Gesundheit!
Die Kosten im Gesundheitswesen sind aus dem Ruder gelaufen und die Politik feilt weiter am System. Dabei wäre ein kompletter Umbau nötig. Zwei Genfer Professoren hätten da einen revolutionären Vorschlag.
Von Philipp Albrecht, 18.12.2023
Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!
We are on a comfortable train running fast toward the wall, and nobody cares because everything is running fine – now.
Nehmen wir an, Sie haben Bluthochdruck. Das ist nicht ungewöhnlich, in der Schweiz leidet jede vierte erwachsene Person unter der sogenannten arteriellen Hypertonie. Aber wenn Sie nichts unternehmen, droht ein Herzinfarkt oder ein Hirnschlag.
Wenn Sie im heutigen Gesundheitssystem zu Ihrer Ärztin gehen, kann der Weg von der ersten Konsultation bis zur definitiven Diagnose und Behandlung sehr, sehr lange sein. Je nach Fall kann ein simpler Bluttest im Labor veranlasst werden oder gleich eine Überweisung zum Kardiologen erfolgen, der ein 24-Stunden-Elektrokardiogramm verordnet, die Nieren per Ultraschall oder die Leber mit einer Computertomografie untersucht.
Viele Patienten wünschen diese Abklärungen auch, weil sie auf Nummer sicher gehen wollen. Und Ihre Ärztin und der Kardiologe haben einen starken Anreiz, diesen Wünschen nachzukommen, weil sie jede Leistung abrechnen dürfen. Dieses Verhalten nennt sich Mengenausweitung. Sie treibt die Gesundheitskosten in die Höhe, jedes Jahr etwas mehr.
Das angeblich beste Gesundheitssystem Europas hat seinen Preis. Im weltweiten Vergleich gibt man in der Schweiz nach den USA mit 7000 Franken pro Kopf am meisten für die Versorgung aus. Noch höher als in den USA ist gar der Anteil, den die Versicherten zusätzlich aus der eigenen Tasche bezahlen müssen, sei es für nicht verschreibungspflichtige Medikamente, den Selbstbehalt oder die Franchise.
Seit der Einführung der obligatorischen Grundversicherung 1996 steigen die Prämien jährlich im Schnitt um 3,8 Prozent, nächstes Jahr beträgt der Anstieg sogar 8,7 Prozent. Beim Sorgenbarometer der Credit Suisse bezeichnen die Befragten dieses Jahr die steigenden Gesundheitskosten als ihre grösste Sorge, im «SRG SSR Wahlbarometer» als wichtigste politische Herausforderung. Dennoch bekommt die Politik die Kosten nicht in den Griff – und das Gesundheitswesen ist längst zu einem Kampfplatz mutiert, auf dem keiner der Akteure sich etwas schenkt.
Diese Erfahrung machte auch der US-amerikanische Bioethiker und Publizist Ezekiel J. Emanuel, als er vor vier Jahren die Gesundheitssysteme der vermeintlich elf besten Länder studierte, darunter jenes der Schweiz: «Alle, die ich in der Schweiz befragte, waren sich einig, dass das Gesundheitswesen zu teuer ist», schreibt er in seinem Buch. «Aber kein wichtiger Akteur – Versicherer, Ärzte oder Patienten – scheint bereit zu sein, seinen Vorteil oder seinen Zugang aufzugeben, um die Kosten zu senken.»
Unaufhörlich steigende Kosten und verhärtete Fronten: Das schreit nach einer Generalüberholung. Aber ist überhaupt ein System möglich, in dem sich die Bevölkerung nicht jedes Jahr mit Prämienerhöhungen, Hausarztmodellen, Franchisen oder Prämienverbilligungen herumschlagen muss?
Ein Arzt und ein Ökonom wollen das System ändern
Nehmen wir weiterhin an, Sie hätten Bluthochdruck, aber in einem neuen, revolutionär veränderten Gesundheitssystem. Eines, bei dem Sie sich keine Sorgen darüber machen müssen, dass ein Arztbesuch ihr Haushaltsbudget sprengt, weil es keine Franchisen und keinen Selbstbehalt mehr gibt. In diesem neuen System zahlen Sie einzig die Prämie. Und die hängt erst noch von Ihrem Einkommen ab.
