Ja, klar

Das Parlament hat endlich eine Lösung für die Modernisierung des Sexual­strafrechts gefunden. Was aussieht wie ein Kompromiss, ist eine kleine Revolution. Chronik einer feministischen Erfolgs­geschichte.

Von Carlos Hanimann, 08.03.2023

Vorgelesen von Egon Fässler
0:00 / 21:11

Journalismus, der Ihnen hilft, Entscheidungen zu treffen. Und der das Gemeinsame stärkt: die Freiheit, den Rechtsstaat, die Demokratie. Lernen Sie uns jetzt 21 Tage lang kostenlos und unverbindlich kennen:

Anne Gabriel-Jürgens
Anne Gabriel-Jürgens
Kampf und klare Worte lohnen sich: Bilder vom Frauenstreik am 14. Juni 2021.

Man könnte sagen, alles begann mit einem Fehler. Oder mit der Korrektur.

Nora Scheidegger hatte das Thema für ihre Dissertation bereits eingereicht, als sie es sich noch einmal anders überlegte: Sie hätte über «restaurative Justiz» schreiben wollen – über ein Gerechtigkeits­verständnis, das weniger auf Strafe und Täter fokussiert und mehr auf Wieder­gutmachung für die Opfer. Ein spannendes Feld, findet Scheidegger noch heute. Aber fast zu gross für eine Doktorarbeit.

Sie schrieb 2014 ihrem Professor, sie habe eine andere Idee. Vergewaltigungen, schrieb Scheidegger, seien nicht in erster Linie Gewalt­delikte, sondern Delikte gegen die sexuelle Selbst­bestimmung.

Das klang nach einem technischen, fast unbedeutenden Unterschied. Aber er barg eine Revolution. Denn nach dieser Lesart wäre bei einer Vergewaltigung nicht mehr wichtigstes Kriterium, ob und wie sehr ein Täter das Opfer zu einer sexuellen Handlung zwingt, sondern dass er vorgängig nicht das Einverständnis holte. Sex ohne Konsens ist kein Sex, sondern ein Verbrechen.

Vier Jahre später gab Scheidegger ihre Doktorarbeit in Druck: «Das Sexualstrafrecht der Schweiz. Grundlagen und Reform­bedarf.» Es ist ein tatsächliches Grundlagen­werk. Man muss es heute als Blaupause verstehen für einen Aufstand, der in diesen Tagen im Sturz eines überholten Regimes mündet.

Der Durchbruch

Am Dienstag hat der Ständerat nach monate­langem Zerren einer Lösung zugestimmt, die das Schweizer Sexual­strafrecht modernisiert. Manche Parlamentarierinnen nennen sie «Nein heisst Nein plus plus», es ist eine Widerspruchs­lösung mit zwei Erweiterungen.

Bis heute gilt im Sexual­strafrecht, dass ein Opfer sich gewehrt haben muss, damit das Gericht das Delikt als Vergewaltigung ahndet. Und selbst das reicht in der Praxis nicht immer. Wenn nun der Nationalrat in der kommenden Session im Juni dem Ständerat folgt (er war bislang für die weitergehende Zustimmungs­lösung «Ja heisst Ja»), bedeutet das konkret: Künftig reicht ein «Nein» der Betroffenen, dass eine Vergewaltigung strafrechtlich anerkannt und geahndet werden kann.

Es ist aber nicht mehr zwingende Voraussetzung, das ist das erste «Plus». Es anerkennt die Tatsache, dass viele Betroffene bei einem Übergriff freezen, im Schock erstarren – und behebt damit die grösste Schwäche der Widerspruchs­lösung. Das zweite Plus betrifft die Therapie­arbeit mit Tätern. Man weiss, dass Täter fast nie nur einmal übergriffig werden. Hier setzt die Prävention an, die neu im Gesetz stehen soll.

Ich will es genau wissen: Wie das Sexual­strafrecht modernisiert wird

Ein Sexualdelikt wird gemäss heutiger Rechtslage nur dann als Vergewaltigung geahndet, wenn der Täter das Opfer nötigt und es zu Geschlechts­verkehr zwingt. Zwar ist der Nötigungs­begriff relativ weit gefasst. Dennoch ist mittlerweile breit anerkannt, dass die Recht­sprechung vom Opfer erwartet, dass es sich wehrt. Das widerspricht den Erfahrungen in der Realität und lässt aussen vor, dass Betroffene häufig freezen, also nicht widersprechen oder sich wehren können. Aber selbst wenn sich Betroffene wehren, ist gemäss heutiger Rechtslage nicht in jedem Fall gewährleistet, dass das Gericht das als ausreichend anerkennt, wie die Juristin Nora Scheidegger und die Opfer­beraterin Agota Lavoyer in einem wissenschaftlichen Beitrag gezeigt haben.

