«Die Schweiz macht es sich und uns sehr schwer»

Andreas Schwab beschäftigt sich als EU-Parlamentarier intensiv mit der Schweiz und mit Big Tech. Ein Gespräch über die bilateralen Beziehungen, Regeln für Digital­plattformen und den Umgang mit Antidemokraten.

Von Priscilla Imboden (Text) und Marvin Zilm (Bilder), 04.10.2023

Vorgelesen von Jonas Gygax
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Andreas Schwab sitzt im Café des Europa­parlaments in Brüssel und isst einen Pfirsich. Der einflussreiche CDU-Politiker aus Baden-Württemberg ist der einzige Europa­parlamentarier, der sich seit Jahren vertieft mit der Schweiz auseinandersetzt. Bei den anderen Parlaments­mitgliedern ist das Interesse, gelinde gesagt, klein. Schwab ist auch der «Mister Digital» des Europa­parlaments, er war Bericht­erstatter für die neuen Digital­gesetze, mit denen die Macht der Internet­giganten gebändigt werden soll.

Herr Schwab, Sie haben zusammen mit Nicola Forster von der GLP ein Buch über die bilateralen Beziehungen geschrieben. Für Sie sind die Beziehungen zur Schweiz seit Jahren eine Herzens­angelegenheit. Weshalb?
Weil die Schweizer meine Nachbarn sind und weil die Schweiz mitten in Europa liegt. Und weil sie zu der Gruppe von Staaten gehört, die europäisch sind, aber nicht Mitglied der Europäischen Union.

Bedauern Sie das?
Das ist eine heikle Frage, weil das eine nationale Entscheidung ist. Die Schweiz macht es sich selbst und uns sehr schwer, weil sie den Eindruck vermittelt, sie wäre in der EU dabei, aber de facto nicht beitreten will. Wir respektieren jede Entscheidung, aber Wurst und Wecken kann es nicht gleichzeitig geben. Entweder man wird Mitglied, dann hat man alle Zugangs­möglichkeiten, aber eben auch alle Verpflichtungen. Oder man tritt nicht bei, dann kann man aber auch nicht alle Vorteile haben.

Deswegen hat die Schweiz die bilateralen Verträge.
Die Schweizer Debatte ist geprägt von einem Missverständnis. Die Parteien wissen, dass die Schweizer Bevölkerung weiss, dass die Schweiz mitten in Europa liegt. Sie erwecken deshalb den Eindruck, dass die Schweiz überall dabei sei. Gleichzeitig aber unterstützen sie die europa­kritischen Kräfte, indem sie sagen: Wir wollen natürlich nichts ändern und nicht beitreten. Das ist ein Dualismus, der nicht funktioniert.

Bis jetzt hat dieser Weg aber nicht schlecht funktioniert.
Nach dem knappen Nein der Schweizer Bevölkerung 1992 zum EWR, dem Europäischen Wirtschafts­raum, hat dieser Weg funktioniert, weil man in der EU gedacht hat, die Schweiz werde irgendwann einen Beitritts­antrag stellen. Deshalb war die EU bereit, die bilateralen Verträge abzuschliessen. Nun muss es aber ein Update geben. Ich habe das Gefühl, dass auch die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung dafür absolut bereit ist.

Um dieses Update wird nun seit Jahren gerungen. Ohne Resultat. Wo hakt es?
Ich finde, es liegt am politischen System in der Schweiz. Wenn Sie einmal im Bundesrat sind und sich nicht dumm anstellen, bleiben Sie da eigentlich für immer. Und damit haben Sie überhaupt kein Interesse, mutige Entscheidungen zu treffen, sondern das Beste ist: Wait and see, stay part of the game. Und damit ist eben das System nicht besonders manövrierfähig für die modernen Herausforderungen.

Trotzdem war es in den 1990er-Jahren möglich, die bilateralen Verträge abzuschliessen. Damals war die Schweiz sehr aktiv bemüht, die Beziehungen zur EU zu regeln.
Damals, glaube ich, herrschte im Bundesrat noch ein anderes Verhältnis zwischen den Parteien. Und vielleicht war es auch einfach eine andere Zeit mit anderen politischen Persönlichkeiten, die noch ein gewisses Risiko eingingen, um die Politik zu gestalten.

Sie haben in den letzten Jahren versucht, einen Weg aus der bilateralen Sackgasse zu finden, und gemeinsam mit Mitgliedern des Schweizer Parlaments Vorschläge unterbreitet. Was hat diese Parallel­diplomatie gebracht?
Die Bemühungen zwischen dem Europäischen Parlament und dem Schweizer Parlament sind sehr positiv, weil wir eben feststellen, dass wir mehr oder weniger zu den gleichen Einschätzungen kommen. Deswegen teilen wir mit den Schweizer Kollegen die Frustration, dass wir seit zwanzig Jahren auf den Elefanten im Raum starren, der sich nicht bewegt.