Das ist keine Utopie, sagen Hans Stalder und Beat Bürgenmeier.
Die beiden emeritierten Professoren der Universität Genf befassen sich seit Jahrzehnten mit dem Schweizer Gesundheitswesen. Stalder, Jahrgang 1941, leitete unter anderem die medizinische Abteilung im Kantonsspital Baselland und die medizinische Poliklinik in Genf und lehrte und forschte in den Bereichen Innere Medizin und Infektionskrankheiten. Zudem beriet er Behörden in Bosnien und Kirgisistan bei der Reform ihrer Gesundheitssysteme.
Beat Bürgenmeier, Jahrgang 1943, beriet Banken, Verbände und Bundesverwaltungen zu Nachhaltigkeit. Er lehrte und erforschte in Genf und Versailles Wirtschafts- und Sozialpolitik. Dazu publizierte er auch Bücher und Meinungsbeiträge – mit klarer Haltung. Nachdem Christoph Blocher die «Basler Zeitung» übernommen hatte, strich die Chefredaktion Bürgenmeiers Kolumne im Blatt. Dafür habe er Verständnis, schrieb er später im Vorwort eines seiner Bücher. «Schliesslich sind Intellektuelle für Nationalkonservative schon immer suspekt gewesen, besonders wenn sie sich für einen sozialliberalen Ausgleich einsetzen.»
Die vielen gemeinsamen Gespräche, die Stalder und Bürgenmeier über das Gesundheitswesen führten, mündeten diesen Sommer in einem gemeinsamen Buch. «Pour une réforme du système de santé Suisse» ist eine Reflexion mit Lösungsvorschlägen, die sich aufdrängen, wenn ein Arzt und ein Ökonom über das Gesundheitswesen nachdenken. Das Buch ist bisher nur auf Französisch erschienen, der Sprache, in der Stalder und Bürgenmeier seit Jahrzehnten forschen und lehren. Die (noch) fehlende deutsche Übersetzung könnte ein Grund dafür sein, dass ihr Reformvorschlag in der Deutschschweiz bislang keine Beachtung fand.
«Uns geht es auch darum, gewisse Argumente, die man sonst nicht hört, in die Debatte zu bringen», sagt Bürgenmeier. Er denunziert ein System, das von Politikerinnen geprägt ist, die in den parlamentarischen Kommissionen Gesetze schmieden und dabei die Interessen von Spitälern, Ärzteverbänden, Krankenkassen, Medizinalfirmen und der Pharmabranche vertreten, die also im Dienst von Akteuren sind, von denen sie teilweise auch bezahlt werden.
Diese Akteure und ihr Einfluss auf die Politik haben die beiden Professoren zum Schreiben verleitet. Dass viele Entscheidungsträgerinnen dadurch motiviert seien, Geld zu verdienen mit dem Gesundheitssystem, sei ein Problem. «Eigentlich muss doch der Patient im Zentrum stehen, und die Frage, wie er am besten gepflegt werden kann», sagt Hans Stalder.
Ein Haus, ein Preis
Die Idee von Stalder und Bürgenmeier für ein besseres Gesundheitssystem lässt sich in drei Elemente einteilen.
Element 1: Die Krankenkasse zahlt die Ärzte nicht mehr für einzelne Behandlungsschritte, sondern überweist ihnen pro Patientin und Jahr einen fixen Betrag: die Patientenpauschale. Das ist der radikalste Vorschlag mit einer komplett neuen Form der Gesundheitsfinanzierung.
Element 2: Die Patientinnen werden innerhalb eines Netzwerks behandelt. Bürgenmeier und Stalder nennen es Maison de Santé. Ärzte, Spezialistinnen, Pfleger und Therapeutinnen arbeiten darin gemeinsam. Das Netzwerk erhält von den Krankenkassen die jährlichen Patientenpauschalen.
