«Das Problem ist nicht der individuelle Mann, sondern unsere Vorstellung von Männlichkeit»

Unser Blick auf häusliche Gewalt ist von Mythen geprägt, sagt Agota Lavoyer. Die Expertin für geschlechts­spezifische Gewalt über die mächtigste Waffe des Patriarchats und die fatalen Folgen des Schweigens.

Ein Interview von Bettina Hamilton-Irvine (Text) und Ruben Hollinger (Bilder), 05.01.2023

Vorgelesen von Danny Exnar
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«Vergewaltigungs­mythen geraten in unsere Köpfe, ohne dass wir es merken»: Agota Lavoyer.

Frau Lavoyer, Sie haben sich kürzlich sehr geärgert, als SRF Stalking als «Beziehungs­drama» bezeichnete, Täter als «Eifersüchtige». Warum?
Zu sagen, häusliche Gewalt sei ein Beziehungs­problem, ist ein besonders schädlicher Mythos. Daraus lässt sich einerseits ableiten, dass es ohne die Beziehung keine Gewalt gäbe. Andererseits, dass die Gewalt zwischen zwei Menschen auf Augenhöhe passiere. Doch das Problem ist nicht die Beziehung und schon gar nicht das Verhalten des Opfers, sondern die Gewalt ausübende Person. Wenn Medien nun von einem «Beziehungs­drama» schreiben, blenden sie das alles komplett aus. Zu einer Zeit, in der man weiss, dass weltweit jede dritte Frau von einem Mann geschlagen, vergewaltigt oder anderswie misshandelt wird, ist das höchst problematisch.

Was stört Sie an der zweiten Formulierung vom «eifersüchtigen Täter»?
Einen Täter als «Eifersüchtigen» zu bezeichnen, ist eine Verharmlosung, die nicht aufzeigt, wie komplex die Dynamik von häuslicher Gewalt ist. Zudem übernimmt man damit die Perspektive des Täters: Wir alle kennen Eifersucht, können mitfühlen. Doch diese Vorstellung, dass es aus lauter Leidenschaft zu Grenz­überschreitungen kommt, ist sehr gefährlich. Wenn bei der Leserin der Eindruck entsteht, Eifersucht sei die Ursache der Gewalt, wird sie Verständnis für den Täter haben, und das ist fatal.

Boulevard­medien schreiben immer wieder Phrasen wie «Sie musste sterben, weil sie ihn verlassen wollte».
Das ist furchtbar, denn es suggeriert, dass das Verhalten der Frau zur Gewalt geführt hat. Sprache ist Macht, Sprache erschafft unsere Realität. Es gibt Studien, die aufzeigen, wie unterschiedlich Menschen auf Texte reagieren, je nachdem, ob sie aus der Perspektive des Täters oder des Opfers geschrieben wurden. Ein Ergebnis war, wenig überraschend, dass man Empathie mit dem Täter empfindet und Antipathie für das Opfer, wenn ein Text die Täter­perspektive einnimmt. Das zeigt, dass geschlechts­spezifische Gewalt ein strukturelles Problem ist, das immer wieder auch in der Medien­bericht­erstattung verharmlost wird.

Woher kommt das?
Die Medien­bericht­erstattung ist ein Abbild der Denkweise, die in der ganzen Gesellschaft vorherrscht. Viele Medien­schaffende wissen zu wenig über geschlechts­spezifische Gewalt – wie auch wir als Gesellschaft insgesamt zu wenig darüber wissen. Wir alle haben nichts darüber gelernt, weil in unseren Ausbildungen oder in unseren Familien nicht über das Thema gesprochen wurde.