Unter anderem deshalb gilt das heutige Sexual­strafrecht als veraltet.

Umstritten ist nun, ob das Gesetz sich an der Zustimmung der Sexual­partner ausrichten soll («Ja heisst Ja») oder am Widerspruch einer Person («Nein heisst Nein»). Aus der Istanbul-Konvention, die die Schweiz ratifiziert hat, leitet sich eine Zustimmungs­lösung ab: Nur wenn die Sexual­partner ihr Einverständnis gegeben haben, verbal oder nonverbal, gilt der Sex als einvernehmlich.

National- und Ständerat waren in dieser Frage lange gespalten. Der Ständerat hat sich nun bewegt: Zwar hält er nach wie vor an einer Widerspruchs­lösung fest, aber er anerkennt, dass dies häufig nicht ausreicht und Fälle von Freezing nicht einschliesst. Darum soll in Fällen von Freezing kein Nein vorausgesetzt werden. Zudem soll die Therapie­arbeit im Gesetz verankert und sollen damit auch Ressourcen für die Prävention eingesetzt werden. Laut Expertinnen unterscheidet sich die ständerätliche Widerspruchs­lösung mit Erweiterungen in der Praxis fast nicht von einer Zustimmungs­lösung.

Der Nationalrat wollte bisher eine Zustimmungs­lösung, dürfte nun aber dem Ständerat folgen. Andernfalls würde die Vorlage eine weitere Runde drehen und erst im Herbst verabschiedet – oder gar erst nach den Parlaments­wahlen.

«Das gesellschaftliche Selbst­verständnis hat sich in wenigen Jahren komplett verändert», sagt Juristin Scheidegger fast ungläubig.

Als sie ihre Dissertation 2018 abgab, dachte sie, die Einführung der «Nein heisst Nein»-Regel wäre eine Revolution. Die «Ja heisst Ja»-Regel war nicht mal denkbar. Und jetzt also etwas zwischen Revolution und undenkbar. «Es ist», sagt Scheidegger, «henne crazy

Die Wissenschaft

Als die Berner Juristin an ihrer Doktor­arbeit schrieb, fühlte sie sich manchmal sehr einsam. Sie war zwar nicht die Erste und nicht die Einzige, die das Schweizer Sexual­strafrecht als rückständig kritisierte. Sie war überzeugt, dass das geltende Recht den Opfern nicht gerecht wurde und die Gesetze geändert werden mussten. Und auf Papier pflichtete ihr die offizielle Schweiz bei. Sie hatte im Frühling 2018 die sogenannte Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen ratifiziert und musste demnach das Recht auf sexuelle Selbst­bestimmung umfassend schützen.

Aber warum vernahm man nicht mehr Kritik an der herrschenden Ordnung? Warum prangerte niemand höchst­richterliche Urteile an wie das im Fall 6B_912/2009?

Dieser Fall hatte Scheidegger ursprünglich angetrieben, ihre Dissertation über das Sexual­strafrecht zu schreiben. Das Bundesgericht anerkannte dabei, dass eine Frau sich mit Worten wehrte, als ein Mann gegen ihren Willen Sex mit ihr hatte. Als Vergewaltigung stufte es diese Tat aber nicht ein. In der Praxis stimmte eben nicht, was renommierte Strafrechtler behaupteten: dass das «Nein» einer Betroffenen für den Tatbestand Vergewaltigung reiche und dass eine Reform unnötig sei.

Man muss sich noch mal vergegenwärtigen, wo die Debatte um sexualisierte Gewalt vor wenigen Jahren stand.

Die SRF-Sendung «10 vor 10» fragte das Publikum 2019: «Soll künftig das Gesetz verlangen, dass beide Partner mit Sex einverstanden sein müssen?» Die NZZ hatte 2018 geschrieben: «Am sichersten wäre es, man unterschriebe am Küchentisch einen Vertrag, bevor man sich ins Schlafzimmer begibt.» Und statt das Sexual­strafrecht grundsätzlich zu überdenken, debattierten Schweizer Juristen damals lieber, wie Gesetzes­artikel umformuliert werden müssten, damit auch Männer als Opfer einer Vergewaltigung eingeschlossen würden.

«Man diskutierte, ob die Farbe des Fenster­ladens etwas vergilbt sei», sagt Nora Scheidegger rückblickend, «aber merkte nicht, dass das ganze Haus schief stand.»