Element 3: Wer in die Maison de Santé geht, muss – neben der monatlichen Prämie – nicht zusätzlich zahlen. Es gibt also keine Franchise und keinen Selbstbehalt mehr, und die Höhe der Prämie hängt vom Einkommen ab.
Was würde das für Sie bedeuten, wenn Sie in dieser neuen Welt mit Ihrem Bluthochdruck zur Ärztin gingen?
Möglicherweise wäre der Bluttest bei Ihnen gar nicht nötig gewesen, da Sie sportlich sind und sonst keine weiteren Beschwerden haben. Wahrscheinlich hätte es keine Computertomografie gebraucht, um nach Kalziumablagerungen in Ihren Herzen zu suchen. Denn Schmerzen in der Brust hatten Sie nie.
Natürlich sind diese Annahmen spekulativ, da jeder Fall anders ist. In der Tendenz spricht jedoch eine Maison de Santé dafür, dass es weniger unnötige Tests, Behandlungen oder Termine gibt. Denn heute haben Ärzte einen Anreiz, Leistungen zu erbringen, die nicht zwingend nötig sind, da sie jede Leistung einzeln verrechnen dürfen.
In der Maison de Santé ist das anders: «Keine der Tätigkeiten (…) wird pro geleistete Handlung vergütet, um unnötige, gewinnorientierte Eingriffe zu vermeiden», schreiben Stalder und Bürgenmeier in ihrem Buch. Stattdessen kommt die Patientenpauschale zum Zug. In Fachkreisen spricht man von einer Capitation-Finanzierung. Das heisst: Die Pauschale deckt alle Gesundheitsleistungen ab, darunter Facharztbesuche, Krankenhaustage oder Hausbesuche. «Auch bestimmte gesundheitsrelevante Sozialleistungen sind enthalten, da soziale Faktoren oft eine grössere Rolle für die Gesundheit spielen als biologische», schreiben die Autoren.
Das Netzwerk der Ärztinnen trägt die Budgetverantwortung, muss also mit dem Gesamtbetrag auskommen, den es von den Krankenkassen für alle Versicherten im Netzwerk erhält. Die Beiträge von Versicherten, die selten oder nie Leistungen beanspruchen, kann das Netzwerk für die Finanzierung von komplexeren Behandlungen bei anderen Versicherten verwenden.
Die Maison de Santé muss wiederum kein physisches Haus sein, die Vernetzung funktioniert auch virtuell. Was zählt, ist das Netzwerk. In Ihrem Fall würde ein Kardiologe dazugehören, der das Herz und die Blutgefässe besser versteht als die Hausärztin.
Im Ansatz existieren viele kleine Maisons de Santé schon heute. Etwa in Form von HMO-Praxen, wo verschiedene sogenannte Leistungserbringerinnen unter einem Dach zusammenkommen. Wer sich für ein HMO-Modell entscheidet, erhält einen Prämienrabatt. Rund die Hälfte der Versicherten in der Schweiz sind in einem solchen Modell versichert. Bürgenmeier und Stalder denken aber noch einen entscheidenden Schritt weiter: «Bei unserem Vorschlag würden auch Spital-, Spitex- und Pflegeleistungen integriert. Das ist bei den heutigen Modellen noch nicht der Fall», sagt Stalder.
Die Kombination aus Maison de Santé und Patientenpauschale würde laut Stalder Bürokratie abbauen. Ärzte verbringen täglich zwei Stunden mit Administrativem, Tendenz steigend. Das hängt unter anderem mit dem wachsenden Leistungs- und Zeitdruck zusammen. Und sie würde eine längst erwünschte Harmonisierung der Tarife ermöglichen, an der sich das Parlament 14 Jahre lang die Zähne ausgebissen hat (und die sie aber in diesen Tagen zumindest teilweise beschliessen wird).
Schuld am Tarifwirrwarr und am Zeitdruck ist laut den Autoren die Vorstellung, dass jede einzelne Dienstleistung ein Preisschild haben muss. «In der Medizin funktioniert das nicht, weil letztlich ein verbesserter Gesundheitszustand eines Patienten keinen monetären Wert hat», sagt Stalder. Mit anderen Worten: Die gängige Marktlogik lässt sich nicht über ein öffentliches Gut wie das Gesundheitswesen stülpen. Weil man es dennoch versucht, muss das System ständig unter Einbezug aller Beteiligten angepasst werden.
Deshalb steht die Maison de Santé für eine radikale Vereinfachung: Unter einem Dach kommen alle Leistungen zu einem Preis zusammen. Dieser Preis würde mithilfe statistischer Daten für die jeweiligen Behandlungen bestimmt werden.
Doch diese Vereinfachung hat auch eine Schwachstelle. Die Befürchtung ist, dass innerhalb des Netzwerkes so viele Patientinnen wie möglich in kurzer Zeit und ohne die nötige Sorgfalt behandelt werden könnten. Schliesslich besteht nun der Anreiz, weniger kostspielige Therapien durchzuführen.
Zwar gibt es in der ärztlichen Berufsethik das Primat des Patientenwohls. Und schon heute gibt es interne und externe Kontrollen der Finanzströme in Spitälern. Doch laut den Autoren ist eine grundlegende Gesundheitsreform ohne zusätzliche Qualitätskontrolle schlicht nicht denkbar. Nur: Wer soll das machen?
Eine Antwort darauf fand Ökonom Bürgenmeier ausgerechnet in einer Branche, die viele Jahre lang von Fehlanreizen geprägt war und es teilweise noch heute ist: bei den Banken. «Uns schwebt eine Kommission wie die Finma vor, die vom Bundesrat nominiert wird, unabhängig arbeitet und Sanktionen aussprechen kann», sagt Bürgenmeier und fügt schmunzelnd hinzu: «Die aber besser arbeitet als die Finma.»
Diese Gesundheits-Finma, in der auch Patientenorganisationen vertreten sein müssten, würde die Qualität medizinischer Behandlungen kontrollieren, als externe Aufsicht auch die Qualität der Pflege überwachen und jährliche Berichte der Maisons de Santé über deren Struktur- und Verfahrensqualität auswerten. «Zudem bietet sich das Instrument von wissenschaftlich begleiteten, statistisch repräsentativen Patientenbefragungen an», ergänzt Bürgenmeier.
Wie dieser Prozess genau gestaltet ist, darauf haben die Autoren noch keine abschliessende Antwort: «Die Herausforderung wird darin bestehen herauszufinden, wie die personalisierten Interviews geführt werden müssen, damit sie die Verbesserung des Gesundheitszustands der Patienten so gut wie möglich messen», sagt Bürgenmeier. «Schliesslich wissen die Patienten meistens selbst am besten, wie es ihnen, ihren Umständen entsprechend, nach einer Behandlung geht.»
Solidarität
Weiter zu Element 3 und zurück zu Ihrem Bluthochdruck.
Nehmen wir an, die Konsultationen bei Ihrer Ärztin und dem Kardiologen samt Tests kosten zusammen 2000 Franken. Da Sie die höchste Franchise gewählt hatten, 2500 Franken, um bei der Prämie zu sparen, müssen sie nun die gesamten Kosten übernehmen.
Was, wenn Sie die 2000 Franken nicht flüssig haben und das Geld irgendwie zusammenkratzen müssen? Oder anders gefragt: Wie gerecht ist das Schweizer Gesundheitssystem?
Seine Finanzierung ist geprägt von vielen Entscheidungen, die Versicherte treffen müssen. Die folgenschwerste ist wohl jene nach der Höhe der Franchise. Tendenziell wählen Menschen fortgeschrittenen Alters und solche mit Vorerkrankungen eine tiefere Franchise, da sie öfter in Behandlung sind als Jüngere und Gesunde. Gemeinsam mit dem Selbstbehalt erhöht die Franchise die Hürde für einen Arztbesuch.
Der Selbstbehalt macht 10 Prozent oder maximal 700 Franken pro Jahr aus. Die Franchise liegt zwischen 300 und 2500 Franken und wird von den Versicherten selbst festgelegt. Wenn die Franchise erreicht ist, kommt der Selbstbehalt zum Zug.