Nun hat der Bundesrat Eckpunkte für ein Verhandlungs­mandat formuliert. Bewegt sich nun doch etwas?
Ich versuche immer das Positive zu sehen. Allerdings haben wir jetzt genug schöne Worte gewechselt. Wir werden die Schweizer Regierung also an ihren Taten messen müssen. Das bedeutet nicht, dass die Schweiz machen muss, was die EU will, überhaupt nicht. Aber wir müssen uns in zentralen Punkten einigen und dabei – ob es den Schweizern gefällt oder nicht – den europäischen Vertrag berücksichtigen. Wir können den Vertrag, den die 27 Mitglieds­staaten der EU abgeschlossen haben, nicht umschreiben, nur weil die Schweiz es gerne anders hätte.

Umstritten ist nach wie vor der schweizerische Lohnschutz. Sie kritisieren ihn als diskriminierend für Firmen aus der EU, die in der Schweiz Aufträge erledigen wollen. Weshalb?
Der Lohnschutz muss effektiv sein. Wenn wir den Arbeitnehmer und die Arbeitnehmerin effektiv schützen wollen, bringen schöne Worte nichts. Dann muss es ein System geben, das funktioniert. Ein System, das zwei Wochen Vorlauf schafft, ist nicht automatisch ein System, das funktioniert.

Sie sprechen von den acht Tagen Anmeldefrist für Firmen, die in der Schweiz Aufträge ausführen. Das soll die Lohn­kontrollen ermöglichen.
Ja. Ein System, das funktioniert, ist eines, das Daten zu den Arbeits­verträgen der betroffenen Arbeit­nehmer für die Kontrolleure schnell zugänglich macht. Daran müssen wir arbeiten. Denn wir wollen ja grenzüberschreitende Dienstleistungen unter den geltenden Lohn­bedingungen ermöglichen und nicht verhindern.

Dafür brauchen wir effektive Kontrollen. Die EU kritisiert aber unter anderem die Kontroll­dichte in der Schweiz.
So ist es. Doch es gibt eine Schweizer Studie, die selber sagt, dass die Kontrollen nicht effizient sind, weil sie schlicht und ergreifend an der falschen Stelle ansetzen. Wir bräuchten mehr Transparenz bei den konkreten Lohnzahlungen. Eine übersichtliche Anleitung, welche Löhne und Arbeits­zeiten in der Schweiz gelten. Und dann eine digitale Kontrolle der betroffenen Arbeit­nehmer, damit Kontrollen schnell und effektiv durchgeführt werden können.

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«Wer sagt, dass die Flüchtlinge weniger werden müssen, ist kein Faschist, sondern möglicherweise einfach nur Realist.»
Andreas Schwab, EU-Parlamentarier, CDU

Dagegen sperrt sich niemand.
Dann dürfte es ja nicht schwierig sein, eine Lösung zu finden. Ich höre halt manchmal, dass in der Schweiz immer wieder davon gesprochen wird, die EU wolle «zu weit» gehen. Objektiv muss es einfach darauf ankommen, dass Kontrollen effektiv sein müssen. Und dazu bräuchte es ein Gesetz, das die Schweiz schafft. So wie alle anderen Gesetze, die die Dienstleistungs­freizügigkeit und die Arbeitnehmer­entsendung in der Europäischen Union regeln. Die verfolgen übrigens alle das Prinzip: gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort.

Der Lohndruck existiert: Schon heute werden in der Schweiz bei Entsende­firmen aus der EU bei jeder fünften Kontrolle Verstösse gegen die Lohnregeln festgestellt. Soll man nicht dagegen vorgehen, auch im Interesse der europäischen Arbeit­nehmer, die in die Schweiz kommen?
Da habe ich ja gar nichts dagegen. Wenn man bei jeder fünften Kontrolle Verstösse findet, dann können die Kontrollen nicht effektiv sein. Man könnte vielleicht auch Systeme schaffen, mit denen schon proaktiv durch künstliche Intelligenz bestimmte Dinge überprüft werden können. Aber bisher gab es gar kein Gespräch darüber, wie so was gemacht werden kann. Von Schweizer Seite heisst es stattdessen oft: Das machen wir für uns.

Wie kooperativ verhält sich die Schweiz in Ihrer Wahrnehmung grundsätzlich in einer Welt, in der die Demokratien unter Druck geraten, etwa mit dem Krieg in der Ukraine?
Es liegt nicht an den Nachbarn, der Schweiz kluge Ratschläge zu geben. Die Schweiz muss selber entscheiden. Aber objektiv betrachtet ist es natürlich so, dass die Schweiz ihr Gesellschafts­modell, ihren Wohlstand, ihren Tourismus, ihre einzigartige Stellung auf der Welt sehr stark der Tatsache verdankt, dass um sie herum wirtschaftliche Prosperität, politische Kooperation und insgesamt eine ausser­gewöhnlich gute soziale Atmosphäre besteht. Das sollte die Schweiz bei ihren Entscheidungen mit in Betracht ziehen. Deutsche Panzer in Italien verrosten zu lassen, anstatt sie zum Einkaufspreis zurück­zuverkaufen, erscheint nicht besonders solidarisch, schon gar nicht logisch.

Die Demokratie und der freie Markt werden auch durch globale Internet­konzerne gefährdet. Sie missbrauchen ihre Marktmacht und vergiften mit der Verbreitung von Hass und Desinformation die politischen Debatten. Dagegen will die EU mit den Digital­gesetzen vorgehen, für die Sie im Parlament Bericht­erstatter waren. Halten sich Google und Meta – der Konzern hinter Facebook, Instagram, Whatsapp und Co. – daran?
Das werden wir jetzt sehen. Die Umsetzung des Gesetzes über digitale Märkte hat ja erst am 6. September mit der Definition der sogenannten Kern­dienstleistungen begonnen. Im nächsten Jahr müssen diese Dienst­leistungen entsprechend der europäischen Gesetzgebung ausgestaltet sein. Da werden die Digital­plattformen bestimmte Regeln beachten, sodass innerhalb eines Unternehmens nicht einfach Daten von einem Dienst an einen anderen weiter­gegeben werden ohne Zustimmung. In manchen Bereichen werden wir mehr Inter­operabilität haben, davon werden natürlich auch Schweizer Bürgerinnen und Bürger profitieren.

Was sind die Konsequenzen, wenn die Internet­plattformen die neuen Regeln nicht einhalten?
Dann gibt es drastische Strafen. Aber dieses Gesetz ist kein Strafgesetz, sondern es ist ein Gesetz, das mehr Wettbewerb ermöglichen und Innovation wieder zulassen soll. In den letzten Jahren haben Konzerne wie Meta und Google innovative Wettbewerber, die interessante Geschäfts­konzepte hatten, einfach aufgekauft, ohne Lust, deren Modelle zu entwickeln, sondern einfach, um sie einzustampfen, um keine Konkurrenz zuzulassen. Das soll aufhören. Wir wollen dafür sorgen, dass neue Ideen auf dem Markt wieder eine Chance bekommen. Dafür brauchen wir eben eine Übersetzung des europäischen Wettbewerbs­rechts ins digitale Zeitalter.

Was bedeutet das?
Früher wurde das Wettbewerbs­recht erst nach einem Gerichts­entscheid, also retroaktiv, angewendet. Das hat teilweise Jahre oder Jahrzehnte gedauert. Mit dem neuen Gesetz kann die Kommission als europäische Wettbewerbs­behörde sofort Massnahmen anordnen. Diese können dann vor Gericht angefochten werden. Aber die Zeit vor Gericht spielt nicht mehr zugunsten des Unternehmens, das seine Markt­stellung dann einfach weiter ausbauen kann.

Die grossen Digital­plattformen sind allesamt US-amerikanische Konzerne. Ist nicht die Regulierung dort entscheidend?
Nicht allein – weil die EU ein grosser Markt ist und die Konzerne deshalb ein Interesse haben, sich an die Regeln hier zu halten. Und es ist interessant zu sehen, dass auch die USA, die am Anfang ja sehr skeptisch waren, jetzt über Wettbewerbs­verfahren vor amerikanischen Gerichten genau das Gleiche erreichen wollen wie wir. Da gibt es momentan sehr interessante Verfahren zu Google als Suchmaschine, aber auch zu Google als Werbe­dienstleister, und nun auch zu Amazon.

Falls die Internet­konzerne ihre Monopol­stellung behalten und weiterhin missbrauchen können – sollten sie dann aufgespalten werden?
Das ist vorgesehen, aber natürlich nur als Ultima Ratio. Ich glaube, dass diese Firmen kein Interesse an einer Aufspaltung haben.

Kann die EU das überhaupt machen? Europa ist in dieser Frage ja eine Art digitale Kolonie in den USA.
Es ist richtig, dass wir in der globalen Welt, zu der ja auch die Schweiz gehört, natürlich nicht allein tätig werden können. Aber die Idee, dass der faire, freie Wettbewerb allen nützt, war auch in den USA schon immer präsent. Diese Idee hat sich jetzt wieder neu durchgesetzt, vielleicht auch, weil die Europäer gesagt haben: Es reicht. Und deswegen glaube ich, dass wir nicht zu schüchtern sein sollten, unsere gemeinsamen Vorstellungen einer freien Welt durchzusetzen.

Das zweite Digitalgesetz, das die EU verabschiedet hat, das Gesetz über digitale Dienste, soll die Demokratie stärken und Hatespeech bekämpfen. Wird damit nicht die freie Meinungs­äusserung eingeschränkt? Wo finden Sie da eine Balance, um die Demokratie zu schützen?
Das ist eine sehr schwierige Frage, weil das Grundrecht auf freie Meinungs­äusserung ja zunächst einmal absolut gilt. Überall. Es kann nur dort eingeschränkt werden, wo eben die Freiheit des anderen beginnt.

Was bedeutet das konkret?
Das heisst, dass man eine schwierige verfassungs­rechtliche Abwägung zur praktischen Konkordanz von verschiedenen Verfassungs­gütern zu treffen hat, die jedes Land unterschiedlich ausgestaltet. In Deutschland ist beispielsweise die Leugnung des Holocaust strafrechtlich sanktioniert, in Dänemark überhaupt nicht. In Polen hingegen ist es strafbar, zu behaupten, Polen sei am Holocaust beteiligt gewesen. Das sind ausser­gewöhnlich komplizierte Rechts­fragen, die sehr schwierig zu klären sind. Deswegen brauchen wir da einen gemeinsamen Rahmen.

Wie sollte dieser Rahmen aussehen, um gegen demokratie­zersetzende Desinformation vorzugehen? Da haben ja fast alle europäischen Länder ein ähnliches Interesse.
Wir haben tatsächlich ein grosses Problem damit, dass Echokammern geschaffen werden, in denen die Betroffenen immer mehr um ihre eigenen Themen kreisen. Die Schwierigkeit liegt darin, dass Techfirmen wie Google, Meta und Co. besonders provokative Falsch­behauptungen zur Werbeeinnahmen­generierung zu nutzen versuchen. Und das möchte das Gesetz über digitale Dienste weitgehend ausschliessen. Aber Dummheit ist kein Verbrechen. Deswegen kann auch nicht jeder falsche Inhalt gelöscht werden.

Wie soll das Gesetz gegen Desinformation wirken?
Wir haben den Weg über die Geschäfts­bedingungen der Firmen gewählt, was am einfachsten ist, da es sich dabei um privat­rechtliche Einrichtungen aus den USA handelt. Die Plattformen sollen bei der Verbreitung von Inhalten nicht ihre Geschäfts­interessen in den Mittelpunkt stellen, sondern eine Abwägung vornehmen zwischen dem Recht auf freie Meinungs­äusserung und dem Wahrheits­gehalt der Inhalte. Da ist das Gesetz über digitale Dienste eine Leitschnur. Aber am Ende muss diese Frage von den Plattformen gemanagt werden. Jeden Tag, millionenfach.

Wenn ich Sie richtig verstehe: Sie erwarten von den Firmen, dass sie einschätzen, ob zum Beispiel russische Propaganda schädlich ist oder nicht und ob sie diese aus politischen Gründen unterdrücken sollten.
Nein, unterdrücken sollten diese Plattformen gar nichts. Vielmehr wird ihnen verboten, solche Inhalte mit Werbung zu versehen und daran zu verdienen. Sie müssen eine Risiko­analyse vornehmen, in der sie einschätzen, inwiefern ihre Dienste zur Verbreitung irreführender oder täuschender Inhalte genutzt werden, was ein systemisches Risiko für Gesellschaft und Demokratie darstellt. Sie müssen diese Risiko­analysen jedes Jahr vorlegen, damit wir sehen können, wie gut diese Abwägung konkret gelingt.

Reicht das aus?
Das werden wir sehen.

Unter Druck ist die Demokratie in Europa auch durch Anti-Establishment-Parteien vor allem am rechten Rand. Laut einer Umfrage der Zeitung «Guardian» wählt bereits heute ein Drittel der Europäerinnen und Europäer solche Parteien. Wie sollen die traditionellen staats­tragenden Parteien darauf reagieren?
Ich glaube, dass wir kleine Schritte machen müssen, damit wir die betroffenen Bürgerinnen und Bürger nicht überfordern. Wir müssen jeden Schritt gut erklären. Und wir müssen so viele Entscheidungen wie möglich den lokalen oder regionalen Regierungen überlassen. So entsteht ownership, also das Gefühl der Mitverantwortung.

Wird ein solches Vorgehen honoriert in der digitalen Medienwelt, die stark auf Extremes und Effekt­hascherei anspricht?
Das ist das Problem. Common-Sense-Themen funktionieren im digitalen Umfeld nicht. Dort kommt man besonders gross raus, wenn man etwas absolut Verrücktes vorschlägt. Wenn man zum Beispiel mit staatlicher Gängelei zu punkten versucht, dann geht es richtig ab in den Echokammern.

Was können die herkömmlichen Parteien dagegen tun?
Die grossen Parteien der Mitte müssen versuchen, ruhig zu bleiben, klare Konzepte zu verfolgen und daran festzuhalten. Aber wir müssen auch darauf achten, dass wir mit diesem Konzept die Leute erreichen. Und das können wir am einfachsten, wenn wir die lokalen und regionalen Entscheidungs­träger voll miteinbeziehen.

Aber wenn auf lokaler oder regionaler Ebene Rechts­populisten regieren, stellt sich die Frage der Brandmauern. Wie geht man mit dem Aufkommen der AfD um? Wie geht man damit um, dass Giorgia Meloni von der postfaschistischen Partei Fratelli d’Italia italienische Minister­präsidentin ist?
Natürlich ist die europäische Zusammen­arbeit, ob es uns gefällt oder nicht, zunächst mal davon abhängig, wer vor Ort regiert. Mit Emmanuel Macron regiert in Frankreich ein Präsident, der das traditionelle Parteien­system zerschlagen hat. In Spanien halten unsere Schwester­parteien am bestehenden System recht erfolgreich fest, aber auch dort sind neue Parteien dazugekommen. In Italien hat es sich komplett verändert, aber in Italien gab es schon immer viel Veränderung. Wenn Giorgia Meloni italienische Regierungs­chefin ist, verdient sie zunächst einmal Respekt dafür. Und ab dem Zeitpunkt muss man sie an ihren Taten messen.

Das haben Sie bereits nach Melonis Wahl gesagt. Was ist Ihr Urteil?
Ich glaube, dass Frau Meloni aussenpolitisch bisher eine gute Arbeit macht und sehr europäisch agiert, innenpolitisch hat sie ihrer Partei an manchen Stellen zu viele Spielwiesen gelassen. Es ist richtig, dass die Europäische Union ihr in den vergangenen Monaten auch stark geholfen hat. Aber das ist auch die Aufgabe der EU. Wir wollen Europa besser machen, und zwar mit den Mitglieds­staaten und nicht gegen sie. Klar ist leider auch, dass es in der Flüchtlings­frage keine einfachen Konzepte gibt. Jemand, der sagt, dass es weniger werden müssen, ist kein Faschist, sondern möglicher­weise einfach nur Realist.

Die Strategie der Einbindung hat beim ungarischen Minister­präsidenten Viktor Orbán nicht funktioniert. Ungarn ist keine Demokratie mehr. Orbáns Partei Fidesz war im EU-Parlament sehr lange Teil Ihrer Fraktion. Man zögerte, ihn hinaus­zuwerfen. War das ein Fehler?
Hinterher ist man immer schlauer. Natürlich würde man hinterher eine Reihe von Entscheidungen aus heutiger Sicht anders treffen.

Welche denn?
Wir hätten ihn damals, als er über die Wieder­einführung der Todesstrafe räsoniert hat, sofort suspendieren müssen.

Nun ist Viktor Orbán wiedergewählt worden, mit antidemokratischen Methoden.
Mit jedenfalls zweifelhaften Methoden, und deswegen hat die Europäische Union ja auch ein Artikel-7-Verfahren eingeleitet. Und da glaube ich, dass wir besser kommunizieren und deutlich machen müssen: Die Massnahmen, die wir vorsehen, richten sich nicht gegen Ungarn und die ungarische Bevölkerung, sondern gegen die Regierung, soweit sie sich eben nicht europarechts­konform verhält.

Ab welchem Punkt sollten die grossen traditionellen Mitteparteien Brandmauern errichten gegenüber anti­demokratischen Parteien?
Die Situation ist von Land zu Land unterschiedlich. In meiner Heimat Deutschland gibt es aus meiner Sicht keinen Platz für eine rechtsradikale Partei, die versucht, die Geschichte des Naziregimes zurecht­zubiegen. Wir als Christ­demokraten wollen mit solchen Leuten schlicht nichts zu tun haben. Es gibt keinen Platz für Zusammenarbeit.

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