Alles, was Recht ist. Oder gar etwas mehr?
Wie kam es zum «Fall Berset»? Aus Zufall? Oder durch Kalkül der politischen Gegner? Fast alle Fragen zielen auf Peter Marti, den Sonderstaatsanwalt des Bundes und ehemaligen SVP-Kantonsrat.
Von Lukas Häuptli, 25.01.2023
Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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Natürlich schaut alles auf ihn. Alain der Beliebte, Alain der Grosse, Alain der «Corona-Diktator». Stürzt er jetzt vom Sockel?
Es geht, man weiss es mittlerweile, um Indiskretionen von Alain Bersets ehemaligem Medienchef Peter Lauener, um die Bevorzugung des Ringier-Konzerns und um eine mögliche Beeinflussung des Gesamtbundesrats durch diese Indiskretionen.
Die Empörung von Medien und Bevölkerung ist gross. Schliesslich stellen sich im Fall wichtige demokratie- und medienpolitische Grundsatzfragen. Und Fragen um mögliche Machenschaften von Bersets politischen Gegnern.
Unbestritten ist: Der Fall schadet dem SP-Bundesrat und seiner Partei.
Am Dienstagabend haben die Geschäftsprüfungskommissionen von National- und Ständerat beschlossen, in diesem Zusammenhang eine Arbeitsgruppe einzusetzen. Diese soll untersuchen, zu welchen Indiskretionen es in Bersets Innendepartement, aber auch in allen anderen Departementen während der Corona-Pandemie gekommen ist.
Alles schaut also auf Berset (und auf diese Untersuchung) – weshalb fast alles andere vergessen geht.
Vergessen geht vor allem das: Wie ist es überhaupt so weit gekommen?
Davon handelt – neben und vor dem «Fall Berset» – der «Fall Marti».
Auch im «Fall Marti» geht es um Grundsätzliches: um rechtsstaatliche Fragen und um die Frage, wie Recht zu politischen Zwecken instrumentalisiert werden kann.
Der «Fall Marti» hat seinen Namen von Peter Marti. Er ist heute 70, stammt aus Winterthur und war während Jahren Mitglied der SVP. Zuerst wurde er Bezirksanwalt, dann Untersuchungsrichter des Bundes, dann Oberrichter des Kantons Zürich. Vier Jahre lang, von 1995 bis 1999, sass er für die SVP im Zürcher Kantonsrat.
Einen Namen machte sich Marti in den 1980er-Jahren. Wegen verschiedener Farb-, Brand- und Sprengstoffanschläge ging der Bezirksanwalt mit ungewöhnlicher Härte gegen Winterthurer Jugendliche vor. Zahlreiche kamen in Untersuchungshaft. Trauriger Tiefpunkt der «Winterthurer Ereignisse»: Eine Jugendliche beging im Gefängnis Suizid.
Knapp vierzig Jahre später, Anfang 2021, setzte die Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft Peter Marti als ausserordentlichen Staatsanwalt ein. Er sollte die mutmasslichen Amtsgeheimnisverletzungen untersuchen, die im Zusammenhang mit dem Bericht der parlamentarischen Geschäftsprüfungsdelegation über die Crypto-Affäre begangen worden waren. Crypto war eine Firma aus Zug, die während Jahren manipulierte Chiffriergeräte verkaufte und so amerikanischen und deutschen Geheimdiensten ermöglichte, die scheinbar verschlüsselte Kommunikation anderer Staaten auszuspionieren.
Aus Martis Crypto-Untersuchung entstand der «Fall Berset».
Und in dieser Untersuchung gibt es bis heute zahlreiche ungeklärte Fragen.
1. Wer sass in Untersuchungshaft? – Niemand
Peter Marti ermittelte in seinem Strafverfahren wegen mutmasslicher Amtsgeheimnisverletzungen mehrere Monate gegen unbekannt. Manche sagen auch: erfolglos. Entsprechend ruhig blieb es in den Medien und in der Bevölkerung.
Dann, am 23. Juni 2022, machte der ehemalige SVP-Nationalrat und heutige «Weltwoche»-Journalist Christoph Mörgeli den Namen eines Beschuldigten im Verfahren öffentlich: Peter Lauener, bis kurz zuvor Medienchef von Alain Berset. Zwei Wochen später, am 10. Juli 2022, schrieb der «SonntagsBlick», der ausserordentliche Staatsanwalt habe Lauener «in Untersuchungshaft stecken lassen».
Seither erschienen mehrere hundert Artikel, in denen die Nachricht von Laueners Untersuchungshaft verbreitet wurde.