Zur Person

Agota Lavoyer ist Expertin für geschlechts­spezifische Gewalt. Sie hat Soziale Arbeit studiert und war einige Jahre als Schul­sozialarbeiterin tätig, während deren sie berufs­begleitend einen Master of Advanced Studies in systemischer Beratung absolviert hat. Sie war Stellvertretende Leiterin der Fachstelle Opferhilfe bei sexualisierter Gewalt und hat später die Opferhilfe­stelle des Kantons Solothurn aufgebaut. Heute ist sie selbstständig als Dozentin, Referentin, Buch­autorin und Kolumnistin. Sie lebt mit ihrem Partner und ihren vier Kindern in der Nähe von Bern.

Was können Medien besser machen?
Die Istanbul-Konvention sagt ganz klar, dass es verpflichtende Aus- und Weiter­bildungen zu geschlechts­spezifischer Gewalt für alle Berufs­gruppen braucht, die potenziell mit dem Thema zu tun haben – also auch Medien­schaffende. Angesichts dessen, wie gross das Ausmass der geschlechts­spezifischen Gewalt ist, haben Medien eine Verantwortung, die Komplexität aufzuzeigen. Wer den Anschein erweckt, es gehe nur um Einzelfälle oder, noch schlimmer, um Beziehungs­probleme, tut das nicht. Anderes Beispiel: Es ist verheerend, wenn ein Magazin titelt: «Lehrerin hat Sex mit 13-jährigem Schüler». Es gibt einfach keinen Sex zwischen einer erwachsenen Person und einem 13-jährigen Kind, solche Handlungen sind immer sexualisierte Gewalt.

Verharmlosende Begriffe können auch dazu führen, dass falsche Vorstellungen zu geschlechts­spezifischer Gewalt weiter­getragen werden. Welche Mythen sind besonders verbreitet?
Im Kontext von sexualisierter Gewalt ist eine der mächtigsten Waffen des Patriarchats der Mythos der Frau, die lügt. Das Narrativ, dass Frauen überdurchschnittlich oft lügen würden, wenn es um sexualisierte Gewalt geht.

Es heisst dann: Die will bloss Aufmerksamkeit bekommen.
Sie will Aufmerksamkeit, sie macht sich wichtig, sie will Geld, sie will sich rächen: Das sind alles Argumente, die man innerhalb von Sekunden widerlegen kann. Denn im Zusammen­hang mit sexualisierter Gewalt gibt es für die Opfer höchstens negative Aufmerksamkeit, sie werden für die Tat mitverantwortlich gemacht oder es wird ihnen vorgeworfen, das Leben des Täters zerstören zu wollen, und Geld gibt es sowieso keines. Aber das Narrativ der Frau, die oft lügt, ist weitverbreitet. Ich habe es auch schon von Kindern gehört.

Von Kindern?
Ja. Zu der Zeit, als der Fussballer Neymar vor drei Jahren von einer Frau angeschuldigt wurde, sie vergewaltigt zu haben, war ich mit meinem 8-jährigen Sohn an einem Flohmarkt unterwegs. Mein Sohn ist ein grosser Fussballfan und wollte unbedingt ein Neymar-Shirt. Ich versuchte ihm zu erklären, wieso es mir wichtig sei, dass er jetzt gerade nicht dieses Shirt nimmt. Worauf er zu mir sagte: «Mama, diese Geschichte stimmt so gar nicht. Das habe ich im ‹Bravo Sport› gelesen.» Tatsächlich war der betreffende Artikel so formuliert, dass man den Eindruck gewann, die Frau lüge. Für mich zeigt das exemplarisch, wie solche Vergewaltigungs­mythen entstehen. Sie werden am Stammtisch weiter­gereicht, in der Familie, in den Medien – und geraten so in unsere Köpfe, ohne dass wir es merken.

Wie haben Sie auf die Aussage Ihres Sohns reagiert?
Ich habe ihm erklärt, dass wir zwar alle nicht wissen, was tatsächlich geschehen ist. Aber dass man weiss, dass es sehr wenig Falsch­anschuldigungen gibt. Ich habe ihm erklärt, was ein Mythos ist und dass die Idee, Frauen würden halt oft lügen, sehr frauen­feindlich ist. Ich war letztlich froh um diese Situation, weil es enorm wichtig ist, dass wir mit unseren Kindern über solche Themen sprechen.

