Warum die Gesundheits­kosten ausser Kontrolle sind

Einmal mehr steigen die Prämien für die Krankenkasse. Eine Übersicht zu den Ursachen und Hintergründen.

Von Philipp Albrecht, Priscilla Imboden, Marie-José Kolly (Text) und Pieter Van Eenoge (Illustration), 26.09.2023

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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Das Schweizer Gesundheits­wesen ist wie ein Patient mit einer defekten Herzklappe. Um einen drohenden Schlag­anfall zu verhindern, müsste der Patient bald operiert werden. Doch seine Ärzte verschreiben ihm Therapien, Betablocker und Blut­verdünner, anstatt ihn zu einer Herz­chirurgin zu schicken, die ihm eine funktionierende Prothese einsetzt.

Heute Dienstag informiert das Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Öffentlichkeit über die Veränderung der Krankenkassen­prämien für das nächste Jahr. Schätzungen zufolge droht wieder ein Anstieg um durchschnittlich über 6 Prozent.

Die Prämien widerspiegeln die Gesundheits­kosten. Seit der Einführung der obligatorischen Grund­versicherung 1996 ist ein jährlicher Anstieg dieser Kosten die Regel. Zwischen 2010 und 2019 verteuerten sich die Prämien pro Jahr durchschnittlich um 3,4 Prozent.

Weshalb sind die Gesundheits­kosten ausser Kontrolle geraten? Mit dieser Frage gingen wir auf Fachleute zu, wälzten Studien und lasen politische Debatten nach. Die Antworten lassen sich in fünf Aspekte zusammen­fassen, die wir uns genauer anschauen wollen:

  1. Die Menschen werden immer älter und die Medizin wird immer besser.

  2. Der Gesundheits­markt ist eine Fehlkonstruktion.

  3. Die Politik ist handlungsunfähig.

  4. Das System ist ineffizient.

  5. Profiteure können sich durchsetzen.

Hinter dem ersten Satz steckt eine Entwicklung, die sich nicht beheben lässt, im Gegenteil: Gesund alt werden ist ein Fortschritt. Diese Entwicklung ist mit ein Grund dafür, dass die Ausgaben für Gesundheit – in Prozent des Bruttoinland­produkts – auch in vielen anderen Ländern ähnlich stark steigen.

Schauen wir also als Erstes nicht auf die spezifische Ausgestaltung des Schweizer Gesundheits­wesens, nicht auf unser Tarif­system oder die Krankenkassen­landschaft, sondern auf das, was in der Schweiz gleich ist wie in Schweden, Frankreich, Deutschland oder Österreich:

1. Die Menschen werden immer älter und die Medizin wird immer besser

Um 1950 waren nur knapp 10 Prozent der Gesellschaft 65-jährig oder älter, heute sind es rund 20 Prozent. Ältere Menschen beanspruchen das Gesundheits­system stärker, weil mit dem Alter öfter auch die chronischen Krankheiten ausbrechen, die sich über die Jahre – oft auch: mit den zusätzlichen Kilos – angeschlichen haben: Vielleicht sind die Arterien verfettet oder die Leber, vielleicht hat sich Diabetes entwickelt. Oder ein Tumor.

Und ältere Menschen haben nicht nur mehr, sondern auch komplexere Gesundheits­probleme. Fachleute sprechen von «Multi­morbidität». Häufig leiden sie an mehreren Krankheiten, vielleicht an Blut­hochdruck, Arthrose und Diabetes. Das sind dreimal Therapien, Medikamente und Ärztinnen, zudem treibt auch die Gleichzeitigkeit selbst die Kosten an: Verschiedene Spezialisten sollten sich absprechen, verschiedene Medikamente müssen miteinander funktionieren – Koordinations­aufgaben, die jemand übernehmen muss.