Eine Studie im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) zeigt, dass inzwischen fast jeder Vierte aus Kostengründen auf einen Arztbesuch verzichtet. Unter den sozial besonders stark Benachteiligten ist es sogar jeder Zweite. Doch wenn sich zunehmend Versicherte für die höchste Franchise entscheiden und ganz auf Arztbesuche verzichten, steigt die Gefahr, dass sie später in einem Spital behandelt werden müssen und deutlich höhere Kosten verursachen.
Deshalb sehen Stalder und Bürgenmeier einen erleichterten Zugang ohne Franchise und Selbstbehalt vor. Dadurch würden zwar wieder tendenziell mehr Menschen zum Arzt gehen, doch in der vernetzten Maison de Santé könnte man laut den Autoren effizienter mit diesen zusätzlichen Konsultationen umgehen.
Etwa wenn Sie nach einem Jahr Ihre Blutdruckwerte mit der Ärztin anschauen wollen, um zu bestimmen, wie es mit der medikamentösen Behandlung weitergehen soll. Im Netzwerk Ihrer Ärztin wäre dann auch Pflegepersonal integriert, das künftig im Auftrag der Ärztin Ihre Werte beobachtet.
«Für uns ist die Franchise ein grosser Teil des Problems», sagt Stalder. «Nachdem sie Politiker immer wieder erhöhen wollten, haben wir die Literatur dazu angeschaut und festgestellt, dass die Kosten letztlich eben nicht sinken, wenn man die Franchise erhöht. Zwar gehen tatsächlich die Arztkonsultationen zurück, aber die Notfallkonsultationen und Spitalaufenthalte steigen.»
«In der politischen Diskussion wird ausgeblendet, dass das System nicht mehr solidarisch ist», ergänzt Bürgenmeier. «Statt immer zu wiederholen, wir hätten das beste Gesundheitswesen der Welt, sollte man den Mut haben, Schwachstellen zu beheben. Die Literatur dazu gibt es ja, wir haben das nicht einfach erfunden.»
Eine der Schwachstellen macht er in der Kopfprämie aus. Im Gegensatz zu allen anderen Ländern Europas leistet sich die Schweiz eine kuriose Eigenheit: Reiche und Arme zahlen die gleiche Prämie. Unterschiede gibt es lediglich beim Alter, Wohnort, Versicherer und Versicherungsmodell.
Wer sich die Prämie nicht mehr leisten kann, wird mit Steuergeldern von Kanton und Bund unterstützt. Diese Ausgaben steigen Jahr für Jahr, laut den aktuellsten Zahlen beläuft sich der Gesamtbetrag auf 5,5 Milliarden oder 630 Franken pro Kopf. Das ist in etwa so viel, wie die Schweiz für die gesamte Landesverteidigung aufbringt. Heute wird jede vierte Person auf diese Weise unterstützt.
Die Prämienverbilligung ist Symptombekämpfung. Für einkommensschwache Versicherte bleibt weiterhin eine finanzielle Hürde: die Mindestfranchise von 300 Franken und der Selbstbehalt von bis zu 700 Franken. Sie müssten also im schlimmsten Fall immer noch 1000 Franken pro Jahr selber bezahlen, wenn sie in Behandlung sind.
Das ist alles andere als gerecht und gilt auch im internationalen Kontext als rückständig: «Wie progressiv ein System ist, hängt (auch) davon ab, wie stark es auf Prämien angewiesen ist und welche Steuern zur Finanzierung verwendet werden», schreibt US-Autor Ezekiel J. Emanuel in seinem eingangs erwähnten Buch. «Im Allgemeinen ist ein System, das sich stark auf eine Kopfprämie stützt, regressiv, weil es für Personen mit niedrigem und mittlerem Einkommen eine grössere finanzielle Belastung darstellt, selbst wenn es einige Subventionen gibt. Die Schweiz ist in dieser Hinsicht möglicherweise das regressivste Land, da sie sich stark auf die Zahlung von Prämien durch Einzelpersonen stützt, die nicht einkommensabhängig sind, mit bescheidenen staatlichen Zuschüssen für Personen mit niedrigem und mittlerem Einkommen.»
Stalder und Bürgenmeier plädieren deshalb nicht nur für einen erleichterten Zugang, sondern auch für eine einkommensabhängige Prämie. Allerdings sind sie nicht die ersten, die das in der Schweiz fordern. Nur war sie in der Vergangenheit nie mehrheitsfähig. So lehnte etwa das Stimmvolk lohnabhängige Prämien 2007 im Rahmen der Volksabstimmung über eine Einheitskrankenkasse ab.
Mit der konstant steigenden Prämienlast erhält die Idee zwar wieder Aufwind. Im Juni dieses Jahres reichten die Grünen im Nationalrat eine Motion zur Abschaffung der Kopfprämien ein. Der Bundesrat empfiehlt sie aber zur Ablehnung. Bürgenmeier und Stalder befürchten, dass es die Idee weiterhin schwer haben wird im Parlament.
Realitätscheck
Wie steht es grundsätzlich um die Chancen eines komplett neuen Gesundheitssystems? Würde das Parlament so weit gehen, die Franchise abzuschaffen und Patientenpauschalen einzuführen?
Barbara Gysi, Nationalrätin und Gesundheitsexpertin der SP, kennt die Ideen und findet sie spannend. Im Ansatz seien sie bereits in die Debatte eingeflossen, sagt sie. Um grosse Pflöcke einschlagen zu können, fehlten aber Mehrheiten: «Die Abschaffung von Franchise und Selbstbehalt hätte die geringsten Chancen. Solche Vorschläge stossen politisch auf wenig Offenheit. Gerade die SVP, die viele Wenigverdienende in der Wählerbasis hat, will Franchise und Selbstbehalt eher noch weiter erhöhen. Und die Mitte tendiert bei Gesundheitsthemen eher nach rechts.»
Selbst Stalder und Bürgenmeier sind sich ziemlich sicher, dass der erleichterte Zugang derzeit chancenlos ist. «Klar wissen wir, dass das nicht durchkommt, es ist utopisch», sagt Stalder. «Aber wir möchten, dass es wenigstens diskutiert wird. Wenn man ständig wiederholt, dass eine höhere Franchise zu tieferen Gesundheitskosten führt, bringt das nichts. Es ist einfach nicht wahr.»
Teilweise schon Realität ist hingegen die Idee der Maison de Santé. Das Krankenversicherungsgesetz erlaubt explizit solche Einrichtungen. Neben dem erwähnten HMO-Modell gibt es in mehreren Kantonen bereits Kooperationen, die noch weiter gehen. Sie haben gemein, dass jeweils Hausärzte, Spezialistinnen, Spitäler und Krankenkassen beteiligt sind. Im Jurabogen startet Anfang Januar ein Projekt einer Klinikgruppe und einer Krankenkasse gemeinsam mit dem Kanton Bern.
Auch Gesundheitsökonom Heinz Locher verfolgt die Entwicklung aufmerksam. Im Modell der Maison de Santé inklusive Patientenpauschale sieht er die Zukunft der Gesundheitsversorgung. Konkret: der niederschwellige Zugang zu ärztlichen Leistungen und die hohe Qualitätsorientierung, die durch den Anreiz entsteht, den Patienten ins Zentrum zu setzen, anstatt Leistungen abzurechnen. In den Details würde er nicht alles eins zu eins übernehmen, aber im Grundsatz bezeichnet er «die philosophischen Gedanken» von Stalder und Bürgenmeier als wertvoll.
Die Menschen werden zwar immer älter, aber nicht gesünder. Die Schweiz finanziert heute Gesundheit nicht nachhaltig. Eine grundlegende Reform wird auf absehbare Zeit nötig. Von den drei Elementen einer vielversprechenden Reform ist eines bereits auf gutem Weg, ein zweites gilt als aussichtsreich und für ein drittes muss noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden.
Wer weiss, vielleicht kann da ein ganz kleiner Schritt schon hilfreich sein. Etwa die Übersetzung dieses Reformvorschlags vom Französischen ins Deutsche. In diesen Tagen haben sich jedenfalls ein Ökonom und ein Mediziner in Genf hingesetzt und damit begonnen.