Was sind weitere Mythen zu geschlechts­spezifischer Gewalt?
Dass bei einer echten Vergewaltigung rohe physische Gewalt angewandt wird und dass eine Vergewaltigung mit sexuellen Trieben zu tun hat. Diese Narrative kennt man nicht zuletzt auch aus Filmen.

Ein fremder Mann, der eine Frau überfällt …
Genau, in der Regel ein Psychopath, ein Fremder. Das sind täterbezogene Mythen, mit denen man Täter entlastet und dieses Thema weit von sich fernhält. Man kann sich so selbst versichern: In meinem Umfeld, meiner Familie gibt es keine Psychopathen, also hat das alles nichts mit mir zu tun.

Gehört auch die Vorstellung zu den Mythen, dass eine Frau nach einem echten sexuellen Übergriff sofort Anzeige erstattet?
Da sind wir dann bei den opferbezogenen Mythen. Dazu gehört auch die Vorstellung, dass die Frau zwar eingewilligt, es später aber bereut habe. Oder: Sie habe zwar Nein gesagt, aber eigentlich Ja gemeint. Die Schuld sei also bei der Frau gelegen, die unklar kommuniziert habe. Medien­bericht­erstattung suggeriert zudem oft, dass das Verhalten einer Frau Gewalt auslösen könne. Was bei der Leserin unbewusst ankommt, ist: Hätte sie sich anders verhalten oder anders gekleidet, wäre es nicht zu Gewalt gekommen. Auch viele Betroffene sind überzeugt, dass sie mitschuldig sind, weil sie ebenfalls so geprägt sind. Das ist verheerend, weil es dazu führt, dass sie lange keine Unter­stützung suchen, sich schämen, sich schuldig fühlen.

Und oft auch erst viel später oder gar keine Anzeige erstatten?
Ja, das ist ein Grund dafür. Der andere sehr relevante Grund ist – und dort wäre die Prävention in der Pflicht –, dass viele Menschen Gewalt gar nicht als solche erkennen. Eine Studie des Bundes hat kürzlich ergeben, dass es bereits in jugendlichen Beziehungen relativ viel häusliche Gewalt gibt. Wobei viele Jugendliche die Gewalt nicht als solche erkennen, was ein grosses Problem ist. Wenn man sie nach häuslicher Gewalt fragt, nennen sie fast ausschliesslich physische Gewalt. Soziale, sexualisierte oder psychische Gewalt hingegen wird oft nicht als solche erkannt.

Wie definieren Sie Gewalt?
Physische Gewalt ist am einfachsten zu verstehen. Dass Schläge Gewalt sind, ist allen klar. Aber das erfasst längst nicht die ganze Komplexität häuslicher Gewalt. Es ist beispielsweise eine Form von wirtschaftlicher Gewalt, wenn das Opfer kein Geld hat, keinen Zugang zum Familienkonto. Jemanden kontrollieren und isolieren ist soziale Gewalt. Jemanden demütigen und abwerten ist psychische Gewalt. Weitermachen mit sexuellen Handlungen, obwohl das Gegenüber «Stopp» sagt, ist sexualisierte Gewalt. Die Studie über Gewalt in jugendlichen Beziehungen zeigte, dass viel Gewalt unter dem Deckmantel von Fürsorge geschieht. Im Sinne von: «Weil mein Freund mich so sehr liebt, wollte er, dass ich diese App installiere, damit er immer weiss, wo ich bin.» Wenn niemand mit Jugendlichen spricht und ihnen sagt, dass Kontrolle auch Gewalt ist, woher sollen sie es wissen?

