«Der Bundesrat behauptet, die Schweiz engagiere sich enorm – aber das ist schlicht gelogen»

SP-Co-Präsident Cédric Wermuth sagt, was ihn an der heutigen Ansprache von Wolodimir Selenski am meisten freut. Und er erklärt, warum er sich nicht auf Prognosen für die eidgenössischen Wahlen festlegen will.

Ein Interview von Dennis Bühler, Priscilla Imboden (Text) und Goran Basic (Bild), 15.06.2023

Vorgelesen von Jonas Gygax
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«Gelegentliche Differenzen schaden der Linken nicht»: SP-Co-Präsident Cédric Wermuth.

Herr Wermuth, heute hält der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski eine Video­ansprache vor dem Schweizer Parlament. Wie wichtig ist dieser Auftritt?
Wichtig ist, dass der Auftritt stattfindet – und es den Putin-Freunden der SVP nicht gelungen ist, ihn zu verhindern. Dennoch hat Selenskis Ansprache auch etwas Zwie­spältiges.

Weshalb?
Weil das Parlament an einem Punkt angelangt ist, an dem sich nicht länger leugnen lässt, dass die angebliche Solidarität der Schweiz mit der Ukraine schlicht nicht mit den Taten überein­stimmt.

Sie beziehen sich auf die Weigerung der Schweiz, anderen Staaten die Weitergabe von Waffen aus Schweizer Produktion zu erlauben.
Das wäre nicht mal unser wichtigster Hebel. Das Parlament könnte ja auch sagen: Wir wollen zwar keine indirekten Waffen­lieferungen, zeigen aber sonst, dass wir es ernst meinen. Bei der Umsetzung der Sanktionen gegen die Oligarchen, bei der Unterbindung der Kriegs­finanzierung durch den russischen Rohstoff­handel oder bei der finanziellen Unterstützung. Doch all unsere Versuche sind gescheitert, zuletzt letzte Woche im Nationalrat ein Unterstützungs­programm für den Wieder­aufbau der Ukraine über 5 Milliarden Franken.

Die SVP hat bis zum Schluss versucht, Selenskis Auftritt zu verhindern. Sie warfen der Partei deshalb «Cancel-Culture im Auftrag Moskaus» vor. Was meinten Sie damit konkret?
Zweierlei. Zum einen wehre ich mich gegen die bequeme Position, in einem Konflikt beide Kriegs­parteien gleicher­massen verantwortlich zu machen – wenn ein Land von einer imperialen, faschistischen Macht überfallen wird, muss jede aufrechte Demokratin und jeder aufrechte Demokrat unmissverständlich Position beziehen, vollkommen unabhängig von seinen innen­politischen Ansichten. Zum anderen unterstelle ich der SVP, dass es ihr bei der Neutralität weniger um Ideologie als um die Verteidigung eines Business­modells geht. Sie verschliesst die Augen vor den Gräuel­taten, die die russische Armee in der Ukraine begeht, um weiterhin mit Moskau geschäften zu können.

In einer Analyse schrieben Sie jüngst, die Neutralität solle sicher­stellen, dass Menschen­rechte den Handel nicht beeinträchtigen.
Ja, die Neutralität wird dafür missbraucht.

Falls Sie recht haben und die Neutralität nur noch wirtschaftlichen Interessen dient: Soll die Schweiz sie dann aufgeben?
Zumindest sollten wir uns nicht von folkloristischen Behauptungen beeindrucken lassen. Auch die Neutralität muss man den Realitäten der Zeit anpassen. Wie kann man von der Neutralität sprechen, als gäbe es sie seit 1291 und als hätten wir uns nie in irgendetwas eingemischt? Das geht mir nicht in den Kopf. Im Kalten Krieg war es beispiels­weise völlig klar, dass die Schweiz zum westlichen Block gehörte.

Wie sähe denn eine sinnvolle Neutralität aus linker Sicht aus?
Neutralität müsste bedeuten, sich nie für einen Staat oder eine Staaten­gruppe mit imperialen Ansprüchen stark­zumachen, sondern immer auf der Seite des Völker­rechts zu stehen.

