
«Wir Gewerkschaften können jetzt keine Kompromisse eingehen»
Die EU will den Lohnschutz stärken. Die Schweizer Gewerkschaften haben dazu eine abwehrende Haltung. Adrian Wüthrich, Präsident von Travailsuisse, erklärt im Gespräch die Gründe.
Ein Interview von Priscilla Imboden, 24.03.2023
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Die EU führt Reformen durch, von denen die Schweizer Gewerkschaften nicht mal zu träumen wagen: flächendeckende Mindestlöhne und eine Ausweitung von Gesamtarbeitsverträgen. Markus Notter, früherer Zürcher SP-Regierungsrat und Präsident des Europa Instituts an der Universität Zürich, plädiert dafür, dass die Gewerkschaften genau diese Dynamik nutzen. Es sei klüger, den Lohnschutz auf EU-konforme Art auszubauen, statt einen kompromisslosen Abwehrkampf um die aktuellen Lohnschutzmassnahmen zu führen.
Was halten die Gewerkschaften von diesem Vorschlag von linker Seite? Von ihnen kommt ein klares: Danke, aber nein danke. Adrian Wüthrich, Präsident des Gewerkschaftsdachverbandes Travailsuisse, erklärt weshalb.
Herr Wüthrich, Sie haben eben den Vizepräsidenten der EU-Kommission Maroš Šefčovič getroffen. Hat er Ihnen etwas versprochen?
Das Treffen war gezeichnet von Offenheit und der Bereitschaft, sich gegenseitig und die gegenseitigen Positionen kennenzulernen.
Geht es auch weniger diplomatisch?
Es wurde sichtbar, dass sich beide Seiten noch besser verstehen müssen, um Lösungen zu finden, die für beide Seiten tragbar sind. Für uns ist es nach wie vor wichtig, dass der Lohnschutz auch in Zukunft garantiert wird – das habe ich Herrn Šefčovič klipp und klar dargelegt.
Der frühere SP-Nationalrat Adrian Wüthrich ist seit 2015 Präsident des Dachverbandes Travailsuisse und in dieser Funktion Mitglied im Vorstand des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB). Travailsuisse vereinigt zehn Gewerkschaften, Personal- und Angestelltenverbände wie beispielsweise Syna, die Hotel- und Gastro-Union und Transfair, die insgesamt rund 150’000 Mitglieder zählen.
Die Sondierungsgespräche zwischen der Schweiz und der EU, die die Basis legen sollen für allfällige Verhandlungen, laufen seit einem Jahr. Vor einer Weile hiess es, die EU sei beim Lohnschutz bereit, Konzessionen zu machen. Können Sie das bestätigen?
Ich stelle fest, dass es immer wieder Hochs und Tiefs gibt, von Sondierungsgespräch zu Sondierungsgespräch. Einmal sieht man vielleicht eine gemeinsame Lösung. Und beim nächsten Treffen kann es dann sein, dass man seine Zusagen wieder zurückzieht. Für ein Resultat braucht es Konzessionen der EU.
Also nein. Die Gewerkschaften gehören zu den Kreisen, die sich querstellen. Ist es nicht im ureigensten Interesse der Gewerkschaften, dass die Schweiz mit der EU geregelte Beziehungen hat, weil sonst Arbeitsplätze abwandern könnten?
Travailsuisse hat sich immer eingesetzt für ein gutes Verhältnis mit unserem grössten Wirtschaftspartner und unseren Kolleginnen und Kollegen in Europa. Wir haben die bilateralen Verträge mit der Personenfreizügigkeit unterstützt. Die Schweiz ist ein kleines Land mit den höchsten Löhnen mitten in Europa. Da ist es nicht selbstverständlich, dass die Gewerkschaften zur Personenfreizügigkeit Ja sagen. Das war nur möglich, weil wir mit den flankierenden Massnahmen neue Schutzmechanismen einführten. Diese müssen verteidigt werden, damit eine Nivellierung der Löhne in der Schweiz gegen unten verhindert werden kann. Sonst ist ein Abkommen nicht mehrheitsfähig.
Der ehemalige Zürcher SP-Regierungsrat Markus Notter schlägt vor, wie der Lohnschutz in der Schweiz verbessert werden kann, nämlich mit Regeln, die die EU jetzt einführt: flächendeckende Mindestlöhne und eine Ausweitung der Gesamtarbeitsverträge (GAV). Was halten Sie davon?
Parteikollege Notter hat sehr interessante Vorschläge gemacht. Wir sehen, dass der Lohnschutz in der Europäischen Union ein grosses Thema ist und auch, dass Verbesserungen beschlossen wurden. Die EU hat nach dem Brexit gemerkt, dass die europäische Integration nicht nur einen grösseren Binnenmarkt bedeutet, von dem die Unternehmen profitieren können, sondern dass sie auch den Menschen etwas bringen muss. Deshalb ist in den letzten Jahren doch einiges gegangen. Mit der europäischen Säule sozialer Rechte gibt es nun zwanzig konkrete Massnahmen, die ich mir auch für die Schweizer Arbeitnehmenden wünsche. Und davon hat Herr Notter einige aufgenommen. Ich bin sofort bereit, darüber zu sprechen.
Sie tun das aber nicht im Kontext der bilateralen Gespräche mit der EU.
In den Diskussionen in der Schweiz tun wir dies gerne, weil wir der Meinung sind, dass für ein Ja der Stimmberechtigten zu diesem künftigen Vertrag auch sie einen Nutzen des Binnenmarktzugangs haben sollen und nicht nur die Unternehmen. Der Brexit hat dies gezeigt. Im Zuge der Begrenzungsinitiative haben wir die Probleme aufgenommen, und der Bundesrat hat ein zielgerichtetes Paket zur Förderung der inländischen Arbeitnehmenden verabschiedet. Bis jetzt hat der Bundesrat diese Diskussion im Inland nicht führen wollen und die Arbeitgeberseite will auch zu keinen Verbesserungen Hand bieten. Aber solche sozialen Massnahmen könnten nicht die Gefährdung des Lohnschutzsystems durch die von der EU geforderten institutionellen Regeln kompensieren. Denn die EU verlangt, dass wir unsere Lohnschutzmassnahmen schwächen. Darum geht es in den Verhandlungen mit der EU. Wir müssen die EU-Entsenderichtlinie, die die grenzüberschreitende Arbeit sowie die Durchsetzungsrichtlinie, die deren Umsetzung regelt, akzeptieren und deren zukünftige Weiterentwicklung übernehmen, die wir nicht kennen – und im Streitfall soll der Europäische Gerichtshof darüber urteilen, ob unsere Schutzmassnahmen verhältnismässig sind. Das sind diese sogenannt institutionellen Fragen, die immer noch völlig offen sind.
Noch völlig offen, nach einem Jahr Sondierungsgesprächen?
Ja, wir kennen die Vorschläge noch nicht. Wir haben gesagt: Wenn die Sozialpartner, der Bundesrat, das Parlament bereit sind, den Lohnschutz anzupassen, aber auf eine Weise, in der er nicht verschlechtert wird, dann kann man mit uns darüber diskutieren. Die institutionellen Regeln dürfen aber nicht dazu führen, dass via Streitschlichtungsmechanismus und Europäischen Gerichtshof der Lohnschutz später angegriffen werden kann. Dafür braucht es Absicherungen, damit der heute eigenständige Lohnschutz trotz neuem Abkommen abgesichert ist.
Die EU stärkt die Rechte der Arbeitnehmenden so, dass der frühere Unia-Co-Präsident Andreas Rieger in der «Work»-Zeitung schrieb, das sei wie Weihnachten und Geburtstag zusammen. Teilen Sie seine Meinung?
Das sind Verbesserungen, es ist so. Und wir würden gerne die Elternzeit der EU übernehmen. Aber: Die EU fordert, dass wir unseren Lohnschutz verschlechtern, das kann eine Elternzeit nicht kompensieren. 2018 sickerte durch, dass der Bundesrat bereit war, die bisherige rote Linie zu überschreiten und beim Lohnschutz nachzugeben. Deshalb haben die Gewerkschaften damals den Verhandlungstisch verlassen. Wir erwarten, dass die EU-Kommission unsere bestehenden Lohnschutzmassnahmen akzeptiert und absichert. Im neuen Anlauf für ein Abkommen muss der Bundesrat dies der EU klarmachen, sonst ist eine Volksabstimmung nicht zu gewinnen, das höre ich bei fast jeder Gewerkschaftsversammlung.
Aber weshalb führen die Gewerkschaften einen Abwehrkampf, anstatt den Moment zu nutzen, um einen Ausbau des Arbeitnehmerschutzes zu erwirken, wie damals nach dem EWR-Nein? Das hat zu den flankierenden Massnahmen geführt.
Über einen Ausbau, wie eine vereinfachte Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen, will die Arbeitgeberseite nicht sprechen. Im Moment müssen wir unser Lohnschutzsystem absichern, damit wir die Löhne auch mit einem neuen bilateralen Vertrag wirksam kontrollieren können. Wir stecken in Sondierungen mit der Europäischen Union. Wir erwarten vom Bundesrat und von der Schweizer Diplomatie, dass sie sich bei der Europäischen Kommission mit Verve, mit voller Energie für das Schweizer Lohnschutzsystem einsetzen.
Tun sie das?
Ja. Das tun sie im Moment.
Aha.
Im Moment. Jetzt geht es darum, möglichst klar Position zu beziehen. Wir Gewerkschaften können in grundsätzlichen Fragen jetzt keine Kompromisse eingehen und brauchen Zusicherungen der EU. Wie gesagt: Die dynamische Rechtsübernahme ist das Problem.
Aber es kann doch nicht als Kompromiss bezeichnet werden, wenn man flächendeckende Mindestlöhne und Gesamtarbeitsverträge für 80 Prozent der Angestellten verlangt. Das wäre ja der Traum jeder Gewerkschaft.
Klar, das wäre wünschenswert für die Schweizer Arbeitnehmenden. Und das gilt im EU-Binnenmarkt, bei dem die Schweizer Wirtschaft unbedingt teilhaben will. Die EU verlangt die Übernahme dieser Regeln leider nicht. Es geht jetzt darum, der Kommission unser Lohnschutzsystem ganz klar aufzuzeigen. Ich bin der Meinung, unser System ist kompatibel mit dem EU-System und die EU sollte uns die geforderten Absicherungen geben können.
Die flankierenden Massnahmen sind für Sie sakrosankt, aber sie sind lückenhaft: Nur 50 Prozent der Angestellten, die einen GAV haben, sind gegen Lohndruck geschützt. Bei den anderen müssen Firmen, die sie zu Billiglöhnen arbeiten lassen, nicht einmal eine Busse akzeptieren. Warum sträuben Sie sich gegen eine Verbesserung?
Die flankierenden Massnahmen umfassen lückenlos alle Branchen und nicht nur solche mit Gesamtarbeitsverträgen. Der Lohnschutz ist dort am wirksamsten, wo es allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge gibt. Wir versuchen, die Abdeckung durch GAV in Gesprächen mit den Unternehmungen auszuweiten. Zudem braucht es rechtliche Vereinfachungen bei der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Gesamtarbeitsverträgen. Aber leider sind die Arbeitgeber nicht bereit dazu. Die Kantone können zudem helfen, wenn sie gesetzliche Mindestlöhne festlegen.
Die EU erachtet den Schweizer Lohnschutz teils als diskriminierend gegenüber EU-Firmen, die in der Schweiz Aufträge erledigen wollen. Konkret: Sie kritisiert die Pflicht, Arbeitseinsätze acht Tage vorher melden und eine Kaution zahlen zu müssen. Können Sie diese Position nachvollziehen?
Ob ein Unternehmen aus der EU oder eine Schweizer Firma: Der Lohnschutz ist für alle gleich, er ist nicht diskriminierend. Wir können auch aufzeigen, dass die Schweizer Unternehmen sogar noch mehr kontrolliert werden als die EU-Unternehmen. Eine Anmeldefrist ist nötig, damit wir diese Kontrollen überhaupt durchführen können. Aber wie gesagt, wenn die EU ein Problem hat mit den acht Tagen, dann sind wir bereit, Lösungen zu finden. Das haben wir bereits in einzelnen Bereichen: Wenn ein Sanitärinstallateur aus Süddeutschland etwa eine defekte Toilette in Basel flicken will, kann er das ohne 8-Tage-Voranmeldung tun. Mit solchen Regelungen darf der Lohnschutz einfach nicht geschwächt werden.
Über all dem schwebt die Frage des Europäischen Gerichtshofes EuGH. Sie möchten nicht, dass er über den Schweizer Lohnschutz urteilen kann. Wenn Sie so überzeugt sind, dass der Lohnschutz EU-konform ist, weshalb fürchten Sie dann den Europäischen Gerichtshof?
Weil die Entwicklung des europäischen Rechts nicht absehbar ist. Es laufen jetzt 24 Vertragsverletzungsverfahren gegen 24 von 27 EU-Staaten betreffend Umsetzung der Entsenderichtlinie. Diese sind leider geheim, deshalb wissen wir nicht, was die EU-Kommission diesen Staaten vorwirft. Deshalb wollen wir einen autonomen Lohnschutz. Heute haben wir mit der EU im bilateralen Vertrag vereinbart, was gilt, bis wir es ändern. Mit der von der EU geforderten dynamischen Rechtsübernahme soll die Schweiz das Entsenderecht der EU und die Rechtsprechung des EuGH in Zukunft übernehmen. Im Moment entwickelt es sich in die richtige Richtung nach dem Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort». Aber das kann ändern. Alle Massnahmen würden der Einschätzung des EuGH unterliegen, der beurteilen würde, ob sie als verhältnismässig betrachtet werden können. Das ist ein bedeutendes Risiko für den Lohnschutz.
Wie lautet Ihr Vorschlag?
Wir wollen eine Garantie haben, dass der Schweizer Lohnschutz mit der Dynamisierung nicht schlechter werden kann. Unsere Hauptforderung ist: Wir wollen den Lohnschutz von der Dynamisierung ganz ausnehmen, das weiss jetzt auch Herr Šefčovič. Wir wollen eine völkerrechtlich bindende Regelung. Dann wäre der Lohnschutz abgesichert, und wir hätten eine Lösung für die Zukunft. Das wäre eine mögliche Piste. Bis jetzt war die Kommission nicht bereit, darüber zu sprechen.
Der Europäische Gerichtshof galt lange als arbeitnehmerfeindlich, weil er die Wirtschaftsfreiheit immer wieder über die Rechte von Arbeiterinnen gestellt hat. 2020 gab es aber ein wegweisendes Urteil des Gerichtshofs zugunsten der Arbeitnehmer. Dieser befand, dass es nicht nur einen freien Wettbewerb, sondern auch einen fairen Wettbewerb geben müsse. Macht Ihnen das keine Hoffnung?
Die EU hat zwei Seelen in der Brust. Sie will einen Binnenmarkt schaffen, mit möglichst wenig Einschränkungen, und gleichzeitig die Löhne schützen. Das ist ein Widerspruch in sich. Im Moment hat der Lohnschutz etwas mehr Rückenwind. Die Entwicklung in der EU geht also in die richtige Richtung. Wir werden sehen, wie der Europäische Gerichtshof künftig urteilt. Das wird noch ein paar Jahre gehen. Ich bin auch Mitglied des Vorstands des Europäischen Gewerkschaftsbundes. Wenn wir mit unseren europäischen Kolleginnen und Kollegen sprechen, dann warnen sie uns immer wieder vor dem Gerichtshof, weil sie mit ihm schlechte Erfahrungen gemacht haben. Österreich musste die eigenen flankierenden Massnahmen wegen eines Entscheids des Gerichtshofs verschlechtern.
EU-Kommissions-Vize Maroš Šefčovič hat gesagt, er wolle nun vorwärtsmachen und mit der Schweiz bis Mitte nächsten Jahres einen neuen Vertrag abschliessen. Sind Sie mit diesem Zeitplan einverstanden?
Für uns ist der Inhalt wichtiger als die zeitliche Dimension. Wir wollen uns nicht unter Druck setzen lassen.
Danach sind in der EU Wahlen, worauf die EU-Kommission neu zusammengesetzt wird. Besteht da nicht das Risiko, dass Sie die Verhandlungen wieder neu anfangen müssen und sich das Ganze weiter in die Länge zieht?
Ich gehe davon aus, dass Ursula von der Leyen EU-Kommissionspräsidentin bleiben wird. Die Angst, dass man bei null anfangen muss, teile ich persönlich nicht.
Werden also die Schweiz und die EU frühestens in ein paar Jahren Verhandlungen abschliessen?
Wenn sich die Europäische Union bewegt, die Befürchtungen der Schweiz aufnimmt und bereit ist, Lösungen zu finden, damit wir eine Chance haben bei einer allfälligen Volksabstimmung, dann ist es möglich, schneller eine Lösung zu finden. Aber im Moment ist noch keine gemeinsame Landezone vereinbart worden. Herr Šefčovič weiss jetzt, was die Gewerkschaften in der Schweiz wollen. Neben dem Lohnschutz gilt es auch dafür zu sorgen, dass der Service public durch die Regeln der staatlichen Beihilfen und geforderte Liberalisierungen nicht gefährdet wird. Travailsuisse wird das Gesamtpaket am Schluss beurteilen. Nach den Verhandlungen werden Parlament und Stimmvolk sich äussern können. Ein Vertrag, von dem beide Seiten profitieren – Stichwort Forschungsprogramm Horizon – und der den Lohnschutz nicht verschlechtert, wird gute Chancen haben, auch wenn wir damit institutionell einen kleinen Schritt auf die EU zu machen müssen – auch mit Unterstützung der Gewerkschaften.