte Halbierungsinitiative von SVP, Jungfreisinn und Gewerbeverband zustande, die die Radio- und Fernsehgebühren von 335 auf 200 Franken pro Jahr senken möchte. Dem trat der Bundesrat, der die Initiative ablehnt, im November mit einer eigenmächtigen Gebührenreduktion auf 300 Franken entgegen – was bei der SRG zum Abbau von rund 900 Stellen führen dürfte. Die Vernehmlassung, die bis Anfang Februar dauert, dürfte daran kaum etwas ändern. Die Halbierungsinitiative kommt 2024 ins Parlament und voraussichtlich 2026 an die Urne. Beim Thema Leistungsschutzrecht, über das die Republik vor bald zwei Jahren ausführlich berichtete, kam die Schweiz 2023 weniger weit voran als erwartet: In der Vernehmlassung hielten sich positive und negative Beurteilungen in etwa die Waage. Der Bundesrat wird im ersten Quartal 2024 verkünden, ob er an seinem Ziel festhält, globale Techplayer wie Google und Meta für die Verbreitung journalistischer Inhalte zur Kasse zu bitten.
Das ist der aktuelle Stand: In der Medienpolitik gab es 2023 somit kaum Fortschritte zu verzeichnen – und das ist schlecht für die Branche, die sich seit langer Zeit in einer strukturellen Finanzierungskrise befindet. Der Print-Werbeumsatz hat sich von 2014 bis 2022 von 1,5 Milliarden auf 735 Millionen Franken mehr als halbiert, und die Zahlungsbereitschaft des Publikums für Onlinemedien stagniert auf tiefem Niveau. Eine Lösung ist nicht in Sicht, nachdem der von Bundesrat und Parlament propagierte Ausbau der staatlichen Medienförderung Anfang 2022 an der Urne scheiterte. Die grossen Verlage sparten im Jahr 2023 erneut beim Journalismus: Bei Tamedia, «20 Minuten» und CH Media kam es zu Massenentlassungen. Mehrere kleinere Redaktionen gaben auf. Und auch die Republik sah sich gezwungen, das Budget zu reduzieren und erstmals in ihrer Geschichte Personal abzubauen. Der Braindrain in der Branche hält an: Gemäss einer 2023 zum dritten Mal durchgeführten Zählung steigen immer mehr Medienschaffende aus dem Beruf aus. Gründe dafür sind unter anderem ein vielerorts toxisches Arbeitsklima, fehlende Perspektiven und überzogene Renditeerwartungen der grossen Verlage.
Wie es weitergeht: Neben der SRG und dem Leistungsschutzrecht werden im kommenden Jahr zwei weitere medienpolitische Themen zu reden geben. Bis spätestens Ende März wird das Bundesamt für Kommunikation eine Vorlage präsentieren, um die grossen Plattformen zu regulieren – mit dem Ziel, diese zu mehr Transparenz zu zwingen und die Rechte der Nutzer in der Schweiz zu stärken. Komplizierter wird die Frage, wie die Schweiz auf rechtlicher Ebene mit künstlicher Intelligenz umgehen soll. Bis Ende 2024 soll das seit einem Jahr von Albert Rösti geführte Uvek eine Auslegeordnung präsentieren, auf deren Basis der Bundesrat dann 2025 entscheiden wird, welche Art Regulierung er einführen möchte. Wahrscheinlich ist, dass er sich an der EU-Regel orientieren wird – oder deren kürzlich verabschiedeten «AI Act» sogar ganz übernimmt.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
Die Krise der Medienbranche: Im Interview analysiert Medienprofessor Mark Eisenegger die Gründe – und skizziert mögliche Auswege.
Clickbait um jeden Preis: Die «SonntagsZeitung», der «Tages-Anzeiger» und weitere Schweizer Redaktionen rücken Stück für Stück nach rechts.
Warum die SRG fünf Jahre nach «No Billag» erneut scharf angegriffen wird: Daniel Binswanger über ihre Gegner und die Haltung des Bundesrats.
Was sonst noch wichtig war
Agrarpolitik: In der Landwirtschaftspolitik sagt der Schweizer Bauernverband, wos langgeht – das war 2023 so und wird sich so schnell auch nicht ändern. Denn der von Mitte-Nationalrat Markus Ritter geführte Verband hat seine Macht bei den Parlamentswahlen noch einmal ausgebaut: Vor allem im Nationalrat sind Bauern und bauernnahe Vertreter inzwischen geradezu grotesk übervertreten, die vor einem Jahr beschlossene Allianz mit dem Wirtschaftsdachverband Economiesuisse und dem Gewerbeverband hat sich voll bezahlt gemacht.