Die Schweiz müsste also Position beziehen. Was hiesse das konkret?
Erstens müsste die Schweiz wie gesagt konsequent das Völker­recht verteidigen, und zwar gegen alle, die das Recht des Stärkeren durch­setzen wollen. Dazu würde auch ein viel aktiveres Engagement zur Stärkung der Uno und ihrer Ziele gehören, vor allem natürlich die Arbeit für Frieden und gegen Armut. Zweitens müssen wir verstehen, dass man nicht mit allen Diktaturen der Welt Geschäfte machen und neutral sein kann. Wenn wir zulassen, dass Wladimir Putin auch dank unserem Rohstoff­handelsplatz und dank unserer laschen Verfolgung von Oligarchen­geldern den Krieg finanziert, dann macht man sich mindestens der Beihilfe schuldig. Und drittens hiesse Neutralität nach meinem Verständnis, weiterhin an der militärischen Bündnis­freiheit festzuhalten, also nicht der Nato beizutreten.

Die SP brauchte allerdings Monate, um nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine eine einiger­massen kohärente Position zu vertreten.
Das stimmt nicht. Wir haben als eine der ersten Parteien sofort nach dem Einmarsch Sanktionen verlangt und Druck gemacht. Was Sie ansprechen, ist die Frage der indirekten Waffen­lieferungen.

Was war das Problem?
Die SP hat Krieg als Mittel der Politik immer abgelehnt. Die Frage der indirekten Waffen­lieferungen an einen angegriffenen Staat hat sich in dieser Form in den letzten Jahren schlicht nicht gestellt. Das war auch für uns eine neue Situation.

Ihre Partei vollzog eine spektakuläre Kehrt­wende: Sie spricht sich seit Anfang Jahr für indirekte Waffen­lieferungen in die Ukraine aus.
Ja, und aus meiner Sicht auch zu Recht. Ich bin dezidiert der Meinung, dass die Ukraine ein Recht hat, sich militärisch gegen die russische Invasion zu verteidigen, und dass es eine europäische Pflicht ist, die Ukraine auch mit Waffen zu unterstützen. Dieser Krieg ist ein imperialistischer, und Putins Regime zeigt gegen innen eine faschistische Entwicklung. Das muss für alle Linken eine rote Linie sein. Es ist deshalb das Mindeste, dass die Schweiz andere Staaten nicht an Waffen­lieferungen hindert.

Das sehen nicht alle Sozial­demokratinnen so – in Ihrer Fraktion sind lange nicht alle für dieses Anliegen, nicht einmal für die Motion, die von der SP unterstützt wird.
Die Linke war sich in Sicherheits- und Militär­fragen noch nie einig. Das ist nicht neu. Schon die Forderung nach der Abschaffung der Schweizer Armee im neuen Partei­programm von 2010 war hoch umstritten.

Sie waren als Präsident der Jung­sozialistinnen direkt daran beteiligt, die Abschaffung der Armee ins Partei­programm zu schreiben. War das rück­blickend ein Fehler?
Im Nachhinein kann man immer alles besser wissen. Ich bin aber persönlich der Meinung, dass man auch ein Fernziel, eine Vision in einem Partei­programm formulieren darf, nämlich jene einer gewalt­freien Welt.

Wenn Sie für Waffen­exporte eintreten, befeuern Sie aber den globalen Rüstungs­wettlauf. Müsste es nicht das Ziel sein, aus dieser Spirale heraus­zukommen – so wie es zum Beispiel die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) in ihrem neuen, antimilitaristischen Manifest verlangt?
Langfristig betrachtet: unbedingt. Auch mir ist klar, dass wir mit unserer Position eine Flanke öffnen, die die Rüstungs­industrie auszunutzen versucht. Wenn sich ein Konzern wie Rhein­metall nun als grosser Förderer des ukrainischen Kampfes gegen Russland aufspielt und behauptet, der Firmen­zweck bestehe einzig im Schaffen von Sicherheit, ist das geradezu grotesk verlogen.

Aber?
Ich habe grösste Mühe damit, wie die Diskussion unter vielen Linken zurzeit verläuft: Sollen wir den Ukrainern etwa vorschlagen, sich in Butscha und anderswo wehrlos abschlachten zu lassen, weil andernfalls die Rüstungs­industrie profitiert oder es den amerikanischen Interessen hilft? Das ist schlichtweg keine moralisch vertretbare Position.

Die frühere SP-Aussen­ministerin Micheline Calmy-Rey sagte kürzlich im Republik-Interview, die Schweiz habe sich durch die Neutralität freiwillig verpflichtet, niemals Kriegs­parteien militärisch zu unterstützen, weshalb sie die Weiter­gabe von Waffen aus Schweizer Produktion unter keinen Umständen erlauben könne.
Calmy-Rey hat diese Neutralitäts­konzeption schon immer verteidigt. Im Unterschied zum heutigen Bundesrat kombinierte sie diese Haltung aber stets mit einem starken Engagement für das, was sie «aktive Neutralität» genannt hat. Ihre Schweiz liess zwar keine Waffen­lieferungen zu, machte sich aber für das Völker­recht stark und zeigte sich humanitär grosszügig. Das ist nicht unsere, aber eine absolut vertretbare Position. Genau das nervt mich ja an der aktuellen Regierung so sehr.

Erklären Sie.
Der Bundesrat behauptet, die Schweiz engagiere sich enorm. Aber das ist schlicht gelogen. Die Schweiz ist nicht speziell aktiv und grosszügig. Weder in der humanitären Hilfe noch in der Friedens­förderung noch in der Flüchtlings­unterstützung. Und schlimmer noch: Über lasche Umsetzung der Sanktionen und den Rohstoff­handel wird der Angriffs­krieg von Putin über unser Land finanziert.

Schämen Sie sich für die schweizerische Ukrainepolitik?
Ja, ich schäme mich dafür. Solange sie derart krass mit der Realität kontrastieren, finde ich die grossmundigen Solidaritäts­bekundungen der bürgerlichen Parteien und des Bundesrats peinlich.

Sprechen wir über die Schweizer Europa­politik. Nächste Woche wird der Bundesrat die Eckwerte für mögliche Verhandlungen mit der EU festlegen. Sie waren immer ein überzeugter Pro-Europäer.
Das bin ich noch immer.

Und doch hat die SP keine wahrnehmbaren Schritte vollzogen, um das Europa­dossier voran­zubringen, seit Sie Co-Präsident sind.
Das halte ich für eine sehr unsachliche Unter­stellung.

Das haben wir vermutet. Weshalb?
Weil wir die einzige Partei sind, die einen glaubwürdigen Vorschlag für weitere Verhandlungen mit der EU formuliert hat. Wir sagten von Anfang an, dass der Plan, den der Bundesrat nach dem Scheitern des Rahmen­abkommens vorstellte, nicht realistisch ist. Man kann nicht als Erstes die gleichen Dossiers wieder aufmachen, bei denen man sich das letzte Mal nicht geeinigt hat, und auf ein Wunder hoffen.

Sondern?
Es wäre viel sinnvoller, zuerst die unmittelbaren Probleme zu lösen: Die Schweiz sollte den Beitrag an die Kohäsion verstetigen und anheben und im Gegenzug die Teilnahme am EU-Forschungs­projekt Horizon verlangen. Das würde eine neue Vertrauens­basis schaffen. Und für alles andere lässt man sich genügend Zeit, um innen­politisch Lösungen zu finden.

Es heisst in Bundesbern aber, man habe zuletzt Fortschritte erzielen können.
Das trifft hoffentlich zu. Im März hat EU-Kommissar Maroš Šefčovič offenbar einen Schritt auf die Gewerkschaften zu gemacht anlässlich seines Besuchs in der Schweiz. Das stimmt mich hoffnungsvoll.

Ohne Bundesrat geht es besser?
Das will ich so nicht sagen. Aber er übernimmt nicht gerade übermässig viel Führung in diesem Dossier.

Und was wird der Bundesrat nächste Woche beschliessen?
Ich weiss es nicht. Doch es würde mich wundern, wenn er allzu konkret werden würde. Er hat sich mit der Ankündigung, bis Ende Juni Eckwerte für ein Verhandlungs­mandat zu formulieren, unnötig selbst unter Druck gesetzt. Ich warne vor der Illusion, dass es schnell gehen wird.

Möchten Sie denn nicht, dass es schnell geht?
Es ist wichtig, dass wir eine gute Lösung haben, die auch in einer Volks­abstimmung besteht. Es darf kein zweites Scheitern geben.

Wäre es nicht längst die Aufgabe der SP gewesen, gemeinsam mit den Gewerkschaften Vorschläge zu unterbreiten, wie der Lohn­schutz gesichert werden kann – statt einfach Nein zu sagen?
Das tun wir seit Jahren. Die Gewerkschaften haben immer wieder Vorschläge gemacht, erst kürzlich wieder.

Ja, erst jetzt.
Nein. Seit Jahren wird behauptet, einzig die Gewerkschaften hätten die Gespräche mit der EU blockiert. Das ist Geschichts­verfälschung. Weder die SP noch die Gewerkschaften waren je gegen Verhandlungen. Aber als klar wurde, dass es Kräfte gibt, die versuchen, die Situation für einen Angriff auf den Lohn­schutz auszunutzen, mussten SP und Gewerkschaft die Interessen der Lohn­abhängigen verteidigen. Es waren immer die Arbeit­geber, die in keiner Art und Weise bereit waren, irgendwelche Zugeständnisse zu machen. In Bundesbern versuchen die Bürgerlichen aktuell die kantonalen Mindest­löhne zu verbieten, nachdem fünf Kantone sie eingeführt haben. Solche Angriffe auf das Arbeits­recht haben zugenommen, den lange ausgehandelten Kompromiss bei den Pensions­kassen hat man einfach abgeschossen.

Was schliessen Sie daraus?
Was im Moment passiert, ist eine aktive Sabotage der Sozial­partnerschaft von rechts. In dieser Situation zu sagen, die Gewerkschaften seien schuld, kommt einer völligen Verdrehung der Tatsachen gleich.

Sie sagten der Republik vor zwei Jahren, früher hätten Sie an Juso-Mitglieder­versammlungen jeweils die EU-Flagge gehisst. Heute gehe das nicht mehr: «Von den Migrations­aktivisten würde sie wohl herunter­gerissen.»
Das ist so, und ich kann ihre Beweg­gründe verstehen. An ihren Aussen­grenzen betreibt die EU eine unmenschliche Migrations­politik.

Aber Sie möchten weiterhin in die EU?
Ja, ich bin für den EU-Beitritt der Schweiz. Denn unser Haupt­problem ist, dass wir nicht mitbestimmen können, in welche Richtung sich die EU entwickelt.

Warum ist die Europa-Begeisterung bei jungen Sozial­demokraten abgeebbt?
Die heutige Juso-Generation lernte die EU fast ausschliesslich als Mitverursacherin von Krisen kennen oder zumindest als machtlos, die viel beschworenen europäischen Werte wirklich durchzusetzen: von der Finanzkrise über die neoliberale Wirtschafts­politik, den Putsch der Troika gegen die linke Regierung Griechenlands bis hin zur unmenschlichen Migrations­politik.

Und doch verteidigen Sie die EU?
Der Punkt ist: Ohne EU wäre die Situation nicht besser, in der Migrations­politik wohl sogar noch schlimmer. Deshalb bin ich sehr froh, dass es nun eine wenigstens zögerliche Bewegung gibt, um die soziale Dimension der EU zu stärken. Das ist dringend nötig, wenn das Projekt überleben soll.

Sie fürchten um die Zukunft der EU?
Ja. Die Lage ist vielerorts dramatisch. In Spanien sind die Frankisten im Aufwind, bei den Wahlen in fünf Wochen droht ein Sieg einer mehr oder weniger offen faschistischen Partei. Und in Deutschland schneidet die AfD in Umfragen gleich stark oder besser ab als die SPD von Kanzler Olaf Scholz.

Die linke Kritik, die EU sei ein neoliberales Projekt, existiert dennoch weiter.
Ja, und manchmal stört sie mich in dieser Undifferenziertheit auch. Die EU war – wie übrigens auch die Schweiz – stets ein wider­sprüchliches und umkämpftes Projekt. Warum wollen viele Linke immer nur die negativen Aspekte sehen? Genauso einseitig sind manchmal aber auch andere: Warum werfen sie uns vor, wir seien schlechte Europäer, wenn wir den Zustand der Union oder die Position der Kommission kritisieren? Beides hilft nicht.

Am Sonntag entscheidet die Stimm­bevölkerung über die OECD-Mindest­steuer. Der SP-Parteirat empfahl Stimm­freigabe, die Delegierten aber beschlossen die Nein-Parole. National­rätin Jacqueline Badran sagte an der Delegierten­versammlung, sie könne sich nicht 30 Jahre lang für eine Steuer­harmonisierung einsetzen und dann Nein dazu sagen. Warum können Sie das?
Das tue ich nicht. Die Mindest­steuer steht gar nicht zur Debatte – sie kommt auch, wenn sie die Schweiz nicht einführt. Uns stört die geplante Umsetzung im Inland. Wenn die zusätzlichen Einnahmen hauptsächlich Kantonen wie Zug zugutekommen, belohnen wir sie für ihre seit Jahrzehnten praktizierte Steuerdumping­politik auf Kosten der Länder des Südens. Die jetzige Vorlage wird nur eine neue Spirale des nationalen Steuer­wettbewerbs unter den Kantonen auslösen.

Diese Position ist schwierig zu vermitteln.
Es war mir völlig klar, dass es uns ohne fundierte Debatte kaum gelingen würde, unsere Position – quasi ein «Nein, aber …» – zu kommunizieren. Aber Sie müssen wissen: Ich bin im Freiamt aufgewachsen. Ich bin es durchaus gewohnt, zu verlieren.