Wo fängt sexuelle Belästigung an?
Sexuelle Belästigung ist nicht nur das unerwünschte Anfassen, auch anzügliche Blicke oder Catcalling gehören dazu. Aber selbst bei massiven Übergriffen ist es den Opfern nicht immer klar, dass das Gewalt war.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Als ich noch bei der Opferhilfe arbeitete, suchte einmal eine junge Frau Hilfe, die vergewaltigt worden war. Sie erzählte mir, dass der Mann danach aufgestanden sei und ihr einen Tee gekocht habe. Das hat sie extrem irritiert. Denn in den Filmen sind Vergewaltiger doch Monster, die nach der Tat bestimmt nicht Tee servieren? Die Frau zu verunsichern, ist eine clevere Täter­strategie: Denn wenn nicht einmal die Frau sicher ist, ob es eine Vergewaltigung war, dann war es bestimmt keine.

Was macht das mit den Betroffenen?
Sie werden verkannt. Was dazu führt, dass sie oft ganz lange brauchen, um zu realisieren, wieso es ihnen so schlecht geht, wieso sie Panik­attacken haben. Nicht weil sie spinnen oder übersensibel sind oder ausgebrannt bei der Arbeit, sondern wegen dieses Ereignisses vor drei Jahren. Und dieses Ereignis muss als Gewalt erkannt und benannt werden. Denn was man nicht benennt, gibt es nicht. Und wo kein Opfer, dort kein Täter und keine Tat.

Sie haben Catcalling erwähnt, etwas, was wohl fast alle Frauen schon erlebt haben. Das entsprechende Kapitel im Buch «Die Erschöpfung der Frauen» von Franziska Schutzbach hat mir nochmals verdeutlicht, wie übergriffig das Ganze ist. Trotzdem habe ich es, als mir kürzlich ein Mann hinterher­rief, erneut ignoriert. Gäbe es eine bessere Reaktion?
Diese Frage wird mir oft gestellt. Aber es ist die falsche Frage. Denn jede Reaktion ist adäquat: ignorieren, möglichst schnell weitergehen, etwas entgegnen oder anschreien. Was nicht adäquat ist, ist das Verhalten des Mannes. Aber wir fokussieren instinktiv wieder auf die Reaktion des Opfers. Oft heisst es: Wenn du nichts sagst, dann wird sich nie etwas ändern. Dabei stimmt das natürlich nicht, denn meine Reaktion wird das Problem Catcalling nicht lösen und mich vielleicht noch zusätzlich in Gefahr bringen. Ich würde mir wünschen, dass Personen, die das Catcalling mitbekommen, den Täter zurecht­weisen und der betroffenen Person Hilfe anbieten.

Frauen wird auch gern gesagt, das sei doch nicht so schlimm, das sei schliesslich als Kompliment gemeint.
Catcalling ist weder ein Kompliment noch ein Flirt, es ist eine Form von Gewalt. Doch obwohl Frauen sich dabei instinktiv unwohl fühlen, wird ihnen von jung auf vermittelt, dass sie ihrer Wahrnehmung nicht trauen können: Du übertreibst, bist kompliziert, bist übersensibel. Das verunsichert und führt dazu, dass Frauen in die Verantwortung genommen werden und nicht Männer.

Kürzlich hat das unabhängige Expertinnen-Gremium des Europarats untersucht, wie die Schweiz die Istanbul-Konvention umsetzt. Das Ergebnis: Es wird zu wenig gegen geschlechts­spezifische Gewalt getan.
Einer der wichtigsten Punkte dieses Berichts war: Die Schweiz benennt geschlechts­spezifische Gewalt nicht als solche. Als Simonetta Sommaruga einmal sagte, Gewalt sei ein Männer­problem, gab es einen Shitstorm. In der Schweiz ist es ein Tabu, zu fragen: Was hat Gewalt mit dem Geschlecht zu tun? Dabei weiss man: Ohne Gleich­berechtigung kommen wir nicht in eine gewaltfreie Gesellschaft, und solange es so viel Gewalt gibt, werden wir nicht gleich­berechtigt leben können.

