Wie Europa uns helfen kann, unsere «heile» Welt zu verbessern

In Bezug auf den Lohnschutz glaubt die Schweiz, in der besten aller Welten zu leben. Das ist ein Fehler.

Eine Analyse von Markus Notter, 13.03.2023

Vorgelesen von Danny Exnar
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Lohnarbeit: Auf der Schiffswerft Boesch Boote, Zürich. Die Bilder zu diesem Beitrag stammen aus der Serie «Men at Work» von Marvin Zilm. Marvin Zilm/13Photo

Das Verhältnis der Schweiz zur EU ist erstaunlich stabil. Seit mehr als 15 Jahren stehen wir am gleichen «toten Punkt». Zehn Jahre alte journalistische Analysen wirken frisch wie von heute. Meine alten Kolumnen zum Thema könnte ich unverändert wieder publizieren. Verhandelte man von 2014 bis 2021 unverdrossen und mit Zuversicht, so sondiert man heute in der gleichen Weise. Das hört sich immer mal wieder sogar positiv an. Man verstehe sich jetzt besser. Beide Seiten seien sich einig, die Beziehungen vertiefen zu wollen. Neuerdings schaut man sich sogar «Lösungs­pisten» an. Und beim Lohnschutz sind offenbar «offene Fragen vertieft worden». Grossartig.

Auch die gewerkschaftliche Haltung ist sehr stabil: «Der Lohnschutz ist nicht verhandelbar.» Tönt fürs Erste einfach und klar. Irgendwie sogar mutig. Aber eigentlich ist es doch erstaunlich, wenn Gewerkschaften eine Frage für nicht verhandelbar erklären.

Stellen wir uns vor, es würde erklärt: «Die Löhne sind nicht verhandelbar.» Was hiesse das? Es ist ja ein wesentlicher Daseins­grund der Gewerkschaften, dass sie Löhne verhandeln. Einen Lohn für nicht verhandelbar zu erklären, ergibt nur Sinn, wenn es keinen besseren geben kann. Da man das aber nicht weiss, bevor man verhandelt hat, wird man sich auf Verhandlungen einlassen. Wieso soll das beim Lohnschutz anders sein? Die Gewerkschaften scheinen davon auszugehen, dass hier nichts mehr verbessert werden muss. Wir leben diesbezüglich offenbar in der besten aller Welten.

Aber stimmt das wirklich? Sicher kann man das nicht behaupten von der schweizerischen Arbeitsmarkt- beziehungsweise Migrations­politik vor 2002, also bevor die Personen­freizügigkeit eingeführt wurde. Damals verfügte die Schweiz mit dem Saisonnier­statut über ein Instrument, das die betroffenen Arbeit­nehmerinnen an einen bestimmten Arbeit­geber band und sie weitgehend dessen Willkür aussetzte.

Bei Differenzen mussten sie befürchten, für die nächste Saison keinen Vertrag mehr zu erhalten. Eine halbe Million Kinder von Saisonniers durften nicht bei ihren Eltern leben. 50’000 Kinder wurden vor den Behörden versteckt; man spricht von «Schrank­kindern». Das Saisonnier­statut war zudem eine sehr wirksame Lohndumping­massnahme. Die Löhne der Saisonniers lagen fast 14 Prozent tiefer als andere Löhne bei gleicher Qualifikation. Das dürfte nicht ohne Wirkung auf die allgemeine Lohn­entwicklung geblieben sein.

Zum Autor

Markus Notter (SP) war von 1996 bis 2011 Zürcher Regierungsrat. Der promovierte Jurist stand dort der Direktion der Justiz und des Inneren vor. Seit 2011 ist Notter Präsident des Europa Instituts an der Universität Zürich.

Etwas besser wurde es für die Saisonniers erst, als man mit den wichtigsten Einwanderungs­ländern in den 1970er-Jahren Vereinbarungen traf – nicht ganz freiwillig. Sie wurden eingeführt im Anschluss an das Freihandels­abkommen mit der Europäischen Gemeinschaft (EG). Abgeschafft wurde das diskriminierende Saisonnier­statut aber erst, als die Bilateralen I beschlossen wurden, konkret mit dem Freizügigkeits­abkommen. Der ehemalige Sekretär des Schweizerischen Gewerkschafts­bunds, Karl Aeschbach, stellte zutreffend fest:

Phasen des Fortschritts waren und sind offenbar in der schweizerischen Ausländer­politik nur dann möglich, wenn neben progressiven Kräften im Innern ein wesentlicher Druck von aussen dazu kommt. Das war zweimal der Fall: in den Jahren 1972 bis 1975 im Zusammenhang mit dem Abschluss des Freihandels­abkommens (FHA) mit der Europäischen Gemeinschaft und ab 1990 im Zusammenhang mit den Verhandlungen über das EWR-Abkommen, respektive den bilateralen Verhandlungen I mit der EU.

Aus: Vasco Pedrina, «Von der Kontingentierungs­politik zur Personen­freizügigkeit. Gewerkschaftliche Migrationspolitik im Wettlauf gegen Diskriminierung und Lohndumping».

Man fände in der Geschichte unseres Landes weitere Beispiele dafür, dass erst durch «Druck von aussen» überfällige Reformen erfolgreich waren. So wurde den Schweizer Juden erst 1866 die Niederlassungs­freiheit zugestanden. Der Handels- und Nieder­lassungs­vertrag mit Frankreich von 1864 gewährte allen französischen Staats­angehörigen und damit auch den französischen Jüdinnen Rechts­gleichheit und Freizügigkeit in der Schweiz. In der Folge liess sich die bisherige Diskriminierung der Schweizer Juden nicht mehr aufrecht­erhalten. Noch 1862 hatte der Versuch der Aargauer Regierung, die jüdische Bevölkerung gleich­zubehandeln, zu einem Volks­aufstand und zum Sturz von Regierung und Parlament geführt.

Die Personen­freizügigkeit setzt eben der staatlichen Macht auch gegenüber Diskriminierungen von eigenen Bevölkerungs­teilen Schranken. Ein «Druck von aussen» kann in Reformen münden, jedoch nur, wenn «progressive Kräfte im Innern» auch ihre Chancen erkennen und mit Fantasie ans Werk gehen.

Aber wie gesagt: Für den geltenden Lohnschutz scheinen die schweizerischen Gewerkschaften davon auszugehen, in der besten aller Welten zu leben. Sehr zur Freude der national­konservativen Kräfte, die deswegen des Lobes voll sind. Christoph Blocher meinte in einem SRF-Podcast, dass der Bundesrat nur wegen der gewerkschaftlichen Haltung das Rahmen­abkommen definitiv versenkte. Wahrscheinlich hat er recht.

Der geltende Lohnschutz

Als man die Bilateralen I genehmigte, wurden auch Massnahmen zum Schutz des schweizerischen Lohn­niveaus getroffen beziehungs­weise zur Bekämpfung von Lohn­dumping. Diese flankierenden Massnahmen haben zwei Teile. Einerseits wurden neue Bestimmungen erlassen, die Mindest­löhne in Normal­arbeitsverträgen regeln und es erleichtern, Gesamt­arbeitsverträge allgemein­verbindlich zu erklären. Dieser Teil stützt sich auf das inner­staatliche Recht und hat einen direkten Einfluss auf den ganzen schweizerischen Arbeits­markt, nicht nur auf die aus der EU entsandten Arbeit­nehmerinnen.

Der zweite Teil der flankierenden Massnahmen umfasst das Entsende­gesetz, das heisst, die Regelungen für ebendiese Arbeitnehmer, die aus der EU für befristete Arbeits­einsätze in die Schweiz entsandt werden. Mit den Bilateralen I verpflichtete sich die Schweiz, das Entsende­gesetz am EU-Recht auszurichten. Es handelt sich also um übernommenes EU-Recht. 2004 wurde das Entsende­gesetz im Zuge der EU-Ost­erweiterung revidiert und unter anderem mit zwei umstrittenen Elementen ergänzt: So gilt seither eine achttägige Warte­frist, nachdem ein EU-Arbeitgeber einen Einsatz in der Schweiz gemeldet hat, bis die Arbeit aufgenommen werden kann. Zudem müssen die ausländischen Arbeit­geber in bestimmten Fällen eine Kaution hinterlegen.

Wie die flankierenden Massnahmen vollzogen werden, ist ein besonderer Knackpunkt. Im schweizerischen tripartiten System sind Arbeit­geber, Arbeit­nehmerinnen und Staat gemeinsam dafür verantwortlich. Das hat viele Vorzüge, doch eine eingehende Analyse der Eidgenössischen Finanz­kontrolle bringt auch Schwach­stellen zum Vorschein.

Aus EU-Sicht ist vor allem die Verhältnis­mässigkeit der Kontrollen infrage gestellt, aus verwaltungs­ökonomischer Sicht auch die Effizienz und Effektivität. Für die Sozial­partner, insbesondere die Gewerkschaften, die dieses System mitverantworten, gilt es aber als sakro­sankt. Veränderungen lehnen sie grundsätzlich ab.

