Die Schweiz rückt nach rechts – seit 30 Jahren
Die Wahlsiegerin SVP liefert keine Antworten auf die wahren Probleme des Landes. Lösungen wird es nur geben, wenn sich die anderen Parteien zu einer Koalition der Vernunft zusammenraufen.
Ein Kommentar von Lukas Häuptli, 22.10.2023
Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Überzeugen Sie sich selber: Lesen Sie 21 Tage lang kostenlos und unverbindlich Probe:
Update: Falsche Zahlen zur Parteienstärke
Der Bund hat am Sonntag falsche Angaben zur Parteienstärke bei den Nationalratswahlen publiziert. Dies hat das Bundesamt für Statistik am 25. Oktober bekannt gegeben. Die Zahlen in diesem Beitrag beruhen auf diesen fehlerhaften Angaben.
Die korrigierten Zahlen weisen tiefere Werte für SVP, FDP und Mitte aus. Demnach liegt der Wähleranteil der Mitte doch hinter demjenigen der FDP. Andere Parteien, darunter SP, Grüne und GLP, haben hingegen besser abgeschnitten als ursprünglich vermeldet.
Für die Sitzverteilung im Nationalrat hat die Zählpanne keine Auswirkungen.
Die politischen Verhältnisse der Schweiz seien derart stabil, dass nationale Wahlen daran kaum etwas änderten. So lautet ein beliebtes Narrativ. Mal gewinne die eine Partei, mal die andere, und was die eine zulege, verliere sie beim nächsten Mal sicher wieder. Die Rede ist dann oft von einer «Korrekturwahl».
Doch das Narrativ stimmt nicht. Die politischen Verhältnisse der Schweiz haben sich in den letzten 30 Jahren nämlich grundlegend verändert: Bei den Nationalratswahlen von 1991 erreichte die SVP einen Wähleranteil von 11,9 Prozent, jetzt einen von knapp 29 Prozent. Das bedeutet fast das Zweieinhalbfache.
Der Sieg der SVP ist also mehr als eine «Korrektur».
Was sind die Gründe dafür, dass die selbst ernannte Volkspartei 2023 das drittbeste Ergebnis ihrer Geschichte erzielte?
Wie immer in den letzten Jahren war Fremdenfeindlichkeit Kern ihres Wahlkampfs. Christoph Blocher, 83-jähriger Übervater der Partei, schrieb knapp zwei Monate vor den Wahlen in einem NZZ-Gastbeitrag: «Wo immer es ungelöste Probleme gibt: Die Ursachen stehen in engstem Zusammenhang mit der ungebremsten Zuwanderung in unser kleines Land.» Deshalb lancierte die SVP auch dieses Jahr eine Initiative zu ihrem Kernthema, diejenige gegen eine 10-Millionen-Schweiz. Mit ihr mobilisierte sie nicht nur Stamm-, sondern auch Wechselwählerinnen.
Daneben riss die SVP in den letzten Monaten die Schutzwälle gegen die äusserste Rechte ein (die sie zu Blochers besten Zeiten zumindest offiziell errichtet hatte). Nichts illustriert das besser, als dass SVP-Präsident Marco Chiesa im Bundeshaus mit drei Frauen der Westschweizer Bewegung Némésis posierte; Némésis gilt als rechtsextrem. Mit der faktischen Öffnung nach rechts aussen (zu der auch Listenverbindungen mit sogenannten Corona-Skeptikern zählen) erschloss sich die SVP ein Potenzial an Wutbürgern, die bisher kaum wählen gingen.
Dazu passt: Die Ausfälle der SVP im Wahlkampf gehören mittlerweile zum politischen Alltag. Die Partei missbrauchte selbst die Kritik der eidgenössischen Anti-Rassismus-Kommission an ihren Kampagnen zu Wahlkampfzwecken.
Dass die SVP fast ein Drittel aller Nationalratssitze besetzt, ist alarmierend genug. Schlimmer noch: Die Partei treibt mit ihren Themen alle anderen Parteien, die meisten Medien sowie weite Teile der Bevölkerung vor sich her. Das Thema «Ausländer» ist mittlerweile allgegenwärtig.
Wie sagte doch der SVP-Übervater? Alle Probleme der Schweiz sind Zuwanderungsprobleme.
Das ist Unsinn. Die thematische Geiselhaft der SVP führt dazu, dass andere Probleme auf der politischen Agenda des Landes immer seltener Platz finden. Die Bedrohung durch den Klimawandel. Die finanziellen Nöte von breiten Bevölkerungskreisen. Die aussenpolitische Abnabelung der Schweiz.
Das war mit ein Grund, wieso Grüne und GLP diesmal schlecht abgeschnitten haben.
Und was bedeutet das alles für die Zukunft? Der Aufstieg der SVP in den letzten 30 Jahren hat den Rahmen des politisch Denk-, Sag- und Machbaren in der Schweiz immer weiter nach rechts verschoben. Und wird ihn aller Voraussicht nach noch weiter verschieben. Der Rechtsrutsch ist Normalität geworden.
Deshalb ist entscheidend, wie sich FDP und Mitte künftig positionieren. Die Anbiederung der Freisinnigen an die SVP in wichtigen politischen Fragen (Migration, Asyl, Europa, Energie) bekommt der Partei offenbar nicht gut; ihr Stimmanteil sank um rund 0,5 Prozentpunkte.
Es läge im Interesse der Schweiz, dass sich die FDP auf ihre Wurzeln als staatstragende Partei besinnt und von der fremdenfeindlichen Politik der SVP Abstand nimmt. Ebenso wäre es wichtig, dass sich die Mitte wie diejenige politische Kraft verhält, als die sie sich gibt: als Kraft des Ausgleichs und der politischen Lösungen. In Wirklichkeit war die Mitte seit ihrer Gründung häufig nichts anderes als die rechte Kraft, die sie als CVP immer war.
Es bräuchte also eine Koalition der Vernunft, eine Koalition von FDP, Mitte, GLP, SP und Grünen, um die grössten politischen Probleme der Schweiz zu lösen: diejenigen in der Klima-, Energie-, Sozial-, Ausländer- und Europapolitik.
Das wäre eine Veränderung der politischen Verhältnisse der Schweiz. Eine zum Guten.
Hinweis: In einer früheren Version schrieben wir, die SVP habe das zweitbeste Resultat ihrer Geschichte erzielt. Nach Vorliegen der Endresultate ist es das drittbeste. Zudem haben wir nach einem Hinweis aus der Leserschaft eine Passage präzisiert: Der Wähleranteil der SVP beträgt im Vergleich zu ihrem Ergebnis 1991 nicht das Dreifache, sondern das Zweieinhalbfache.