Aus Sicht der Europarat-Experten müsste die Schweiz also mehr unternehmen gegen geschlechts­spezifische Gewalt. Was sind die grössten Probleme?
Ich gehe mit allem einig, was im Bericht steht. So ist zum Beispiel der Föderalismus ein Problem in der Schweiz. Der Umgang mit geschlechts­spezifischer Gewalt ist von Kanton zu Kanton verschieden – man hat Glück oder Pech, je nachdem, wo man wohnt. Ob man bei einer Polizistin landet, die eine Aus- oder Weiterbildung absolviert hat zu geschlechts­spezifischer Gewalt, ist Glück oder Pech. Ob man eine Sexual­bildung hat, die diesen Namen verdient, ist Glück oder Pech. Der Bericht kritisiert zudem die fehlenden Ressourcen. So wurden zwar kürzlich zwei Millionen Franken für eine nationale Präventions­kampagne gegen Gewalt bewilligt, aber das reicht hinten und vorne nicht. Zusammengefasst kann man sagen: Es fehlt der politische Wille, das Problem der geschlechts­spezifischen Gewalt als das zu sehen, was es ist. Und es ernsthaft anzugehen.

Sie betonen die Geschlechts­perspektive stark. Wieso ist sie so wichtig?
In der Schweiz wird so getan, als hätten häusliche Gewalt und sexualisierte Gewalt nichts mit patriarchalen Haltungen zu tun, mit Männlichkeits­vorstellungen, mit Geschlechter­stereotypen. Die häufigste Kritik, die an mich gerichtet wird in meiner täglichen Arbeit, kommt von Männern, die nicht bereit sind, zu akzeptieren, dass es geschlechts­spezifische Gewalt gibt. Aber man darf nicht ausblenden, dass Gewalt von Männern eine der grössten Gefahren für Frauen weltweit ist – und das ist kein Zufall. Das Problem ist nicht der individuelle Mann, sondern unsere Vorstellung von Männlichkeit.

Woher kommt die?
Unsere Vorstellung von Männlichkeit ist vom Patriarchat geprägt und wird uns schon von klein auf vermittelt: Es ist zum Beispiel akzeptiert, dass Männer ihre Hilflosigkeit mit Dominanz und Gewalt übertünchen. Wenn wir in einem Film einen wütenden Mann sehen, wirft dieser einen Stuhl an die Wand. Wir lernen daraus: So geht ein Mann mit seiner Wut um. Frauen hingegen weinen, sind traurig, verletzen sich selber, ziehen sich zurück – auch das ist ein patriarchal geprägtes Bild von Weiblichkeit. Es gibt auch diese Vorstellung, dass Männer viel mehr Lust auf Sex haben und aufgrund des Testosterons viel mehr Aggressions­potenzial. Diese ganzen biologistischen Erklärungen sind sehr breit akzeptiert, obwohl der Hormon­spiegel nichts über das Aggressions­potenzial oder das Frauenbild eines Menschen aussagt. Deshalb ist der feministische Diskurs so wichtig. Nur wenn wir diesen Vorstellungen entgegen­wirken, kommen wir weiter.

Wie entsteht geschlechts­spezifische Gewalt?
Wenn Kinder ihre Identität entwickeln, orientieren sie sich an Geschlechter­stereotypen. Gerade Buben lernen, sich stark von Mädchen abzugrenzen: Mann sein heisst, nicht Frau zu sein. Und demnach auch keine weiblich konnotierten Eigenschaften zu haben: nicht gefühlvoll sein, hilfsbereit, nett, lieb, weich, fürsorglich. Sondern stark. Und diese Stärke muss man verteidigen, notfalls mit Gewalt. Die hegemoniale Männlichkeit herrscht vor, und darauf fusst das Patriarchat. Alles, was von diesem Männlichkeits­bild abweicht, wird abgewertet und erfährt über­durchschnittlich viel Gewalt: Frauen, aber auch schwule Männer oder trans Personen. Wenn wir Buben beibringen, dass sie stark sein müssen und Schwäche etwas Negatives ist, dann werden sie so aufwachsen, dass sie als hetero­sexuelle Männer Schwäche verabscheuen: Frauen lieben und gleichzeitig weibliche Eigenschaften ablehnen. Das ist, vereinfacht gesagt, die Ursache des Problems.