Oder müsste: Oft mangle es genau daran, sagt Katharina Fierz, Professorin für Pflege an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW): So würden Patienten mit chronischen Erkrankungen zu wenig engmaschig betreut. Das führe typischer­weise dazu, dass eine Verschlechterung des Gesundheits­zustandes nicht oder zu spät erkannt werde und die Patientinnen dann oft notfallmässig ins Spital müssten – was vermeidbare Kosten verursache.

Rund 20 Prozent der Zunahme der Gesundheits­kosten pro Kopf gingen auf die Alterung der Gesellschaft zurück, sagt der Gesundheits­ökonom Simon Wieser, der die Zahlen derzeit selber als Professor an der ZHAW untersucht.

Und rund 64 Prozent des Kostenwachstums pro Kopf rührten von zusätzlichen Gesundheits­leistungen her. Das liegt am medizinischen Fortschritt, an den Fehl­anreizen im System und anderen Faktoren.

Ein Beispiel für den medizinischen Fortschritt sind genetisch angepasste Medikamente gegen seltene Krankheiten. Gegen die Muskel­dystrophie zum Beispiel half lange: nichts. Heute lässt sich das Leben der betroffenen Patientinnen mit einem Präparat radikal verbessern – eine der teuersten Injektionen der Welt.

«Medizin kann viel mehr als früher», sagt Wieser: Die Prognosen nach einer Brustkrebs­diagnose seien heute radikal anders als noch in den 1960er-Jahren. Und dank besserer medizinischer Behandlungen gingen Herz­infarkte und Schlag­anfälle stark zurück, wodurch die Lebens­erwartung deutlich steige.

Wenn man das sage, dächten viele Leute an den 80-Jährigen, der nun 82 werde, sagt Wieser. Klar, das gebe es auch, aber es seien vor allem mittelalte Leute wie er, die früher an einem Infarkt starben und heute bis 80 leben. «Man redet immer von den Kosten», sagt er, «aber die schaffen viel Gesundheit.» Eine stärkere finanzielle Entlastung sei sicher notwendig, ein noch grösseres Problem sieht Wieser aber im Personal­mangel: Pflegende fehlen jetzt schon. Und bald werden auch Ärztinnen fehlen in der Schweiz.

2. Der Gesundheits­markt ist eine Fehlkonstruktion

In einem idealen Markt gibt es ein Gleich­gewicht zwischen Nachfrage und Angebot. Steigt die Nachfrage, versucht die Angebots­seite, diese mit einer Mengen­ausweitung zu befriedigen. Das kann dazu führen, dass irgendwann das Angebot die Nachfrage übersteigt. In der Regel fallen dann die Preise, damit im besten Fall wieder mehr Nachfrage generiert wird.

Die Gesundheits­branche ist alles andere als ein idealer Markt. Wenn Spitäler oder Arzt­praxen einen Rückgang der Nachfrage registrieren, senken sie nicht die Preise. Stattdessen reagieren sie mit mehr Behandlungen, Tests und Untersuchungen. Sie machen also das Gegenteil von dem, was ein Akteur in einem idealen Markt tun würde.

In einem idealen Markt würden Hersteller von Waren die Kosten unter die Lupe nehmen und versuchen, effizienter zu arbeiten, um finanzielle Verluste zu vermeiden. In der Gesundheits­branche gibt es diesen Anreiz nicht. Spitäler und Arzt­praxen müssen gar nicht effizienter werden, da jede ihrer Leistungen ein Preisschild hat, das vom Staat definiert wurde. Einmal Blut entnehmen: 17 Franken und 10 Rappen.

Dahinter steht ein Tarif­system namens Tarmed. Dieses verhindert zwar, dass die Ärztinnen den Preis für eine medizinische Leistung einfach erhöhen, wenn sie weniger Patienten haben. Es führt aber auch dazu, dass Arzt­praxen oder Spitäler die Quantität erhöhen können: Hier noch ein Bluttest, dort ein Röntgen­bild. Die Patientinnen wehren sich nicht, schliesslich könnte es ja etwas Ernsthaftes sein. Die Wissenschaft spricht hier von einem «Informations­vorsprung der Leistungs­erbringer». Er ermöglicht es der Ärztin, für einen Teil des Marktes die Nachfrage selber zu bestimmen.

Der Bundesrat hat Tarmed bereits einmal überarbeitet, doch die Fehlanreize sind geblieben, die Gesundheits­kosten weiter angestiegen. Nun setzt die Politik auf ein neues System. Es heisst Tardoc und soll in Kombination mit ambulanten Pauschalen ab 2025 einen weiteren Kosten­anstieg verhindern.

Das Problem dabei: Das gesamte System mit seinen einzelnen Tarifen wird von der Branche selber gestaltet. Die Vertreter von Spitälern, Kranken­kassen, Pharma­industrie und der Ärzteschaft diskutieren seit acht Jahren. Sie haben keine Eile, ein System zu reformieren, von dem sie künftig weniger profitieren sollen.

Und selbst wenn die Leistungs­erbringer zu einer Einigung finden: Tardoc wird die Gesundheits­kosten nicht senken können. Im allerbesten Fall steigen sie nicht mehr so stark wie bisher. Ausserdem herrschen weiter Fehlanreize: «Auch Tardoc ist lediglich eine Einzelleistungs­vergütung, was bedeutet, dass man nichts verdient, wenn man nichts macht», sagt der Gesundheits­ökonom Heinz Locher, der sich seit Jahrzehnten mit dem Schweizer Gesundheits­system beschäftigt. «Wie man die Körner streut, so laufen die Hühner.»

Viel mehr Sinn würde seiner Meinung nach ein System ergeben, das die Gesund­erhaltung honoriert. Eines, in dem die Hausärztin den Grossteil ihrer Vergütung dafür erhält, dass sie zu ihren Patienten schaut. Locher sagt: «Tarife kann man kaum verhindern, aber sie sollen wenigstens gesundheits­fördernd sein und nicht leistungsfördernd.»

3. Die Politik ist handlungs­unfähig

Jedem Tälchen sein Spitälchen. Wer es wagt, eines zu schliessen, dem droht die Abwahl, so die ungeschriebene Regel unter Gesundheits­direktoren. Das widerfuhr etwa dem Sankt Galler Gesundheitsdirektor Anton Grüninger.

In der Schweiz gibt es gegen 180 Spitäler und 100 Rehabilitations- und psychiatrische Kliniken. Das ist im internationalen Vergleich sehr viel. Die Stadt London verfügt mit einer ähnlichen Bevölkerungszahl von 8,5 Millionen über 39 Spitäler. Die hohe Spital­dichte in der Schweiz führt zu einem Überangebot und dazu, dass einige Spitäler schlecht ausgelastet sind und zu viele unnötige Behandlungen durchführen.

Aber wer will schon sein Amt riskieren, um dagegen vorzugehen? Die Spitäler sind Sache der Kantone. Regional­politik triumphiert über eine kosten­dämpfende Gesundheits­politik. Das liegt auch an der Komplexität des Systems: Viele Regierungs­rätinnen machen lieber nichts, als dass sie womöglich einen Schaden anrichten.

Das Gesundheitswesen sei auf der falschen Ebene geregelt, sagt Gesundheits­ökonom Locher: «Die Regional­politik ist mächtig. Da versagen auch die Parteien. Sie kuschen in den Regionen, während sie auf nationaler Ebene grosse Reden schwingen.»

Die höchsten Gesundheitskosten fallen im letzten Jahr des Lebens an. Sie steigen dann oft auf das Zehnfache der üblichen Kosten pro Lebensjahr. Eine von Bundesrat Alain Berset eingesetzte Experten­gruppe schlug 2017 die Einführung medizinischer Boards vor, also von Fachgremien, welche einschätzen sollen, ob Eingriffe im Einzelfall sinnvoll sind oder nicht. Das wurde bis jetzt nicht umgesetzt.

Die frühere Zürcher Chefärztin Brida von Castelberg war – wie auch Heinz Locher – Mitglied der 14-köpfigen Expertinnen­gruppe. Sie findet, vor allem bei unheilbaren Krankheiten sollte man stärker auf die Lebens­qualität schauen: «Oft klärt man die Patienten nicht auf über die Neben­wirkungen eines Krebs­medikaments, das es ihnen erlaubt, noch drei Monate weiterzuleben.» Eine gute palliative Behandlung wäre in solchen Fällen besser – und auch noch günstiger.

Nicht zuletzt sorgen die Verbandelungen der Parlaments­mitglieder mit der Gesundheits­branche dafür, dass die National- und Ständerätinnen Partikular­interessen vertreten, statt sich für das Gemeinwohl einzusetzen. Laut der Plattform Lobbywatch weisen die Mitglieder der Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit über 70 Mandate aus dem Gesundheits­wesen auf. Das sind teilweise unbezahlte Mandate in Vereinen und Stiftungsräten, aber auch lukrative Verwaltungsrats­mandate in Spital­gruppen und Krankenkassen.

Die lukrativen Posten besetzen praktisch ausschliesslich Parlamentarier von SVP, Mitte und FDP. Etwa Mitte-Nationalrat Lorenz Hess, der als Verwaltungsrats­präsident der Kranken­kassen Visana und Galenos amtet, Mitte-Ständerat Erich Ettlin, der im Verwaltungsrat der Krankenkasse CSS sitzt, SVP-Nationalrat Thomas de Courten, Präsident des Lobby­verbands Intergenerika, oder FDP-Ständerat Damian Müller, der im Beirat des Ärzte­verbandes FMH sitzt.

Überdurchschnittlich viele Interessen­bindungen stehen im Zusammenhang mit Leistungs­erbringern. Dazu gehören etwa Verwaltungsrats­mandate von Spitälern und führende Positionen in Ärztevereinigungen – Institutionen mit bescheidenem Interesse an Kostensenkungen.

4. Das System ist ineffizient

Die Schweiz ist reich. Ihr Reichtum ermöglicht eine herausragende Gesundheits­versorgung. Die Lebenserwartung gehört zu den höchsten der Welt. Im internationalen Vergleich ist die von der Bevölkerung empfundene Qualität des Gesundheits­systems ungeschlagen. 99,8 Prozent der Schweizerinnen erreichen mit dem Auto innerhalb von einer halben Stunde ein Spital.

Das hat seinen Preis. Pro Kopf gibt die Schweiz nach den USA weltweit am meisten für die Gesundheit aus. Sogar noch höher als in den USA ist der Anteil, den die Bevölkerung direkt aus der eigenen Tasche zahlt – etwa für nicht verschreibungs­pflichtige Medikamente, den Selbst­behalt oder wenn die Franchise nicht erreicht wird.

Die hohen Ausgaben führen zu einer Übernutzung des Angebots. Anstatt bei einem Leiden erst einmal den Hausarzt aufzusuchen, gehen heute viele Prämien­zahlerinnen, die nicht ein Hausarzt­modell abgeschlossen haben, direkt zu einer Spezialistin. Manche reizen das System ohne Rücksicht auf die Kosten aus.

«Was oft beobachtet wird: Wenn Prämien­zahler die Franchise erreicht haben, beanspruchen sie mehr Leistungen», sagt Beatrix Eugster, Gesundheits­ökonomin und Professorin an der Hochschule St. Gallen. «Sie kaufen zum Beispiel gegen Ende Jahr mehr Medikamente, wenn die Grenze überschritten ist.»

Das führt zu einem Markt­versagen, das in der Versicherungs­wissenschaft als moral hazard (zu Deutsch: moralisches Risiko) bezeichnet wird. Wenn die Allgemeinheit einen Teil der Kosten übernimmt, schrumpft beim Individuum der Anreiz, sich zu zügeln. Das gilt nicht nur bei der Nachfrage nach medizinischen Leistungen, sondern auch beim ungesunden Lebensstil.

Massnahmen, diesem Verhalten entgegen­zuwirken, blieben bislang erfolglos. Die Politik setzte auf höhere Franchisen und Selbst­behalte, um unnötige Konsultationen zu verhindern. Ohne Erfolg. Auch alternative Versicherungs­modelle mit eingeschränkter Arztwahl brachten nicht den erhofften Nutzen.

Dazu kommt: Je besser die Menschen versichert sind, desto höher ist der Anreiz für eine Ärztin, besonders viele und teure Leistungen zu erbringen. «Das wird von der Krankenkasse gedeckt», sagt sie dann. Und der Patient ist beruhigt.

Besonders erstaunlich am Schweizer Gesundheits­system ist, dass bis 2019 völlig unklar war, wie ineffizient es eigentlich ist. Erst eine Studie im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG) nannte zum ersten Mal Zahlen: 8,4 Milliarden Franken könnten im Gesundheits­wesen eingespart werden, wenn es effizient gestaltet wäre. Das sind 19 Prozent aller Leistungen im Gesundheits­wesen, die über die obligatorische Grund­versicherung finanziert werden.

Laut Studie führen die Ärztinnen und das medizinische Personal in Spitälern und Arztpraxen letztlich zu viele diagnostische Verfahren, sprich MRIs und CTs, und zu viele Labor­analysen durch. Gleichzeitig geben sie die Einsparungen bei technologischen Innovationen der medizinischen Geräte nicht an die Patienten weiter (weil sie dazu keinen Anreiz haben). Und sie verschreiben zu viel und zu oft die teuersten Medikamente (weil sie davon finanziell profitieren).

Je rund eine halbe Milliarde könnte laut der Studie eingespart werden, wenn man Original­präparate konsequent durch Generika ersetzen, die Behandlungen stärker von stationär auf ambulant verlagern und auf unnötige Tests oder Untersuchungen verzichten würde.

Um je rund 2 Milliarden würden die Kosten gar sinken, wenn die Ärztinnen in allen Versicherungs­modellen Budgetmitverantwortung hätten und wenn die Mindest­franchise von 300 auf 500 Franken erhöht würde.

5. Profiteure können sich durchsetzen

Jede zwölfte Person in der Schweiz arbeitet im Gesundheits­wesen. Das macht die Branche zur grössten Arbeitgeberin im Land. 12 Prozent der gesamten Wirtschafts­leistung gibt die Schweiz jedes Jahr für Gesundheit aus. Das sind pro Kopf rund 10’000 Franken, die über die Steuern, die Krankenkassen­prämien oder direkt aus der eigenen Tasche bezahlt werden.

Dieses Geld teilen sich auf: Spitäler, Arztpraxen, Physiopraxen, Pharma­konzerne, Medizinal­firmen, Psychiatrien, Apotheken, Labors und Krankenkassen.

Für einen funktionierenden Betrieb müssen diese Leistungs­erbringer in der Regel weder innovativ noch effizient sein, weil kein Wettbewerb herrscht.

Zumindest fast keiner. In Punkt 3 haben wir die Verbandelungen zwischen Leistungs­erbringern und Politikerinnen erwähnt. Aber was bringt das politische Lobbying den Akteuren konkret? Und wie stehen sie zueinander?

Den Pharma­unternehmen geht es in erster Linie darum, neue gesetzliche Hürden zu verhindern. Wegen der hohen Kaufkraft in der Schweiz bieten sie hier ihre Medikamente flächen­deckend zu deutlich höheren Preisen an als im Ausland. Würden Arzneimittel parallel importiert, könnten die Gesundheits­kosten gesenkt werden. Doch der letzte Versuch im Parlament, Parallel­importe zu vereinfachen, wurde im Dezember 2021 ohne Diskussion im Ständerat versenkt. Bei einer Mehrheit der Kantons­vertreter verfing das Haupt­argument der Pharma­lobbyistinnen: die fehlende Patientensicherheit.

Daneben hat die Branche verschiedene Wege gefunden, die Umsatz­einbussen zu kompensieren, die drohen, wenn die Patente von Original­medikamenten auslaufen. Dann nämlich können theoretisch andere Produzenten die Medikamente kopieren, also Generika herstellen. Der Trick der Original-Hersteller: Sie bringen einfach ein neues Medikament mit einer minimal abgeänderten Rezeptur auf den Markt, das dann wiederum patentgeschützt ist. Oft ist das neue Medikament dann noch deutlich teurer, ohne dass es eine bessere Wirkung erzielt.

«Die Gier der Pharmafirmen ist grenzenlos», kommentierte kürzlich der Chefarzt der Klinik für Hämatologie des Universitäts­spitals Basel, Jakob Passweg, diese Praxis.

Um die teureren neuen Medikamente weiter an die Ärzteschaft zu bringen, zahlen ihnen die Pharma­firmen viel Geld. Offiziell werden diese Zahlungen als Entschädigung für den Besuch von Kongressen oder für Beratungs­tätigkeiten deklariert. Allein im letzten Jahr sponserte die Pharma­branche Ärztinnen, Spitäler und Universitäten mit rekordhohen 221 Millionen Franken. Den grössten Anteil erhielten Spezialisten und Abteilungen, die sich mit Diabetes und Übergewicht befassen, gefolgt von der Onkologie. Von «korruptions­ähnlichen Zuständen» spricht Brida von Castelberg in diesem Zusammenhang.

Auf politischer Ebene verhindert die Branche mit sehr einfluss­reichem Lobbying, dass die Medikamenten­preise bei Generika sinken. Im Dezember 2021 endete im Parlament der vorerst letzte Versuch, ein Referenzpreis­system einzuführen. Damit wollte der Bundesrat Maximal­preise für bestimmte Wirkstoffe einführen. Der grösste Gegner war Thomas de Courten, SVP-Nationalrat und Mitglied der Gesundheits­kommission: Mit auffallend vielen Wortmeldungen warnte er vor einem geschmälerten Angebot und dadurch steigenden Preisen. De Courten ist Präsident des Verbands Intergenerika.

Neben der Pharmabranche ist die Ärzteschaft mit ihrem Berufs­verband FMH einer der mächtigsten Akteure im Gesundheits­system. Die FMH geniesst das Privileg, die Preise des neuen Tarif­modells Tardoc aktiv mitgestalten zu dürfen. Die Verhandlungs­partner haben dem Bundesrat schon vier verschiedene Tardoc-Varianten zur Genehmigung vorgelegt. Viermal lehnte der Bundesrat ab, hauptsächlich, weil die Ärzteschaft tiefere Tarife verweigert. Sie hat gute Argumente auf ihrer Seite. Wenn die Politik Einsparungen vorschlägt, warnt sie vor Zweiklassen­medizin und Qualitäts­einbussen in der Behandlung.

Zugleich sind die Ärzte in einer Branche tätig, die der Mitte-Präsident Gerhard Pfister im Bundes­parlament kürzlich als «einzigartiges Perpetuum mobile der Selbst­bedienung, ein Paradies für Geldgierige» bezeichnete.

Diese Mentalität stört natürlich auch die Kranken­kassen. Zu ihren Aufgaben zählt unter anderem, den Arztpraxen und Spitälern auf die Finger zu schauen, um unnötige Behandlungen zu verhindern.

Dabei verursachen sie selber ebenfalls hohe Kosten. Die Verwaltung einer Krankenkasse kostet die Prämien­zahlerinnen im Schnitt rund 5 Prozent oder 200 Franken pro versicherte Person. Diese Kosten gehen von Jahr zu Jahr hoch – allein zwischen 2017 und 2021 um über 15 Prozent.

Dieses Geld fliesst nicht direkt in das Gesundheits­wesen, sondern unter anderem in die Werbung, die Kunden­akquise und das Lobbying. So leisten sich die Kranken­kassen mit Santésuisse und Curafutura gleich zwei Verbände, die sich etwa im Parlament und in der Öffentlichkeit gegen Kostensenkungs­massnahmen bei den Kassen einsetzen.

Im grossen Stil geschah das zuletzt im Jahr 2014, als das Stimmvolk zum zweiten Mal die Einführung einer Einheits­kasse an der Urne ablehnte. Im Parlament bekämpften die beiden Verbände nach einer Reihe von Vorstössen zuletzt im März 2022 eine Standes­initiative des Kantons Neuenburg, die verlangte, dass die Kantone die Möglichkeit erhalten sollten, eigene Kranken­kassen zu gründen, um Kosten zu sparen.

Unterstützung erhielten sie dabei von 36 direkt oder indirekt mit Krankenkassen in Verbindung stehenden Parlamentarierinnen. Als Sprecher der Gesundheits­kommission durfte etwa der Urner FDP-Politiker Josef Dittli dem Ständerat vortragen, dass die Umsetzung einer solchen Initiative «zahlreiche Probleme mit sich bringen würde». Dittli war zu diesem Zeitpunkt Präsident von Curafutura und verdiente in diesem Amt nach eigenen Angaben 140’000 Franken für ein 40-Prozent-Pensum.

Ein Ansatz

Ein Gesundheitssystem ist komplex, keine Frage. Viele Menschen sind daran beteiligt, in verschiedensten Positionen, mit verschiedenen Interessen. Vermutlich kommt man um eine gewisse Komplexität auch nicht herum.

Dann aber ist auch von Bedeutung, wie man die beteiligten Menschen betrachtet. Geht man davon aus, dass sie habgierig nach eigenen Vorteilen haschen werden? Dann wird man versuchen, sie vom Tricksen abzuhalten: Anreize aufsetzen und Kontroll­mechanismen. Das Problem dabei: Man verliert sich im Detail. Und die Menschen spielen das Spiel nach den vorgegebenen Regeln: Wer pro Operation bezahlt wird, macht mehr Operationen (aber nicht zwingend bessere). Verschiedene wissenschaftliche Experimente haben im Laufe der Zeit immer wieder gezeigt: Geld tötet intrinsische Motivation.

Was man also tun könnte: den Menschen Vertrauen geben. Und Mittel und Zeit für ihren Beruf, den sie häufig tatsächlich aus Berufung gewählt haben.

In den Niederlanden gibt es ein Unternehmen, das das versucht hat. Es heisst Buurtzorg, auf Deutsch: «Nachbarschaftspflege». Es ist so einfach aufgebaut, dass man es sich fast nicht vorstellen kann: Es hat keine HR-Abteilung, keine Manager, keine Jahresziele, kaum Sitzungen. Selbstständige Teams organisieren ihre eigenen Arbeits­pläne, Pflegende planen ihre eigene Arbeit. Und sie bieten nur ein Produkt an: Pflege. Das niederländische Tarifsystem hat dafür einen eigenen Code geschaffen, R002: «Buurtzorg».

Das klingt nach Utopie, trägt aber den Stempel der Beratungs­firma KPMG, deren Berater schrieb: «Die Zufriedenheit der Angestellten und der Kunden ist phänomenal hoch. Und die Qualität der Pflege klar überdurchschnittlich, obwohl sie nur wenig teurer ist als der Durchschnitt.»

Wir wissen aus Studien, dass zufriedene Ärztinnen und Pfleger auch gesündere Patientinnen hervor­bringen. Es liegt auf der Hand: Wer nicht ständig mit dem Burn-out im Nacken herum­rennen muss, bemerkt auch eher, wie sich der Zustand einer Patientin entwickelt. Hat genügend Zeit, um eine informierte Entscheidung zu treffen. Und verlässt den Beruf nicht schon nach wenigen Jahren.

Auch das senkt Kosten, denn Stellen immer wieder neu zu besetzen, ist teuer. Und Patienten, deren Zustand sich unbemerkt verschlechtert, müssen – ebenfalls teuer – nachbetreut werden.

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