Nur: Diese Nachricht ist falsch.
Richtig ist: Peter Marti liess Lauener von der Polizei zwar vorläufig festnehmen und beantragte darauf beim Zürcher Zwangsmassnahmengericht Untersuchungshaft für ihn. Doch das Gericht tat, was es sonst fast nie tut: Es lehnte den Antrag ab (wie aus einem späteren Entscheid des Bundesstrafgerichts hervorgeht).
Der ausserordentliche Staatsanwalt liess jedoch nicht locker. Er zog den Fall ans Bundesstrafgericht weiter und beantragte bei diesem nicht nur Untersuchungshaft, sondern auch eine sogenannte vorsorgliche Massnahme, nämlich dass Lauener bis zum Gerichtsentscheid vorläufig festgenommen bleibt. (Das ist während höchstens vier Tagen möglich und nicht mit Untersuchungshaft zu verwechseln.)
Doch auch das Bundesstrafgericht band Marti zurück: Es lehnte dessen Antrag auf die vorsorgliche Massnahme ab. Damit erübrigte sich die Frage der Untersuchungshaft; Lauener musste auf freien Fuss gesetzt werden.
Entgegen der Meldung in mehreren hundert Medienartikeln sass Bersets ehemaliger Medienchef also nie in Untersuchungshaft. Im Gegenteil: Marti blitzte mit seinen Anträgen an zwei Gerichten ab.
Warum ist das wichtig?
Erstens: Die Anordnung von Untersuchungshaft ist nur rechtmässig, wenn ein «dringender Tatverdacht» gegen einen Beschuldigten vorliegt. Genau das verneinten bei Lauener aber sowohl das Zürcher Zwangsmassnahmengericht als auch das Bundesstrafgericht.
Zweitens: Die x-fach kolportierte Falschmeldung von Laueners Untersuchungshaft leistete und leistet dessen Vorverurteilung während Monaten Vorschub.
2. Darf Marti überhaupt ermitteln? – Fraglich
Warum aber hatte die Aufsichtsbehörde im Crypto-Verfahren überhaupt einen ausserordentlichen Staatsanwalt eingesetzt? Aus Gründen einer möglichen Befangenheit, argumentierte die Behörde. Am Anfang der Untersuchung habe man nicht ausschliessen können, dass Mitarbeiterinnen der Bundesanwaltschaft die mutmasslichen Amtsgeheimnisverletzungen begangen hätten.
Allerdings stellte sich bald heraus, dass die Bundesanwaltschaft als Quelle der Crypto-Leaks nicht infrage kam. Da hätte Marti seine Untersuchung einstellen können – oder gar müssen.
Der ausserordentliche Staatsanwalt tat das Gegenteil. Er weitete das Verfahren aus und leitete Untersuchungen gegen drei Beschuldigte ein, die nichts mit der Bundesanwaltschaft zu tun hatten: gegen Peter Lauener, Markus Seiler und Michael Steiner. Seiler ist Generalsekretär, Steiner Medienchef des Aussendepartements von Bundesrat Ignazio Cassis.
Die Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft genehmigte Martis Verfahrensausweitung am 1. März 2022 ausdrücklich und begründete ihren Entscheid mit dem «Grundsatz der Verfahrenseinheit».
Allerdings bezweifeln namhafte Strafrechtler, dass die Einsetzung Martis und die Ausweitung seines Mandats rechtmässig waren.
So sagte Strafrechtsprofessor Marcel Niggli von der Universität Freiburg dem «Tages-Anzeiger»: «Ausserordentliche Staatsanwälte dürfen nur eingesetzt werden, wenn ein Verdacht besteht, dass Angehörige der Bundesanwaltschaft bei ihrer amtlichen Tätigkeit eine Straftat begangen haben. Es reicht nicht, dass eine blosse Möglichkeit für eine solche Täterschaft besteht.»
Und der Assistenzprofessor für Strafrecht Stefan Maeder von der Universität Luzern erklärte: «Solange niemand aus der Bundesanwaltschaft als mutmasslicher Täter infrage kommt, kann kein ausserordentlicher Staatsanwalt des Bundes eingesetzt werden.»
3. Ermittelt Peter Marti korrekt? – Manche zweifeln
Dass ein Beschuldigter gegen einen Staatsanwalt Strafanzeige erstattet, ist keine Seltenheit. Im aktuellen Fall zeigte Lauener Marti wegen des Verdachts auf Amtsmissbrauch und weiterer Delikte an. Ein anderer ausserordentlicher Staatsanwalt des Bundes, der Luzerner Anwalt Stephan Zimmerli, hat deshalb ein Verfahren gegen Marti eröffnet.