Auch Männer werden Opfer von Gewalt.
Ja, auch Männer leiden unter Gewalt – häufig von anderen Männern. Das vorherrschende Problem ist also immer noch Männer­gewalt. Und auch Buben werden Opfer von sexualisierter Gewalt, wenn auch deutlich weniger oft als Mädchen. Aber auch dort sind die Täter in aller Regel Männer. Deshalb müssen wir toxische Männlichkeit in den Fokus nehmen.

Kürzlich hat sich der Nationalrat im Rahmen der Revision des Sexual­strafrechts für das Konsens­prinzip ausgesprochen, auch bekannt als «Nur Ja heisst Ja». Sie haben sich stark dafür engagiert. Wieso?
Im Kontext von sexualisierter Gewalt gibt es diese Vorstellung, die sich auch in der Debatte um das neue Sexual­strafrecht zeigt: dass Frauen verfügbar sind für Sex, solange sie nicht Nein sagen. Damit zementiert man gefährliche Geschlechter­stereotype: Sex ist etwas, was dem Mann zusteht, auf das er ein Recht hat. Umso erfreulicher ist, dass der Nationalrat sich jetzt für das Konsens­prinzip ausgesprochen hat.

«Man kann nicht einmal ein Ja abholen und dann ist das Ganze für den Rest des Abends geritzt»: Agota Lavoyer.

Die andere Variante wäre die «Nein heisst Nein»-Lösung, bei der eine Vergewaltigung im Unterschied zu heute nicht nur dann als solche gälte, wenn der Täter Gewalt anwendet, sondern auch, wenn er den Widerspruch des Opfers ignoriert.
Auch die Vetolösung ist eine riesige Verbesserung gegenüber dem Status quo. Aber dahinter steht immer noch die Haltung: Sex ist ein Gut, auf das man ein Recht hat, solange niemand widerspricht. Zudem zementiert diese Lösung das Narrativ von der stillschweigenden Zustimmung. Aber Schweigen ist nicht Konsens, Passivität ist nicht Konsens. Entsprechend würden nicht alle Fälle von Gewalt erfasst. Wenn jemand nicht Nein sagen konnte, würde das nicht als Vergewaltigung erfasst. Damit lässt man einen Teil der Opfer im Stich und entlastet die Täter.

Welche Gründe gibt es, dass Opfer nicht Nein sagen können?
Es kann sein, dass das Opfer überfordert ist oder nicht versteht, was geschieht. Dass ein Macht­gefälle besteht. Oft ist Angst der Grund. Einige Opfer befürchten, wenn sie sich wehren oder Nein sagen, werde es noch schlimmer. Da ist der Gedanke: Wenn ich jetzt interveniere, wozu ist er noch fähig? Diese Opfer haben nicht Nein gesagt, aber in keiner Art und Weise zugestimmt.

Oft hört man von einer Schockstarre.
Die physische Lähmung in einer Schock­situation ist eine Realität. Es gibt Menschen, die vor Angst physisch unfähig sind, sich zu wehren oder ihre Stimme zu benutzen. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum Frauen nicht Nein sagen können.

Was sagen Sie zum Argument, bei einer «Nur Ja heisst Ja»-Lösung müsse man wohl vor jedem sexuellen Kontakt eine schriftliche Einwilligung einholen, um sicher­zustellen, dass man später nicht verurteilt werde?
Das ist ein dummer und vor allem entlarvender Einwand. Einerseits macht man sich damit lustig über den ganzen Diskurs, hört nicht zu und anerkennt das Problem nicht. Wenn jemand nicht weiss, wie man im Bett Konsens herstellen kann, ohne dazu einen Vertrag abzuschliessen, dann muss er noch viel lernen. Dazu kommt, dass Konsens keine einmalige Sache ist, sondern laufend hergestellt werden muss und sich verändern kann. Man kann nicht einmal ein Ja abholen und dann ist das Ganze für den Rest des Abends geritzt. Die Aussage zeigt also vor allem, dass diese Person Konsens nicht wichtig findet.