In der Republik erklärte sie den grundlegenden Konstruktions­fehler im Gesetz damals so: «Ich darf Ihnen das Handy nicht einfach wegnehmen. Das ist Diebstahl. Sie müssen nicht Nein sagen, Sie müssen auch nicht um Ihr Handy kämpfen. Es ist an mir, zu fragen, ob ich es nehmen darf. Warum soll das im Sexual­strafrecht nicht gelten?»

Die Kampagne, Teil 1

Lange war die Reform des Sexual­strafrechts ein politisches Randthema. Eifrig stritten nur Strafrechtler und Anwältinnen. Und konservative Stimmen der Schweizer Politik bis weit ins linke Lager hinein versuchten, eine hitzige Debatte wie in Deutschland gar nicht erst aufkommen zu lassen. Sie taten jede Modernisierung ab als entweder utopisch oder gefährlich.

Das änderte sich, als sich Amnesty International im Herbst 2018 einschaltete. Die Menschenrechts­organisation tat, worin sie fast unschlagbar ist: Sie trug das Thema aus der Nische auf die Bühne, von der Seitengasse auf den Boulevard. Mainstreaming nennen das die Fachleute.

Dass das gelang, lag im Wesentlichen an vier Dingen: Amnesty war ein glaubwürdiger Absender. Amnesty recherchierte Zahlen. Amnesty erzählte Geschichten. Und Amnesty hatte Noemi Grütter.

Grütter war 23-jährig, stammte aus Dallenwil in Nidwalden, eine der konservativsten Ecken der Schweiz, hatte in Genf und Paris studiert, war als Menschenrechts­aktivistin auf Frauen­rechte spezialisiert. Sie fing damals gerade als Praktikantin bei Amnesty Schweiz an und suchte mit dem Kampagnen­team nach einem Ansatz, um in der Schweiz den Schutz vor sexualisierter Gewalt zu verbessern. Da stiess sie auf Nora Scheidegger. Grütter hatte sich zuvor vor allem mit Abtreibung, Sexarbeit und Sexual­aufklärung beschäftigt. Aber nirgends schien es ihr so offensichtlich wie beim Thema Vergewaltigung, dass die Rechte der Frauen missachtet werden.

Grütter kontaktierte Scheidegger, fand einen Vorstoss der SP-Nationalrätin Martina Munz und merkte, dass der Moment richtig war, um sich in den politischen Prozess einzuschalten. Denn die Bundes­verwaltung war gerade daran, das Sexual­strafrecht anzupassen.

Aber warum war das Sexual­strafrecht überhaupt das richtige Thema für Amnesty?

Amnesty hatte gerade einen Bericht veröffentlicht, der die verschiedenen Gesetz­gebungen in Europa verglich: Wo das Recht auf Widerspruch und Gegenwehr ausgerichtet ist – und wo auf Einwilligung und Konsens. Aber die Schweiz war darin nur eine Randnotiz.

Daraus ergaben sich nach langer interner Diskussion zwei Dinge: Amnesty befürwortete die Zustimmungs­lösung «Ja heisst Ja» (abgeleitet aus der von der Schweiz ratifizierten Istanbul-Konvention). Und Amnesty war bereit, Ressourcen in eine repräsentative Umfrage zu stecken. Denn ein Grundsatz von Amnesty lautet: keine Kampagne ohne Recherche.

Im Mai 2019, knapp einen Monat vor dem Frauenstreik, stellte die NGO die Ergebnisse an einer viel beachteten Medien­konferenz vor: Demnach hat jede fünfte Frau schon einmal einen sexuellen Übergriff erlebt, jede zehnte Frau wurde vergewaltigt.

«Jede Frau kennt jemanden, die betroffen ist», sagt Noemi Grütter.

Mit der Medienkonferenz läutete Amnesty die Kampagne ein und damit eine breite gesellschaftliche Diskussion um die Modernisierung des Sexual­strafrechts. Es gab die wissenschaftliche Analyse von Nora Scheidegger, es gab die empirischen Zahlen von Amnesty, es fehlten nur noch: die Stimmen der Betroffenen.

Die Betroffenen

Agota Lavoyer wusste seit Jahren, dass das Gesetz den Betroffenen nicht gerecht wird. Nur wollte das lange niemand hören. Vielleicht sagte es auch niemand richtig laut. Denn der Wert von Lavoyers alltäglicher Arbeit als Opferhilfe­beraterin bei der Fachstelle Lantana lag nicht darin, laut zu sein, sondern einfühlsam. Hinzuhören statt rumzuschreien.