Die Lücken

Im schweizerischen System der Lohn­kontrollen bestehen grosse Unterschiede zwischen den Branchen mit allgemein­verbindlich erklärten Gesamt­arbeitsverträgen und den Branchen ohne solche Regelungen. In den Ersteren gibt es einen insgesamt wirksamen Lohnschutz mit Kontroll- und Sanktions­möglichkeiten. In den übrigen Branchen sind die Kontrollen hingegen weniger wirksam, wie auch der Bericht der Eidgenössischen Finanzkontrolle zeigt.

Nur rund die Hälfte der Arbeitnehmer profitiert von gesamt­arbeits­vertraglichen Regeln und somit von einem wirksamen Lohnschutz. Die andere Hälfte ist nur lückenhaft gegen Lohndruck geschützt. Die Gewerkschaften kümmern sich um die Arbeits­bedingungen in den von ihnen schwer­gewichtig organisierten Branchen von Industrie und Bauwirtschaft. Der gewerkschaftliche Organisations­grad liegt aber nur bei rund 15 Prozent.

Im Jahr 2021 wurden in der Schweiz rund 7800 Millionen Arbeits­stunden geleistet. Davon entfielen rund gut 75 Millionen Arbeits­stunden auf Entsandte aus anderen europäischen Ländern: Der Anteil am Gesamt­total der geleisteten Arbeits­stunden liegt damit bei rund 0,9 Prozent. Selbstverständlich unterscheidet sich dieser Anteil nach Branchen und Regionen, doch dürften die Leistungen von kurzfristig in die Schweiz entsandten Arbeit­nehmerinnen für die regionale und nationale Volks­wirtschaft nirgends einen wirklich bedeutenden Umfang haben.

«Men at Work»: Am White Turf in St. Moritz. Marvin Zilm/13Photo

Wirksame Arbeitsmarkt­politik muss in ihrem Anspruch über die Interessen der gewerkschaftlich organisierten sowie Gesamt­arbeitsverträgen unterstellten Arbeit­nehmer hinausgehen. Die hiesigen Arbeits­verhältnisse enthalten aufgrund der geringen staatlichen Vorgaben im Vergleich zu wesentlichen EU-Ländern wenig Schutz­elemente, sodass es beispielsweise für internationale Konzerne bei Entlassungen kostengünstig ist, die Arbeits­plätze prioritär in der Schweiz abzubauen.

Zusammen mit Hermann Engler, Walter Steinmann und Hans Werder habe ich einen Vorschlag erarbeitet, der zeigt, wie die bestehenden Lohnschutz­lücken geschlossen werden können. Er stützt sich im Wesentlichen auf die EU-Regulierungen ab und würde deshalb gleichzeitig auch die Hürden für einen neuen Vertrag mit der EU beseitigen.

In den letzten Jahren hat die EU nämlich verschiedene Verbesserungen des Lohnschutzes beschlossen: So wurde 2018 die Entsende­richtlinie revidiert und die Rechte der Arbeit­nehmerinnen wurden ausgebaut. Die neue Richtlinie verankert den Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort». Seit kurzem sind die Arbeit­geber zudem verpflichtet, die Arbeit­nehmerinnen vor ihrer Entsendung über die wesentlichen Aspekte ihres Arbeits­verhältnisses zu informieren. Zudem wurde die Europäische Arbeits­behörde mit dem Ziel geschaffen, allen mobilen Arbeit­nehmern eine faire Behandlung zu garantieren.

Die Schweiz hat weder die revidierte Entsende­richtlinie noch die Durchsetzungs­richtlinie oder die Richtlinie über die Informations­rechte übernommen und beteiligt sich auch nicht am Binnenmarkt-Informations­system oder an der Europäischen Arbeits­behörde. Sie ist dazu vertrags­rechtlich nicht verpflichtet beziehungs­weise auch nicht berechtigt. Derweil hat die EU bereits weitere Verbesserungen zum Schutz der Rechte der Arbeit­nehmer beschlossen. An erster Stelle ist die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Oktober 2022 über angemessene Mindest­löhne in der Europäischen Union zu erwähnen. Eine Übernahme dieser EU-Regelungen in das schweizerische Recht wäre ein Meilenstein im Ausbau der Arbeit­nehmerinnen­rechte.