Ist das ein weit­verbreitetes Problem?
Eine Sotomo-Studie vom November 2021 zeigt, dass mehr als ein Drittel der Männer in der Schweiz es unklar findet, wann Sex einvernehmlich ist und wann nicht. Das ist für mich die Alarmstufe Hochrot. Und heisst: Wir brauchen mehr Sexual­bildung, mehr Ressourcen. Sonst wird das Ausmass sexualisierter Gewalt nicht abnehmen.

Manche Männer finden es nicht sexy, vor dem Sex zuerst eine Zustimmung einholen zu müssen. Sie aber sagen: Es gibt nichts Erotischeres.
Es ärgert mich, dass die Gegenseite es geschafft hat, Sprechen über Konsens so negativ zu konnotieren. Man könnte es auch sehr positiv besetzen: Es ist doch unglaublich erotisch, wenn dir eine Frau sagt, was sie will. Eigentlich ist Dirty Talk ja sogar eine Männer­fantasie. Für mich ist klar, es gibt nichts Erotischeres als ein Ja: Ja, ich will, ja, das gefällt mir, ja, mach das. Konsens macht die Erotik nicht kaputt, er ermöglicht sie.

Auch im Zusammenhang mit #MeToo hörte man immer wieder von verunsicherten Männern. Gemäss einer neueren Studie wollen Akademiker aus diesem Grund nicht mehr mit jüngeren Frauen zusammen­arbeiten.
Wenn ein Mann sagt, er wisse gar nicht mehr, was man dürfe und was nicht, heisst das nichts anderes als: Ich habe null Bock, euch zuzuhören, ich habe null Bock, mich mit dem Thema auseinander­zusetzen. Aber auch: Ich bin nicht bereit, meine Deutungs­hoheit darüber abzugeben, wann etwas übergriffig ist und wann nicht. Männer sind es seit Hunderten von Jahren gewohnt, dass sie definieren, welches Verhalten okay ist und welches nicht. Im Zuge von #MeToo kommen nun plötzlich Frauen in die breite Öffentlichkeit, die sagen: Jetzt wollen wir die Deutungs­hoheit. Ich finde es bezeichnend, dass sich gewisse Männer vor allem Sorgen darüber machen, wie #MeToo ihre persönliche Freiheit einschränken könnte, statt dass sie sich darüber sorgen, was uns #MeToo aufzeigt.

Und wenn ein Mann wirklich nicht weiss, wie er sich verhalten soll?
Dann ist das eine enorm wichtige Erkenntnis. Dann soll er in eine Beratung gehen, mit Freundinnen oder Kolleginnen sprechen, anfangen zuzuhören. Aber darum geht es in der Regel nicht. Sondern um die Haltung: Das ist nicht mein Problem.

Was entgegnen Sie Männern, die sich auf den Stand­punkt stellen, sie würden seit #MeToo alle «unter General­verdacht gestellt»?
Hier hilft vielleicht der Vergleich mit Rassismus. Auch hier geht es nicht um einen General­verdacht, sondern darum, dass wir als weisse Personen alle rassistisch sozialisiert wurden. Ich auch. Ich weiss es, ich ertappe mich heute noch und schäme mich zutiefst für gewisse Gedanken. Aber ich erkenne sie und kann sie ummünzen und People of Color unterstützen, die sich engagieren. Wer von einem General­verdacht spricht, denkt egoistisch. Wenn Frauen über Gewalt sprechen, sollen sie demnach vor allem auf die Gefühle der Männer Rücksicht nehmen.