Ungeachtet dessen wirft die Untersuchung gegen Lauener, Seiler und Steiner eine Reihe erklärungsbedürftiger Fragen auf.
Erstens: Wie kam Marti überhaupt zu seinem Anfangsverdacht gegen die drei Beschuldigten? Dieser ist rechtliche Voraussetzung dafür, dass ein Staatsanwalt ein Strafverfahren überhaupt eröffnen darf.
Ein Journalist, der im Crypto-Verfahren als Zeuge befragt worden war, schrieb am Montag im «Tages-Anzeiger»:
Für Marti sei das Buch «Lockdown» entscheidend gewesen, das vierzehn Tamedia-Journalistinnen im September 2020 veröffentlicht hatten. Daraus schloss der Staatsanwalt auf eine enge Beziehung zwischen Tamedia (u. a. «Tages-Anzeiger») auf der einen Seite sowie Berset und seinem Medienchef Lauener auf der anderen Seite.
Marti erkannte dabei offenbar folgenden Deal: Berset und Lauener beliefern den «Tages-Anzeiger» mit Indiskretionen, der «Tages-Anzeiger» schreibt im Gegenzug wohlwollend über den SP-Bundesrat.
Das war und ist eine nicht nur sehr dünne, sondern auch eine sehr abenteuerliche These für einen Anfangsverdacht, der die Eröffnung eines Strafverfahrens legitimieren müsste.
Zweitens: Hatte Marti für all seine Zwangsmassnahmen die erforderlichen richterlichen Genehmigungen?
Drittens: Welche Dokumente im Verfahren wurden auf Antrag der Beschuldigten gesiegelt? Welche nicht? Und warum nicht? Die Fragen stellen sich namentlich bei Laueners Mails, die dieser Tage veröffentlicht wurden.
Dazu muss man wissen: Beschuldigte können die Siegelung von Dokumenten verlangen, die der Staatsanwalt bei ihnen beschlagnahmt hat. Anschliessend entscheidet ein Gericht, ob die Dokumente für das Strafverfahren entsiegelt werden dürfen. Erst dann kann der Verfahrensleiter auf sie zurückgreifen.
Zumindest über einen Teil dieser Fragen wird in den nächsten Tagen oder Wochen das Berner Zwangsmassnahmengericht entscheiden. Wann das genau der Fall sein wird, will die zuständige Richterin nicht sagen.
4. Warum gibt es in diesem Strafverfahren so viele Leaks? – Weil es (auch) um Politik geht
Zuerst machte die «Weltwoche» den Namen des Beschuldigten Lauener öffentlich, dann der «Tages-Anzeiger» den des Beschuldigten Seiler, dann die «Aargauer Zeitung» den des Beschuldigten Steiner. Schliesslich veröffentlichte die gleiche Zeitung Einvernahmeprotokolle und Mails aus dem laufenden Strafverfahren. Zumindest dieses Leak ist bald ebenfalls Gegenstand einer strafrechtlichen Untersuchung. Die Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft sucht zurzeit einen ausserordentlichen Staatsanwalt, der das Verfahren wegen dieser mutmasslichen Amtsgeheimnisverletzung führt.
Diese Leaks haben mediale Vorverurteilungen der Beschuldigten zur Folge.
Warum aber gibt es so viele Indiskretionen?
Ein Grund: Es geht im «Fall Marti» (auch) um Politik. Dieser Tage vor allem um allfällige Verfehlungen von SP-Bundesrat Alain Berset. Später allenfalls auch um solche von FDP-Bundesrat Ignazio Cassis; immerhin werden auch zwei Chefbeamten seines Departements Amtsgeheimnisverletzungen vorgeworfen.
Schliesslich ist da die SVP. Den ersten Beschuldigten machte wie erwähnt der ehemalige SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli publik, die erste Rücktrittsforderung an Berset kam von SVP-Nationalrat Alfred Heer. Und über die Ausweitung des Mandats von Peter Marti entschied unter anderem Alexia Heine, Präsidentin der Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft und SVP-Bundesrichterin.
Das alles zeigt: Es geht nicht nur im «Fall Berset» um grundsätzliche, rechtsstaatliche Fragen, sondern auch – wenn nicht noch mehr – im «Fall Marti». Und um die Frage, wie Recht zu politischen Zwecken instrumentalisiert werden kann.