Corona-Leaks: Im Januar berichtete die «Schweiz am Wochenende», Alain Bersets Kommunikationschef Peter Lauener und Ringier-CEO Marc Walder hätten sich während der Pandemie Dutzende E-Mails geschrieben, die teilweise vertrauliche Informationen enthalten haben sollen. Bald schossen in Bundesbern und in den Medien alle gegen alle, die Lage war unübersichtlich und blieb es einige Monate lang. Inzwischen haben sich die Gemüter beruhigt: Im November veröffentlichte eine Arbeitsgruppe des Parlaments ihren Untersuchungsbericht zu den Corona-Leaks. Erstaunlicherweise hatte sie sich ausschliesslich auf Bersets Innendepartement (EDI) beschränkt – und stellte dabei fest, dass von den rund 200 vertraulichen Informationen, die während der Pandemie an die Medien gelangten, mit grosser Wahrscheinlichkeit keine einzige aus dem EDI stammte. Berset kritisierte die Untersuchung scharf. Noch ist die Affäre rechtlich nicht ausgestanden: Anfang Dezember kam es zur bisher letzten Wende.
Diplomatie: In den Jahren 2023 und 2024 ist die Schweiz Mitglied im Uno-Sicherheitsrat – und nach dem im Vorfeld namentlich von der SVP geschürten Aufruhr ist es nun primär verblüffend, wie wenig man darüber in der Schweiz hört und liest. Botschafterin Pascale Baeriswyl und das gesamte Aussendepartement leisten offenkundig grundsolide Arbeit. Ein diplomatischer Coup allerdings ist der Schweiz bis anhin nicht gelungen. Wobei das weniger mit ihr zu tun hat als mit dem zunehmend handlungsunfähigen Sicherheitsrat: Vor allem die Vetomacht Russland, die in der Ukraine Krieg führt, blockiert ständig Resolutionen.
Mieten: Auf dem Wohnungsmarkt läuft derzeit ziemlich viel ziemlich schief – was genau, listete die Republik im August in einem grossen Überblick auf. Direkte Auswirkungen hat das auf die Mietpreise: Wegen einer Anfang Juni erfolgten Erhöhung des hypothekarischen Referenzzinssatzes, die unter anderem mit der Teuerung begründet wurde, bezahlen viele Mieterinnen seit Oktober mehr Miete. Und weil der Referenzzinssatz Anfang Dezember nochmals erhöht wurde, droht nun erneut ein Aufschlag um bis zu 3 Prozent. SP-Nationalrätin Jacqueline Badran kritisiert die Abzockermentalität vieler Vermieter: «Mieterinnen zahlen in diesem Land 10,5 Milliarden Franken pro Jahr zu viel», sagte sie im Republik-Interview. «Das sind 370 Franken pro Monat.» Der Mieterverband versucht zwei vom Parlament beschlossene Aufweichungen des Kündigungsschutzes derweil mit Referenden abzuwenden – und wappnet sich für weitere Abwehrkämpfe.
Sexualstrafrecht: Am 16. Juni verabschiedeten National- und Ständerat nach jahrelangem Ringen eine Reform des Sexualstrafrechts. Deren Kern: Eine «Nein heisst Nein plus plus»-Lösung, wie sie von manchen Parlamentarierinnen genannt wurde. Bisher handelt es sich juristisch nur dann um eine Vergewaltigung, wenn das Opfer genötigt worden ist. Ab Inkrafttreten des neuen Sexualstrafrechts Mitte 2024 vergewaltigt, wer gegen den Willen des Opfers eine sexuelle Handlung vornimmt, die mit Eindringen verbunden ist – ob mit oder ohne Nötigung und unabhängig von der Art des Eindringens in den Körper. Mit dem Freezing-Zusatz im Vergewaltigungstatbestand sollen zudem Opfer in Schockstarre besser geschützt werden: Schockstarre entspricht neu einem nonverbalen Nein.
Die gute Nachricht: Endlich frei
Nach mehr als siebeneinhalb Jahren nonstop hinter Gittern ist Brian Keller am 10. November 2023 freigekommen. Es war ein kalter, trüber Freitagmorgen, als er das Untersuchungsgefängnis in der Stadt Zürich verliess – beobachtet von zwei Dutzend Medienschaffenden. Der 28-jährige Schweizer sprach in die Mikrofone, ruhig und gefasst. Und sagte, dass er nun erst mal ankommen müsse, zurück im Leben, zurück in der Gesellschaft. Seither ist es ruhig geworden rund um den vormals bekanntesten Gefängnisinsassen der Schweiz, der das Stigma des Jugendstraftäters «Carlos» bis heute nicht losgeworden ist. Die Ruhe ist ein gutes Zeichen. Und Keller ist entschlossen, seinem Leben eine Wende zu geben, die Chance zu nutzen. Offen bleibt – unter anderem – die Aufarbeitung der unmenschlichen Haftbedingungen im Gefängnis Pöschwies, denen der Insasse jahrelang ausgesetzt war. Der Berner Strafrechtsprofessor Jonas Weber hat diese Zustände in einem Gutachten klipp und klar als unrechtmässig eingestuft. Bleibt abzuwarten, wer dafür wann zur Rechenschaft gezogen wird – und wie. Bis anhin ist aus der Zürcher Justizdirektion wenig zu hören, das nach Einsicht klingt. Ganz anders der frühere Chef des Amts für Justizvollzug, Thomas Manhart, der sich bei Brian Keller entschuldigt hat – und Verantwortung übernimmt.
Illustration: Till Lauer