Und so war es fast Zufall (und ein Glücksfall), dass Amnesty im Frühling 2019 neben Nora Scheidegger auch Agota Lavoyer bat, an der Medien­konferenz teilzunehmen, an der die NGO die neuen Zahlen zu sexualisierter Gewalt vorstellte.

Lavoyer wusste aus der Praxis, dass das Strafrecht in vielen Fällen schlicht nicht ausreicht. Sie beriet und begleitete Betroffene, arbeitete eng mit Anwältinnen zusammen, sie kannte die Einvernahmen durch Polizei und Strafverfolger. «Ich sah jeden Tag, wo es hapert.»

Vermutlich hatte Lavoyer auch deshalb ein politisches, aktivistisches Verständnis ihrer Arbeit. Das wussten auch die Frauen, die sich gezielt an sie wandten. Lavoyer wurde rasch zur Stimme der Betroffenen. Einige von ihnen meldeten sich später selbst zu Wort.

«Sie kamen zu mir», erzählt Lavoyer, «und sagten: Wenn mich die Justiz schon im Stich lässt, dann will ich wenigstens selbst etwas bewirken.»

Lavoyer half den Frauen, sich Gehör zu verschaffen, und vernetzte sie mit Medien. Sie schulte Noemi Grütter und andere bei Amnesty im Umgang mit den Betroffenen, damit sie diese nicht retraumatisierten. Sie verfasste mit Nora Scheidegger eine Fallstudie, die zeigte, dass das heutige Recht nicht genügt, um Sexual­delikte zu ahnden.

«Am Anfang», sagt Lavoyer, «mussten wir noch darüber streiten, ob es überhaupt eine Reform brauche. Natürlich fände ich eine Zustimmungs­lösung besser. Aber die neue Widerspruchs­lösung wird sich in der Praxis nur wenig von einem ‹Ja heisst Ja› unterscheiden.»

Die Kampagne, Teil 2

Als Amnesty die Kampagne für die Zustimmungs­lösung «Ja heisst Ja» entwarf, war rasch klar, dass die Menschenrechts­organisation auf komplett unterschiedliche Lebens­realitäten treffen würde. «Wir testeten unsere Konzepte direkt im Gespräch mit Leuten auf der Strasse», erzählt Noemi Grütter. Der Graben zwischen Männern und Frauen und vor allem zwischen den Generationen war sehr tief.

«Es war, als würden sie auf unterschiedlichen Planeten leben», sagt Grütter.

Diese Erkenntnis zog sich durch die ganze Kampagne, von der Strasse bis ins Parlament. Während der Nationalrat im Dezember die Zustimmungs­lösung «Ja heisst Ja» befürwortete, stand der Ständerat bis vor kurzem auf die Bremse. Während Männer wie Andrea Caroni (FDP) und Daniel Jositsch (SP) eine Änderung des Gesetzes ablehnten, sprachen sich nicht nur linke Für­sprecherinnen wie Lisa Mazzone oder Tamara Funiciello für eine progressive Reform aus, sondern auch bürgerliche Frauen wie Susanne Vincenz-Stauffacher (FDP).

Grundsätzlich gilt: Je jünger, weiblicher und linker die Parlaments­mitglieder, desto eher befürworten sie eine Zustimmungs­lösung. Im Nationalrat stimmten 75 Prozent der Frauen für ein «Ja heisst Ja», im Ständerat 77 Prozent. Bei den Männern im Nationalrat hingegen waren nur 36 Prozent für eine Zustimmungs­lösung, im Ständerat gar nur 27 Prozent. Die Parlaments­mitglieder über 50 Jahre stimmten grossmehrheitlich für eine Widerspruchs­lösung «Nein heisst Nein» – auch die Frauen. Das zeigt eine Auswertung der Abstimmungs­ergebnisse von Amnesty, die die Republik einsehen konnte.

Spürbar wurden diese Gegensätze auch während der Kampagne, erzählt Grütter. Als Amnesty sexpositive Plakate und Videos veröffentlichte mit dem Slogan «Erst Ja, dann ahh», fand das zwar sehr viel Anklang bei den Jungen. Aber es gab auch sehr viel und sehr harsche Kritik. Auf allen Kanälen. Auch von Amnesty-Mitgliedern.

Es blieb nicht beim «Gegenwind», wie Grütter es nennt. Bisweilen wurden die Anfeindungen extrem. «Jede Frau, die sich in dieser Frage engagierte», sagt Grütter, «begab sich auf eine Schlacht­bank. Wir waren ausgestellt. Wir wurden beschimpft. Und es gab sogar Vergewaltigungs­drohungen.»