Hat #MeToo denn etwas verändert?
Ja. #MeToo, wie auch diverse andere feministische Diskurse, hat ganz viel verändert. Dass der Nationalrat über Konsens spricht und Ja sagt zur Maximal­lösung von «Nur Ja heisst Ja» im Sexual­strafrecht …

… das wäre vor fünf Jahren noch nicht vorstellbar gewesen.
Unmöglich. Ich war vor drei Jahren im SRF-«Club» und habe mit SP-Ständerat Daniel Jositsch gestritten. Er sagte: Wir brauchen nicht einmal ein «Nein heisst Nein», wir brauchen gar keine Veränderung zum aktuellen Sexual­strafrecht. #MeToo hat sehr viel bewirkt, weil man dem Thema nicht mehr ausweichen kann. Gerade auch für Betroffene, die merken: Ich bin nicht allein. Auch in den Opfer­beratungen haben wir gemerkt, dass die #MeToo-Bewegung viele darin bestärkt hat, sich Hilfe zu suchen.

Und doch hatte man manchmal das Gefühl, es habe sich nichts verändert. Beispielsweise, wenn man den Prozess zwischen Johnny Depp und Amber Heard verfolgte und die Explosion von Online-Misogynie, die er auslöste.
Das ist ein wichtiger Punkt. #MeToo hat viel bewirkt, aber es hat vor allem der Öffentlichkeit aufgezeigt, wie riesengross das Problem ist. Das heisst aber noch lange nicht, dass auch Massnahmen ergriffen wurden. Ich wurde in den letzten Jahren oft gefragt, ob ich nicht überrascht sei, dass dieser Vergewaltigungs­fall oder jene Belästigung nach #MeToo noch möglich sei. Aber #MeToo löst das Problem nicht. Es braucht die richtigen Massnahmen.

Die wären?
Die Gewalt­prävention hat in den letzten Jahrzehnten nicht funktioniert, weil sie sich immer an die Opfer richtet. Die Kantons­polizei St. Gallen beispielsweise hat einen Ratgeber heraus­gegeben, der Frauen Tipps gibt, wie sie sich vor Übergriffen schützen können. Ihnen wird geraten, nicht zu viel Alkohol zu trinken oder nicht nach Hause zu «huschen», weil sie dann eher Opfer von Gewalt werden. Da steckt wieder dieses Denken dahinter: Frauen provozieren Männer zu Gewalt, deshalb müssen sie ihr Verhalten ändern, um kein Opfer zu werden.

Wenn sich die Männer nicht ändern, müssen sich halt die Frauen anpassen.
Das ist eine sehr weit verbreitete Haltung, schon bei Kindern: «Boys will be boys», Buben sind halt so. Die können nicht anders. Diese Einstellung, dass das Verhalten von Männern unveränderbar sei und deswegen die Mädchen ihr Verhalten anpassen müssen, ist höchst patriarchal. So halten wir die ganzen patriarchalen Macht­strukturen aufrecht und kommen auch in Sachen geschlechts­spezifischer Gewalt nicht weiter.

Was wäre die bessere Botschaft?
Statt immer nur die jungen Frauen aufzufordern, ihr Getränk zu schützen, sollte man den jungen Männern mit der gleichen Vehemenz sagen: Wenn du merkst, dass dein Kollege K.-o.-Tropfen googelt oder wenn er frauen­abwertende Witze macht, dann sprich mit ihm, such Hilfe. Statt den Mädchen an den Schulen Kleider­vorschriften zu machen und sie in den Selbst­verteidigungs­kurs zu schicken, sollten wir mit Schülern zu Sexismus arbeiten. Das wäre echte Prävention. Unsere aktuelle Prävention funktioniert nicht, weil wir nur immer das Verhalten der Opfer studiert haben, um daraus abzuleiten, wie andere sich verhalten sollen, um nicht Opfer zu werden. Aber so werden wir das Problem nicht lösen. Mit anderen Worten: Die Geschlechts­perspektive muss zwingend mit einbezogen werden, sonst werden wir die Gewalt nie verhindern können.

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