Der Vorschlag

Wir befinden uns nach dem Abbruch der Verhandlungen über das Institutionelle Abkommen im Mai 2021 in einer vergleichbaren Situation wie nach der Ablehnung des EWR-Vertrages durch eine Volks­abstimmung im Jahr 1992. Es lohnt sich deshalb, sich die damalige Reaktion des Bundesrats in Erinnerung zu rufen. Dieser unterbreitete 1993 dem Parlament ein «Folgeprogramm nach der Ablehnung des EWR-Abkommens», mit dem er insgesamt 27 Gesetzes­anpassungen vorschlug. Er wollte, dass damit «die aussen- und innenpolitischen Voraussetzungen für einen optimalen europa­politischen Kurs und die angestrebte markt­wirtschaftliche Erneuerung geschaffen werden».

Das war die Geburts­stunde der Bilateralen I. In seiner Botschaft zum Gesetzes­paket wies der Bundesrat ausdrücklich darauf hin, wie hilfreich für die Verhandlungen mit der EU der Umstand war, dass sich seit zehn Jahren die schweizerische Gesetz­gebung mit grenz­überschreitender Wirkung sukzessive an die Gesetz­gebung der EU angepasst hatte, ihres wichtigsten Nachbarn und Handels­partners.

In Analogie dazu geht es heute darum, die aussen- und innen­politischen Voraus­setzungen für einen optimalen europa­politischen Kurs und für die angestrebte Erneuerung des Arbeit­nehmerinnen­schutzes zu schaffen. Nach der Ablehnung des Institutionellen Abkommens braucht es nun wieder ein Folge­programm mit Gesetzes­änderungen im Bereich des Arbeitnehmer­schutzes. Ob darin zusätzlich weitere Politik­bereiche berücksichtigt werden sollen, wäre zu diskutieren.

Unser oben bereits erwähnter Vorschlag enthält eine ganze Reihe von Massnahmen für einen europa­kompatiblen Lohn- beziehungsweise Arbeitnehmerinnen­schutz, die rasch in eine eigene Gesetzes­vorlage aufgenommen werden sollten. Die Schweiz sollte im Rahmen einer Lösung der institutionellen Fragen auch anstreben, in der Europäischen Arbeits­behörde und im Binnen­markt-Informations­system mitzuwirken. Wir schlagen vor, dass die flankierenden Massnahmen von einer Agentur kontrolliert werden, die ähnlich wie die Suva organisiert ist und von den Sozial­partnern verwaltet wird. Wer die Lohnschutz­bestimmungen verletzt, muss zudem wirksamer sanktioniert werden, damit eine abschreckende Wirkung gewährleistet ist.

Fazit

Die schweizerische Diskussion der «Europafrage» leidet seit langem darunter, dass man sich fantasielos und ausschliesslich auf Probleme fokussiert. In akribischen Pro- und Kontra­katalogen wird jede mögliche Veränderung des Status quo als Bedrohung wahrgenommen: Müssen wir etwas ändern, wenn wir am europäischen Integrations­prozess teilnehmen? Wenn ja, gilt das zwingend als Nachteil. Wird dieser Nachteil durch einen überwiegenden Vorteil kompensiert?

Die diesbezüglichen Diskussionen sind meist durch technische Details und Verfahrens­fragen gekennzeichnet. Immer nach dem Motto: Etwas ändern ist ein Risiko. Wer meint, in der besten aller Welten zu leben, scheut dieses Risiko. Aber wir können auch unsere «heile» Welt verbessern. Im Gleichklang mit der Europäischen Union.

Arbeitnehmerinnen­schutz und insbesondere der Schutz vor Lohndumping ist ein wesentliches Ziel sowohl der EU als auch der Schweiz. Das EU-Recht bietet dafür vielfältige Möglichkeiten, die zum Teil erheblich über den schweizerischen Rechts­rahmen hinausgehen.

Innerhalb des europäischen Binnen­marktes soll Wettbewerb herrschen. Das ist sein Existenz­grund. Aber der Wettbewerb darf nicht darauf beruhen, dass in ein und demselben Land Arbeits- und Beschäftigungs­bedingungen gelten, die sich wesentlich unterscheiden, je nachdem, ob der Arbeitgeber in diesem Land ansässig ist oder nicht. Auch der Europäische Gerichtshof hat diesen Grundsatz in seiner Recht­sprechung ausdrücklich bestätigt. Wettbewerb ja, aber zu fairen Bedingungen. Wir brauchen Europa nicht zu fürchten. Im Gegenteil!

«Men at Work»: Bei der Saviva AG, Regensdorf. Marvin Zilm/13Photo

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