Am schlimmsten war es für die Betroffenen. Sie hatten in Interviews offen über ihre Vergewaltigungen gesprochen und dabei immer wieder von traumatischen Erlebnissen berichtet, um aufzuklären und alte Mythen zu bekämpfen. Dafür wurden sie nun angefeindet. «Sie setzten sich ein gegen Gewalt», sagt Agota Lavoyer, die viele von ihnen begleitet hat. «Und erfuhren dann aufs Neue wieder Gewalt.»

«Das war sehr fordernd», sagt auch Noemi Grütter. «Aber die Geschichten waren extrem wichtig für das Umdenken in der Bevölkerung und der Politik.»

Das Parlament

Vier Jahre lang arbeiteten Fachleute, Aktivistinnen, Betroffene, Politikerinnen eng zusammen, um Mythen zu bekämpfen und die Menschen zum Umdenken zu bewegen. Für die NZZ war es der Beweis, wie «linke Lobbys die Politik vor sich hertreiben», für SP-Parlamentarierin Tamara Funiciello ist es ein gelungenes Beispiel dafür, wie «der Druck von der Strasse ins Parlament übertragen» werden konnte.

«Man vergisst zu schnell, an welchem Punkt wir gestartet sind», sagt Tamara Funiciello, die zu Beginn der Kampagne noch Juso-Präsidentin war und dann – sozusagen auf den parlamentarischen Reform­prozess hin – in den Nationalrat gewählt wurde. Der Bundesrat hielt 2018 das geltende Gesetz für genügend, eine Anpassung der Straf­normen für unnötig.

Noemi Grütter sagt: «Vier Jahre lang hiess es: Niemals! Eine Zustimmungs­lösung sei nicht möglich. Nicht einmal ein ‹Nein heisst Nein›. Aber wir sind nicht eingeknickt. Wir haben weitergemacht und zuerst eine Veränderung in den Köpfen erreicht. Und jetzt auch eine im Gesetz.»

Für Tamara Funiciello hat das mit der feministischen Vernetzung zu tun. Aber auch damit, dass sexualisierte Gewalt alle Frauen betreffe. «In meinem Freundes­kreis gibt es mehr Frauen, die vergewaltigt wurden, als Frauen, die es in Führungs­positionen geschafft haben.»

Funiciello erzählt, dass sie zahlreiche Mails erhielt, Briefe, dass sie selbst beim Einkaufen von Frauen persönlich angesprochen wurde, die ihr berichteten, dass sie vergewaltigt worden waren. «Und dann kamen Männer im Parlament und sagten, man solle nicht so emotional sein. Aber es ist emotional. Es ist intensiv.»

In Kommissions­sitzungen, in Einzel­gesprächen, im Klein-Klein der parlamentarischen Überzeugungs­arbeit hätten sie und andere Frauen Mehrheiten geschaffen, Deals geschlossen, Kompromisse geschmiedet. Und jetzt? Jetzt ist es kein «Ja heisst Ja» geworden, sondern ein «Nein heisst Nein» mit Zusätzen. Ein typisch schweizerischer Kompromiss?

«Wer das behauptet, würdigt zu wenig, was auf dem Tisch liegt, was die Frauen erreicht haben», sagt Tamara Funiciello. «Das ist kein Kompromiss, sondern ein Sieg. Betroffene, Fachleute, Politikerinnen sind über das Bundeshaus gefegt und haben das Parlament gezwungen, zu handeln, an einem Ort, wo es nicht handeln wollte.»

Es gibt Dinge, die sind längst allen klar. Nur wagt es niemand, sie laut zu sagen. Sex ohne Einverständnis ist kein Sex, sondern eine Straftat. Die Juristin Nora Scheidegger sagt, sie habe in den letzten Jahren unzählige Vorträge vor Laien­publikum gehalten. Sie habe die Leute an diesen Veranstaltungen praktisch nie überzeugen müssen. Es genügte meist, dass sie darlegte, was heute Sache ist, wo heute Lücken im Gesetz bestehen. Schon sei das Publikum mit ihr einverstanden gewesen. «Das Prinzip leuchtet sofort ein», sagt Scheidegger. «Manchmal muss es bloss jemand aussprechen.»

Rund 27’000 Menschen machen die Republik heute schon möglich. Lernen Sie uns jetzt auch kennen – 21 Tage lang, kostenlos und unverbindlich: