Briefing aus Bern

2023 – ein Jahr des Stillstands oder des Fortschritts?

Im letzten Briefing des Jahres schauen wir zurück – und erklären, was uns nächstes Jahr in den wichtigsten Themen­feldern der Schweizer Politik erwartet.

Von Philipp Albrecht, Dennis Bühler, Lukas Häuptli, Brigitte Hürlimann, Priscilla Imboden und Basil Schöni, 28.12.2023

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Vorgelesen von Egon Fässler
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Personell hat sich die Schweizer Politik im Jahr 2023 verändert: Im Herbst wurden 54 neue National­rätinnen und 13 neue Ständeräte gewählt. Und Mitte Dezember zog der Basler Sozial­demokrat Beat Jans in den Bundesrat ein.

Parteipolitisch allerdings blieb fast alles beim Alten. Zwar gewann die SVP neun Nationalrats­sitze hinzu – im Ständerat aber gelang es ihr einmal mehr nicht, ihre Vertretung auszubauen. Zwar verloren die Grünen fünf Sitze und die Grünliberalen sogar sechs – und doch erreichten sie damit immerhin ihr zweitbestes respektive drittbestes Resultat aller Zeiten. Aus internationaler Perspektive ist die Schweizer Politik weiterhin ungemein stabil.

Mit der Lupe betrachtet, ist der vor vier Jahren von einer linksgrünen Welle erfasste Nationalrat in diesem Herbst wieder leicht nach rechts gerutscht, während der traditionell konservative Ständerat nun einen Hauch linker zusammengesetzt ist. Ob sich die Kammern damit aber auch realpolitisch aufeinander zubewegen, bleibt abzuwarten.

Klar ist, dass die Mitte-Partei in der neuen Legislatur eine noch stärkere Position einnimmt als bisher. Im Ständerat braucht es sie sowohl für rechte als auch für linke Mehrheiten, im Nationalrat ist es ähnlich. Partei­präsident Gerhard Pfister freute sich entsprechend: «Wir erleben die Herausbildung eines Systems mit drei Polen», sagte er. Ihre Macht ausspielen kann Die Mitte allerdings nur, wenn ihre National- und Ständeräte an einem Strick ziehen.

Und im Bundesrat? Mit Alain Berset schied eine Person aus, die das Gremium während mehr als eines Jahrzehnts geprägt hat: in erster Linie in den Pandemie­jahren 2020 bis 2022, als er als Gesundheits­minister zur alles dominierenden Figur wurde. Sein Nachfolger ist keine Überraschung: Der bisherige Basler Regierungs­präsident Beat Jans wurde von Anfang an als Favorit gehandelt und am 13. Dezember dann auch ungefährdet gewählt.

Überraschend aber ist, dass Jans gar nicht Bersets direkter Nachfolger wird. Tags darauf nämlich informierte SP-Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider ihre verdutzten Regierungs­kollegen, dass sie ins Innendepartement wechseln möchte – und Jans das Justiz­departement überlasse, obwohl sie diesem erst seit einem Jahr vorstand. Der Gesamt­bundesrat gab dem Antrag nach etwas Murren nach.

Auf niemanden in Bundesbern werden die Augen 2024 deshalb stärker gerichtet sein als auf Baume-Schneider, der seit ihrem Amtsantritt nachgesagt wird, keine besonders starke Bundesrätin zu sein: In den nächsten zwölf Monaten stehen in ihrem Zuständigkeits­bereich mindestens fünf – möglicherweise sogar sieben – Volks­abstimmungen an.

Spannend werden dürfte es dann bei den nächsten Bundesrats­wahlen: Der Wähleranteil und die Anzahl Sitze in National- und Ständerat rechtfertigen nicht länger, dass die FDP zwei Bundesrats­sitze besetzt; Die Mitte dürfte versuchen, auf deren Kosten einen Sitz hinzu­zugewinnen. Wahrscheinlicher als auch schon ist zudem, dass die Grünen (in einem Bündnis mit den Grünliberalen?) bei nächster Gelegenheit einen SP-Sitz attackieren werden – die Eintracht im linken Lager hat in den letzten Monaten gelitten.

Damit zum Überblick über die wichtigsten Entwicklungen im Jahr 2023 in acht ausgewählten Politik­bereichen. Und falls Ihnen das alles zu düster ist: Scrollen Sie bis zum Ende – ganz unten erwartet Sie eine gute Nachricht.

Inhaltsverzeichnis

Klima und Energie: An der Urne und im Parlament vorwärts­gekommen – doch es geht zu langsam

Die Schweiz will künftig mehr Strom mit Solar-, Wind- und Wasserkraft­anlagen produzieren. Jean-Christophe Bott/Keystone

Das ist passiert: Im Juni sagte die Stimm­bevölkerung deutlich Ja zum Klimaschutz­gesetz – zwei Jahre nachdem sie das CO2-Gesetz überraschend abgelehnt hatte. Das Klimaschutz­gesetz definiert den Weg zu netto null Emissionen, setzt den Absenk­pfad für Kohlenstoff­dioxid-Emissionen fest und beinhaltet Subventionen für den Ersatz von Heizungen. Die Massnahmen, die nötig sind, um diese Ziele zu erreichen, stehen im neuen CO2-Gesetz, das im Dezember vom Parlament fast fertig beraten wurde: Senkung der Emissions­grenzwerte für Fahrzeuge, Förderung von Ladestellen für Elektro­fahrzeuge sowie von erneuerbaren Technologien und Gebäude­sanierungen. Grosse Schritte vorwärts gelangen in der Energie­politik durch Änderungen im Energie­gesetz und im Stromversorgungs­gesetz, dem sogenannten Energie-«Mantel­erlass», den das Parlament Ende September verabschiedete. Dieses Regelwerk soll die Energie­wende beschleunigen, indem es Ziele festsetzt zum Ausbau der Wasser-, Wind- und Sonnen­energie. Dafür kommt es zu Abstrichen beim Landschafts­schutz. Dagegen wehrt sich ein Referendums­komitee, an dem unter anderem die Fondation Franz Weber beteiligt ist, nicht aber die grossen Umweltschutz­verbände. Insgesamt wenig förderlich für eine progressive Energie- und Klima­politik war die Übernahme des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) durch Albert Rösti Anfang 2023. Der SVP-Bundesrat hatte als Nationalrat Mandate aus der Erdöl- und Auto­industrie innegehabt und die von Bundesrätin Simonetta Sommaruga forcierte Klima­politik bekämpft.

Das ist der aktuelle Stand: Die Schweiz ist nicht auf Kurs, was die Einhaltung ihrer Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaschutz­abkommen angeht. Beim Ausbau der erneuerbaren Energie muss es schneller gehen, damit genügend Strom zur Verfügung steht, um die Kernkraft zu ersetzen, sobald die AKW das Ende ihrer Laufzeit erreichen und abgestellt werden. Wichtig für die Strom­versorgung ist ausserdem die Zusammen­arbeit mit Europa – hier spielt das angestrebte Strom­abkommen mit der EU eine zentrale Rolle. Verhandlungen dazu sollen im nächsten Jahr stattfinden.

Wie es weitergeht: Im Jahr 2024 wird die Stimm­bevölkerung über das Referendum gegen den Energie-«Mantel­erlass» befinden. Und die Republik wird «Challenge Accepted» weiter­führen, das erste Angebot, das aus ihrem vor einem Jahr lancierten Klimalabor entstanden ist.

Das hat die Republik dazu geschrieben:

  • Nach rechts: Wie Bundesrat Albert Rösti die Klima­politik und andere Bereiche seines Departements langsam, aber stetig auf SVP-Kurs trimmt.

Europa: Und sie bewegt sich doch – die Schweiz bereitet neue Verhandlungen mit Brüssel vor

Das ist passiert: Zu Beginn dieses Jahres schien alles wie immer. Wie immer, seit die Schweiz die Verhandlungen mit der EU abgebrochen hatte. Das war im Frühling 2021, und von da an fanden zwischen den Parteien Sondierungs­gespräche statt. Ein Fortschritt war nicht zu erkennen. Doch dann, scheinbar aus dem Nichts, kam Bewegung ins Dossier: Im März erklärten die Kantone, sie würden neue Verhandlungen mit der EU begrüssen. Und nur fünf Tage später teilte der Bundesrat mit, er wolle «Eckwerte» für ein neues Verhandlungs­mandat ausarbeiten. Im Juni verabschiedete er sie dann auch – ohne öffentlich zu kommunizieren, um welche «Eckwerte» es sich handelt. Damit erreichten der Bundesrat und Aussen­minister Ignazio Cassis vor allem eines: Die EU-Frage war im Wahlkampf kaum ein Thema. Erst nach den eidgenössischen Wahlen, nämlich im November, beschloss der Bundesrat, auf der Grundlage besagter Eckwerte ein konkretes Verhandlungs­mandat auszuarbeiten.

Das ist der aktuelle Stand: Am 15. Dezember hat der Bundesrat seinen Entwurf für dieses Mandat verabschiedet. Aus den zahlreich veröffentlichten Dokumenten dazu geht hervor: Die Schweiz soll den Europäischen Gerichts­hof als ausschlag­gebende Instanz zur Streit­beilegung anerkennen sowie laufend EU-Recht in denjenigen Bereichen übernehmen, in denen bilaterale Abkommen bestehen. Im Gegenzug macht die Europäische Union Konzessionen bei der Unionsbürger­richtlinie und beim Lohnschutz. So sollen EU-Bürgerinnen in der Schweiz erst dann Sozialhilfe erhalten, wenn sie mindestens fünf Jahre hier gearbeitet haben. Und beim Lohn­schutz soll eine sogenannte Non-Regressions-Klausel gelten. Das heisst, dass die Schweiz künftige EU-Bestimmungen nicht übernehmen müsste, sollten diese den heutigen Lohn­schutz schmälern.

Wie es weitergeht: Der Entwurf des EU-Verhandlungs­mandats geht jetzt für «zwei bis drei Monate» (Cassis) in eine Konsultation, und zwar beim Parlament, bei den Kantonen sowie den Wirtschafts- und Sozial­partnern. Danach wird der Bundesrat voraussichtlich das definitive Mandat verabschieden und Verhandlungen mit der EU aufnehmen. Wann diese abgeschlossen sind, ist unklar – auch weil in der EU im nächsten Juni Wahlen anstehen. Fest steht, dass die neuen Verträge auch von den Schweizer Stimm­berechtigten genehmigt werden müssen. Die Abstimmung könnte zu einem letzten Stolper­stein für die Klärung des künftigen Verhältnisses zwischen der Schweiz und der EU werden.

Das hat die Republik dazu geschrieben:

  • Die EU und die Löhne: Warum Gewerkschafter Adrian Wüthrich nicht zu Kompromissen bereit ist, erklärt er im Interview.

Sicherheit: Streit um Panzer und Milliarden – und Start­schwierigkeiten beim neuen Staats­sekretariat

Kampfpanzer aus deutscher Produktion: Der Leopard 2 auf einer Teststrecke in Thun. Peter Klaunzer/Keystone

Das ist passiert: Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine vor bald zwei Jahren forderten SVP und FDP mehr Geld für die Armee. Mit Erfolg: Das Parlament beschloss bald darauf, dass die Armee­ausgaben bis 2030 ein Prozent des Bruttoinland­produkts betragen sollen, was einer mehr als 70-prozentigen Erhöhung gegenüber dem heutigen Armee­budget entspricht. Anfang 2023 machte Finanz­ministerin Karin Keller-Sutter den Militär­freunden allerdings einen Strich durch die Rechnung: Sie setzte durch, dass das Ziel um fünf Jahre verschoben wird, um die Schulden­bremse einhalten zu können. Ein heisses Thema blieb im gesamten Jahr 2023 umstritten: Waffen für die Ukraine. Der Bundesrat verweigerte europäischen Ländern die Weitergabe von in der Schweiz gekauftem Kriegs­material, worauf Deutschland drohte, keine Schweizer Munition mehr zu kaufen. Ebenso untersagte der Bundesrat der Rüstungs­firma Ruag, ausser Dienst gestellte Leopard-1-Panzer nach Deutschland zu verkaufen. Verschiedene Versuche, das Kriegsmaterial­gesetz zugunsten der Ukraine zu lockern, scheiterten im Parlament. Dafür möchten National- und Ständerat dem Bundesrat erlauben, von den Beschränkungen für Kriegsmaterial­ausfuhren abzuweichen, wenn die «Wahrung der aussen- oder sicherheits­politischen Interessen des Landes dies erfordert». Diese im Dezember beschlossene weitgehende Lockerung des Kriegsmaterial­gesetzes schafft keine Möglichkeit für Waffen­exporte in die Ukraine, könnte der Rüstungs­industrie aber Exporte beispielsweise in Bürgerkriegs­länder ermöglichen. Das sorgt für Ärger bei den Initiantinnen der Korrektur­initiative, die ihre Initiative vor zwei Jahren zurück­gezogen hatten, nachdem das Parlament eine solche Lockerung abgelehnt hatte.

Das ist der aktuelle Stand: Punkto Armee­finanzierung bleibt offen, wie die zusätzlichen Ausgaben fürs Militär ohne Steuer­erhöhung oder massive Kürzungen in anderen Bereichen des Staats­haushalts finanziert werden sollen. Die Weitergabe von Rüstung aus Schweizer Herkunft in die Ukraine bleibt verboten.

Wie es weitergeht: Ab dem 1. Januar gibt es ein neues Staats­sekretariat: das Sepos, das sicherheits­politische Entwicklungen antizipieren soll. Die Sepos-Gründung war ein Sieg für Verteidigungs­ministerin Viola Amherd. Weniger glücklich verlief ihre Suche nach der Person für die Spitze dieser neuen Behörde: Der vom Bundesrat als Staats­sekretär designierte Diplomat Jean-Daniel Ruch erwies sich wegen privater Affären als Sicherheits­risiko. Ein weiterer Kandidat, Thomas Greminger, zog sich wegen Vermischung von Privatem mit Beruflichem zurück. An der letzten Bundesrats­sitzung vor Jahresende ernannte der Bundesrat Brigadier Markus Mäder zum neuen Staatssekretär. Da er bisher als Chef Internationale Beziehungen Verteidigung bereits im VBS tätig war, kann er das Amt auf Anfang 2024 antreten. In seiner neuen Funktion wird er sich um die Beziehungen zur Nato, die Neutralitäts­politik und die Erneuerung der Armee kümmern. Seine Stellvertreterin wird Botschafterin Pälvi Pulli sein, die bisherige Chefin Sicherheits­politik im VBS.

Das hat die Republik dazu geschrieben:

  • Ausdruck von Konzept­losigkeit: ein Essay von Erich Keller über den typisch schweizerischen Streit über Neutralität und Waffen­exporte.

  • Neutralität aus linker Sicht: SP-Co-Präsident Cédric Wermuth äussert sich im Interview unter anderem zur Schweizer Ukraine-Politik und zur Armee.

  • Gedanken zum Pazifismus: Kann das Stiften von Frieden im Extremfall den Einsatz von Waffen erfordern? Ein Gastbeitrag von Josef Lang.

Gesundheit: Die Politik bekommt die Kosten nicht in den Griff – zwei Volks­initiativen wollen das ändern

Bei ihm war das Gesundheits­dossier im Jahr 2023: Bundesrat Alain Berset. Pablo Gianinazzi/Ti-Press/Keystone

Das ist passiert: Das Jahr stand ganz im Zeichen der steigenden Preise. Ende September musste der Bundesrat den höchsten Prämien­anstieg seit 14 Jahren verkünden – 2024 erhöhen sich die Beiträge der Versicherten an die Krankenkassen um durchschnittlich 8,7 Prozent (nachdem sie schon 2023 um 6,6 Prozent angestiegen sind). Viele Haushalte leiden bereits unter der Inflation und geraten nun noch stärker in Geldnot. Während­dessen diskutierte das Parlament Massnahmen zur Kosten­dämpfung. Dabei handelt es sich lediglich um einen Teil eines grossen Pakets, das auf Vorschlägen basiert, die eine Experten­kommission bereits im Jahr 2017 vorgelegt hat. Reformen des Gesundheits­systems haben es in der Schweizer Politik besonders schwer, da alle Branchen­akteurinnen, die vom heutigen, überteuerten System profitieren, mit eigenen, teilweise bezahlten Vertretern im Parlament sitzen. Allein das Seilziehen um einen ersten Teil der Kosten­dämpfungs­massnahmen dauerte fast zwei­einhalb Jahre. Noch viel länger dauerte die Diskussion über einen Vorstoss, der die Finanzierung der Tarife in Spitälern und Arzt­praxen vereinheitlichen will. Er stammt aus dem Jahr 2009 und wurde nun kurz vor Weihnachten abgeschlossen.

Das ist der aktuelle Stand: Was die steigenden Prämien betrifft, so haben im Oktober und November vermutlich mindestens 15 Prozent der Versicherten ihre Kasse gewechselt, was im langjährigen Durchschnitt viel ist. Noch höher war die Wechsel­quote im letzten Jahr – da lag sie bei fast 20 Prozent –, als die Prämien weniger stark gestiegen waren als dieses Jahr. Geht es nach dem Bundesrat, sollten erste Massnahmen dazu führen, dass die Kosten nun nicht mehr so stark steigen. Ende Oktober beschloss er, dass Teile der vom Parlament verabschiedeten Kosten­dämpfungen per 1. Januar 2024 in Kraft treten. Unter anderem werden die Tarif­partner jetzt verpflichtet, die Kosten besser zu überwachen, und die Versicherer können Beschwerde gegen Planungs­entscheide der Kantone zu Spitälern einreichen.

Wie es weitergeht: Auf die neue Gesundheits­ministerin Elisabeth Baume-Schneider wartet sehr viel Arbeit. Wie gross der Reform­bedarf im Schweizer Gesundheits­wesen ist, zeigt die Website ihres Bundesamts für Gesundheit, auf der 15 «laufende Revisions­projekte» aufgeführt sind. Darüber hinaus stehen zwei Volks­initiativen an, die auf Symptom­bekämpfung setzen. Die SP will mit ihrer Prämien­entlastungs­initiative erreichen, dass Versicherte nicht mehr als 10 Prozent ihres Einkommens für die Krankenkassen­prämien ausgeben müssen. Was darüber liegt, wird mit Steuer­geldern finanziert. Mit einem leicht anderen Ansatz will Die Mitte mit ihrer Kostenbremse­initiative das Gesundheits­wesen «retten»: Ist ein bestimmtes Limit bei den Krankenkassen­prämien erreicht, muss der Bund unmittelbar Massnahmen zur Kosten­bremse umsetzen. Die SP und Die Mitte haben ihre Initiativen trotz Gegen­vorschlägen nicht zurück­gezogen.

Das hat die Republik dazu geschrieben:

Migration: Die Zuwanderung wächst (womöglich) auf Rekordstand – SVP und FDP wollen das für sich nutzen

Das ist passiert: Die Schweiz ist und bleibt ein Einwanderungs­land. 2023 dürfte der sogenannte Wanderungs­saldo der ausländischen Wohn­bevölkerung sogar die Marke von 100’000 Menschen überschreiten. Bis Ende November lag er bei rund 95’000; Zahlen zum Dezember gibt es noch nicht. Am meisten Menschen zogen bis November aus Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Polen zu. Der bisherige Einwanderungs­rekord stammt von 2008 und beträgt rund 103’000 Menschen. Auch die Zahl der Asyl­suchenden wird 2023 im Vergleich zu den Vorjahren hoch ausfallen: Bis Ende November lag sie bei rund 28’000. Die meisten Geflüchteten stammen aus Afghanistan, der Türkei, Eritrea, Algerien und Marokko. Dazu kommen rund 18’000 Menschen aus der Ukraine, die letztes Jahr in der Schweiz einen sogenannten Schutzstatus S erhielten.

Das ist der aktuelle Stand: Vor allem die SVP, mehr und mehr aber auch die FDP betrachten Migration und Asyl­wesen als ihre zentralen politischen Themen. Die SVP hat damit ihren Wahlkampf bestritten, die FDP versuchte es ihr ansatzweise gleichzutun. So reichte FDP-Ständerat Damian Müller im Parlament mehrere Vorstösse ein, die eine Verschärfung der Asylpraxis bezweckten. Unter anderem verlangte er, dass der Bund abgewiesene Asyl­suchende in Dritt­länder abschieben darf. Nachdem der Ständerat Müllers Motion angenommen hatte, lehnte der Nationalrat sie ab. Damit ist die Idee vom Tisch. Daneben entschied das Staats­sekretariat für Migration, für das 2023 Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider verantwortlich war, dass Frauen aus Afghanistan in der Schweiz grundsätzlich Asyl erhalten. Dies gilt womöglich bald auch in der EU; ein entsprechender Antrag ist seit Anfang November vor dem Europäischen Gerichtshof hängig.

Wie es weitergeht: Es ist absehbar, dass die Zahl der Migrierenden in die Schweiz – seien es Erwerbstätige, seien es Asyl­suchende – auch im nächsten Jahr hoch sein wird. Ebenso absehbar ist, dass die Parteien rechts der Mitte daraus politisches Kapital schlagen werden. Noch immer läuft zum Beispiel die Unterschriften­sammlung der SVP für ihre sogenannte Nachhaltigkeits­initiative. Gemäss dieser muss der Bund dafür sorgen, dass die Einwohner­zahl der Schweiz vor dem Jahr 2050 nicht die Zehn-Millionen-Marke über­schreitet. Noch steht nicht fest, wann die Initiative zur Abstimmung kommt.

Das hat die Republik dazu geschrieben:

Wirtschaft: Wie der Staat die Credit Suisse rettete – und welches Risiko die UBS nun darstellt

Bald soll die Marke Credit Suisse aus dem Schweizer Stadtbild verschwinden. Maurice Haas

Das ist passiert: Am Wochenende des 18. und 19. März schritt der Bundesrat ein, um die Zahlungs­unfähigkeit der zweit­grössten Schweizer Bank abzuwenden. Nachdem immer mehr Kunden der Credit Suisse ihre Gelder abgezogen hatten, fädelte die Landes­regierung gemeinsam mit der National­bank (SNB), der Finanzmarkt­aufsicht (Finma) und der UBS eine Fusion ein. Die UBS erklärte sich bereit, sämtliche CS-Aktien zum Gesamt­preis von 3 Milliarden Franken zu übernehmen. Die damit verbundenen Risiken deckte der Bund mit Garantien in Höhe von 9 Milliarden Franken und Liquiditäts­hilfen der SNB über insgesamt 250 Milliarden. Dies verlagerte die Risiken vorübergehend auf die Steuer­zahlerinnen, bis die UBS Mitte August bekannt gab, auf die Garantien des Bundes verzichten zu können. Da es sich um eine system­relevante Bank handelte, verfügte die Landes­regierung die Fusion per Not­verordnung. So durften die Aktionäre nicht über den Zusammen­schluss abstimmen. In der Folge klagten Hunderte Aktionärinnen gegen den Beschluss, später kamen weitere Sammel­klagen dazu, bis heute sind es rund 4000. Das Parlament behandelte die Fusion in einer ausser­ordentlichen Session Mitte April und stimmte (symbolisch) über die Garantien des Bundes ab. Der Ständerat segnete den Entscheid ab, der Nationalrat nicht. Gleichzeitig beschloss das Parlament, eine Untersuchungs­kommission (PUK) zu bilden, um die Vorgänge rund um die Notfusion zu beleuchten. Auch die Bundes­anwaltschaft hat eine Untersuchung eingeleitet.

Das ist der aktuelle Stand: Die UBS besitzt nun eine beispiellose Markt­macht und birgt ein gefährliches «Too big to fail»-Risiko. Ihre Bilanz­summe ist doppelt so gross wie die gesamte Schweizer Wirtschafts­leistung. Die Wettbewerbs­kommission, die bei der Notübernahme im März vom Bund ausgeschaltet worden war, untersuchte nachträglich den Einfluss der neuen Superbank. Das Ergebnis wird derzeit noch von der Finma «geprüft». Von Kunden­seite wird befürchtet, dass sich die Konditionen nun verschlechtern. Der zur UBS zurück­gekehrte Ex-CEO Sergio Ermotti hat angekündigt, im Rahmen der Fusion 10 Milliarden Franken einzusparen, hauptsächlich zulasten des Personals. Aktuell ist die Rede von 3000 Kündigungen. Das Parlament hat derweil zahlreiche Vorstösse behandelt, die sich um «too big to fail», den Einfluss der SNB und die künftige Rolle der Finma drehen. Die Finma selber hat ihre Lehren aus der CS-Krise publiziert und fordert stärkere Instrumente zur Banken­aufsicht. Doch Verschärfungen haben es schwer: Erst Mitte Dezember versenkte etwa der Ständerat eine Motion, die die Finma mit zusätzlichen Kompetenzen ausrüsten wollte.

Wie es weitergeht: Die PUK wird bis März 2024 Dokumente auswerten und Behörden anhören. Danach soll der Schluss­bericht erstellt werden. Parallel dazu muss das Parlament noch zahlreiche Vorstösse behandeln. Nachdem die UBS im August entschieden hat, die Marke Credit Suisse in der Schweiz definitiv verschwinden zu lassen, wird die CS Schweiz im Laufe des Jahres 2024 in die UBS Schweiz integriert. Die Bank rechnet heute damit, dass die gesamte Integration des operativen Geschäfts bis spätestens 2026 unter Dach und Fach sein wird.

Das hat die Republik dazu geschrieben:

  • Die denkwürdige Medien­konferenz: Was wollten Bundesrat, National­bank und Credit Suisse uns eigentlich mitteilen? Wir haben übersetzt.

IT-Sicherheit: Das Jahr, in dem es den Bund erwischte – und die Skepsis wuchs, ob er für die Zukunft gewappnet ist

Das ist passiert: Im Jahr 2023 wurde viel gehackt in der Schweiz. Das ist an sich nichts Neues. Angriffe und anschliessende Erpressungs­versuche nehmen schon seit einigen Jahren zu, wie eine Auflistung der Fälle im Jahr 2021 eindrücklich zeigt. Doch dieses Jahr traf es gleich drei grössere Schweizer Firmen. Im Frühling hackte die Gruppierung Play den Medien­konzern CH Media, wovon auch die NZZ betroffen war. Die Hacker veröffentlichten über 500 Gigabyte Daten, darunter nicht öffentliche Informationen von Abonnentinnen und Mitarbeitern der betroffenen Medien. Im Sommer wurde bekannt, dass die gleiche Hacker­gruppe auch die Berner IT-Firma Xplain gehackt hatte. Knapp 400 Gigabyte wurden veröffentlicht. Und diese 400 Gigabyte hatten es in sich: Weil Xplain sich auf Software­lösungen für Sicherheits­behörden spezialisiert hat, gehören zu ihren Kundinnen diverse kantonale und eidgenössische Behörden. So wurden etwa vertrauliche Dokumente des Bundesamts für Polizei veröffentlicht, die die Sicherheits­massnahmen für diplomatische Vertretungen oder Bundesrats­residenzen enthalten. Im Herbst schliesslich gab das Nationale Zentrum für Cybersicherheit bekannt, dass mit der Firma Concevis ein weiteres Software-Unternehmen gehackt wurde, das über Daten der Bundes­verwaltung verfügte.

Das ist der aktuelle Stand: Nach dem Hack bei Xplain hat der Bundesrat einen Krisenstab mandatiert, eine Administrativ­untersuchung eingeleitet und Straf­anzeige eingereicht. Die Resultate werden erst 2024 vorliegen. Im Fall des neusten Hacks bei der Firma Concevis ist noch unklar, in welchem Ausmass der Bund betroffen ist. Auch hierzu laufen Abklärungen. Klar ist, dass vor allem der Daten­abfluss bei Xplain grundsätzliche Fragen dazu aufgeworfen hat, wie der Bund seine Daten sichert und wem er Zugriff darauf gibt. Ab 1. Januar 2024 wird zudem das bisherige Nationale Zentrum für Cyber­sicherheit umgewandelt in das Bundesamt für Cyber­sicherheit. Dieses wird im Verteidigungs­departement angesiedelt sein – ein umstrittener Entscheid, der dazu führte, dass erfahrene IT-Sicherheits-Spezialistinnen beim Bund gekündigt haben.

Wie es weitergeht: CH Media, Xplain und Concevis dürften nicht die letzten Firmen oder Institutionen sein, die in der Schweiz gehackt werden. Dass sensible Daten durch Hacks veröffentlicht werden, ist eine Realität, die sich fortsetzen wird. Die Frage ist, wie Firmen, Kantone und Bund mit diesen Risiken umgehen. Nach dem Jahr 2023 ist das Vertrauen in die IT-Kompetenz der Behörden zumindest angeschlagen. Dass dennoch erneut mit E-Voting experimentiert wird und der Ständerat eine zentrale Adress­datenbank aller Menschen in der Schweiz einführen möchte, kommt vielleicht nicht zum günstigsten Zeitpunkt.

Das hat die Republik dazu geschrieben:

Medien: Ein Jahr des Stillstands – und nun kommen Halbierungs­initiative und Leistungsschutz­recht

Das ist passiert: Die medien­politischen Diskussionen drehten sich im ablaufenden Jahr vor allem um die SRG. Im August kam die sogenannte Halbierungs­initiative von SVP, Jung­freisinn und Gewerbe­verband zustande, die die Radio- und Fernseh­gebühren von 335 auf 200 Franken pro Jahr senken möchte. Dem trat der Bundesrat, der die Initiative ablehnt, im November mit einer eigenmächtigen Gebühren­reduktion auf 300 Franken entgegen – was bei der SRG zum Abbau von rund 900 Stellen führen dürfte. Die Vernehmlassung, die bis Anfang Februar dauert, dürfte daran kaum etwas ändern. Die Halbierungs­initiative kommt 2024 ins Parlament und voraussichtlich 2026 an die Urne. Beim Thema Leistungsschutz­recht, über das die Republik vor bald zwei Jahren ausführlich berichtete, kam die Schweiz 2023 weniger weit voran als erwartet: In der Vernehmlassung hielten sich positive und negative Beurteilungen in etwa die Waage. Der Bundesrat wird im ersten Quartal 2024 verkünden, ob er an seinem Ziel festhält, globale Techplayer wie Google und Meta für die Verbreitung journalistischer Inhalte zur Kasse zu bitten.

Das ist der aktuelle Stand: In der Medien­politik gab es 2023 somit kaum Fortschritte zu verzeichnen – und das ist schlecht für die Branche, die sich seit langer Zeit in einer strukturellen Finanzierungs­krise befindet. Der Print-Werbe­umsatz hat sich von 2014 bis 2022 von 1,5 Milliarden auf 735 Millionen Franken mehr als halbiert, und die Zahlungs­bereitschaft des Publikums für Online­medien stagniert auf tiefem Niveau. Eine Lösung ist nicht in Sicht, nachdem der von Bundesrat und Parlament propagierte Ausbau der staatlichen Medien­förderung Anfang 2022 an der Urne scheiterte. Die grossen Verlage sparten im Jahr 2023 erneut beim Journalismus: Bei Tamedia, «20 Minuten» und CH Media kam es zu Massen­entlassungen. Mehrere kleinere Redaktionen gaben auf. Und auch die Republik sah sich gezwungen, das Budget zu reduzieren und erstmals in ihrer Geschichte Personal abzubauen. Der Braindrain in der Branche hält an: Gemäss einer 2023 zum dritten Mal durchgeführten Zählung steigen immer mehr Medien­schaffende aus dem Beruf aus. Gründe dafür sind unter anderem ein vielerorts toxisches Arbeits­klima, fehlende Perspektiven und überzogene Rendite­erwartungen der grossen Verlage.

Wie es weitergeht: Neben der SRG und dem Leistungsschutz­recht werden im kommenden Jahr zwei weitere medien­politische Themen zu reden geben. Bis spätestens Ende März wird das Bundesamt für Kommunikation eine Vorlage präsentieren, um die grossen Plattformen zu regulieren – mit dem Ziel, diese zu mehr Transparenz zu zwingen und die Rechte der Nutzer in der Schweiz zu stärken. Komplizierter wird die Frage, wie die Schweiz auf rechtlicher Ebene mit künstlicher Intelligenz umgehen soll. Bis Ende 2024 soll das seit einem Jahr von Albert Rösti geführte Uvek eine Auslege­ordnung präsentieren, auf deren Basis der Bundesrat dann 2025 entscheiden wird, welche Art Regulierung er einführen möchte. Wahrscheinlich ist, dass er sich an der EU-Regel orientieren wird – oder deren kürzlich verabschiedeten «AI Act» sogar ganz übernimmt.

Das hat die Republik dazu geschrieben:

Was sonst noch wichtig war

  • Corona-Leaks: Im Januar berichtete die «Schweiz am Wochenende», Alain Bersets Kommunikations­chef Peter Lauener und Ringier-CEO Marc Walder hätten sich während der Pandemie Dutzende E-Mails geschrieben, die teilweise vertrauliche Informationen enthalten haben sollen. Bald schossen in Bundesbern und in den Medien alle gegen alle, die Lage war unübersichtlich und blieb es einige Monate lang. Inzwischen haben sich die Gemüter beruhigt: Im November veröffentlichte eine Arbeits­gruppe des Parlaments ihren Untersuchungs­bericht zu den Corona-Leaks. Erstaunlicherweise hatte sie sich ausschliesslich auf Bersets Innen­departement (EDI) beschränkt – und stellte dabei fest, dass von den rund 200 vertraulichen Informationen, die während der Pandemie an die Medien gelangten, mit grosser Wahrscheinlichkeit keine einzige aus dem EDI stammte. Berset kritisierte die Untersuchung scharf. Noch ist die Affäre rechtlich nicht ausgestanden: Anfang Dezember kam es zur bisher letzten Wende.

  • Diplomatie: In den Jahren 2023 und 2024 ist die Schweiz Mitglied im Uno-Sicherheitsrat – und nach dem im Vorfeld namentlich von der SVP geschürten Aufruhr ist es nun primär verblüffend, wie wenig man darüber in der Schweiz hört und liest. Botschafterin Pascale Baeriswyl und das gesamte Aussen­departement leisten offenkundig grundsolide Arbeit. Ein diplomatischer Coup allerdings ist der Schweiz bis anhin nicht gelungen. Wobei das weniger mit ihr zu tun hat als mit dem zunehmend handlungs­unfähigen Sicherheitsrat: Vor allem die Vetomacht Russland, die in der Ukraine Krieg führt, blockiert ständig Resolutionen.

Die gute Nachricht: Endlich frei

Ruhig und gefasst: Brian Keller spricht nach seiner Freilassung zu Journalistinnen. Florian Kalotay

Nach mehr als sieben­einhalb Jahren nonstop hinter Gittern ist Brian Keller am 10. November 2023 freigekommen. Es war ein kalter, trüber Freitag­morgen, als er das Untersuchungs­gefängnis in der Stadt Zürich verliess – beobachtet von zwei Dutzend Medien­schaffenden. Der 28-jährige Schweizer sprach in die Mikrofone, ruhig und gefasst. Und sagte, dass er nun erst mal ankommen müsse, zurück im Leben, zurück in der Gesellschaft. Seither ist es ruhig geworden rund um den vormals bekanntesten Gefängnis­insassen der Schweiz, der das Stigma des Jugend­straftäters «Carlos» bis heute nicht losgeworden ist. Die Ruhe ist ein gutes Zeichen. Und Keller ist entschlossen, seinem Leben eine Wende zu geben, die Chance zu nutzen. Offen bleibt – unter anderem – die Aufarbeitung der unmenschlichen Haft­bedingungen im Gefängnis Pöschwies, denen der Insasse jahrelang ausgesetzt war. Der Berner Strafrechts­professor Jonas Weber hat diese Zustände in einem Gutachten klipp und klar als unrechtmässig eingestuft. Bleibt abzuwarten, wer dafür wann zur Rechenschaft gezogen wird – und wie. Bis anhin ist aus der Zürcher Justiz­direktion wenig zu hören, das nach Einsicht klingt. Ganz anders der frühere Chef des Amts für Justiz­vollzug, Thomas Manhart, der sich bei Brian Keller entschuldigt hat – und Verantwortung übernimmt.

Illustration: Till Lauer

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