Hätten Sie nicht besser auf einen Abstimmungs­kampf zu dieser Verfassungs­änderung verzichtet? Nach einer Erfolgs­serie bei Steuer­vorlagen verlieren Sie nun – ausgerechnet im Wahljahr.
Wenn das Einzige, was die Bürgerlichen durch­bringen, eine – zugegeben schlechte – Umsetzung der Mindest­steuer für Gross­konzerne ist, schlafe ich relativ gut. Das Empörende ist ohnehin vorher passiert: Als das Projekt unter Beteiligung unserer Diplomaten zu einem System abgeschliffen wurde, von dem die Schweiz nach Jahrzehnten der Ausbeutung des Globalen Südens sogar noch profitiert.

Apropos Wahljahr: 2019 erlitt die SP eine historische Niederlage. Nie seit der Einführung des Proporz­wahlrechts schnitt sie schlechter ab. Seither hat sie auch bei kantonalen Wahlen meist zu den Verliererinnen gehört. Wie soll Ihnen die Trendwende gelingen?
Ich bin guten Mutes. Denn es gelingt uns je länger, desto besser, inhaltlich scharf zu argumentieren – nicht zuletzt bei den von Ihnen angesprochenen Steuer­fragen, bei denen wir mehrere Siege aneinander­reihten.

Trotzdem spricht wenig dafür, dass Sie die Talfahrt stoppen können.
Ich bin zurück­haltend, was genaue Prognosen für den Herbst angeht.

Um sich am 22. Oktober nicht an einem öffentlich kommunizierten Ziel messen lassen zu müssen?
Nein. Sondern weil ich gross geworden bin in einem Land, in dem es hiess, es passiere politisch ohnehin so gut wie nichts. Von Ausnahmen wie dem Aufstieg der SVP oder dem Sieg der Grünen vor vier Jahren abgesehen, gab es auch selten grössere Verschiebungen bei Wahlen. In dieser von multiplen Krisen geprägten Legislatur hat sich das dramatisch verändert, von der Pandemie über den Krieg bis zur CS-Rettung. Ich bin mir nicht sicher, welches Ereignis diese Wahl am stärksten prägen wird.

Trotz der grossen Verluste der SP wurde die Linke – den Grünen sei Dank – bei den Wahlen 2019 gestärkt. Aber was hat sie seither erreicht?
Etliche realpolitische Verbesserungen. Wenn der Nationalrat vor vier Jahren nicht nach links gerückt wäre, wäre das Sexual­strafrecht nicht wie von uns gewünscht revidiert worden. Die nun vom Ständerat befürwortete Revision stellt einen historischen Fortschritt dar. Wenn wir die Forderungen des Frauen­streiks 2019 nicht ins Parlament hätten tragen können, gäbe es heute auch keinen Vaterschafts­urlaub – die Einführung eines neuen Sozialwerks ist für ein konservatives Land wie die Schweiz ein grosser Schritt, auch wenn der Vaterschafts­urlaub vorerst bloss zwei Wochen beträgt, worüber man sich mit Fug und Recht lustig machen kann. Und sofern die Stimm­bevölkerung am Sonntag Ja sagt zum Klimagesetz, sind wir auch in der fundamental wichtigen Klimapolitik einen wichtigen Schritt vorwärts­gekommen.

Warum sollen jene Wählerinnen, die vor vier Jahren von der SP zu den Grünen wechselten, im Oktober zu Ihnen zurück­kehren?
Das ist nicht mein primäres Ziel. Viel wichtiger ist es, dass SP und Grüne gegenüber der bürgerlichen Rechten zulegen.

Das klingt selbstlos, aber verantwortlich sind Sie als Co-Präsident nun mal für die SP. Deshalb nochmals: Warum soll man SP wählen und nicht grün?
Auf den ersten Teil Ihrer Frage antworte ich Ihnen gerne – ich weiss genau, warum man die SP wählen sollte. Wir sind jene Partei, die eine gesellschaftliche Alternative darstellt zu einem System, das offensichtlich hochgradig in der Krise ist. Unser Slogan lautet: «Wir ergreifen Partei für eine soziale Schweiz.» Das heisst für uns insbesondere, dass wir uns für mehr Kaufkraft, Gleich­stellung und eine soziale Klima­politik einsetzen.

In der Klimapolitik sind die Grünen gemäss einer Studie aber viel glaubwürdiger.
Die Klimafrage ist eine absolut entscheidende, vielleicht die entscheidende Generationen­frage. Und doch ist es genauso wichtig, dass man das Asylrecht verteidigt, dass man sich bei den Krankenkassen­prämien und den Mieten für sozial verträgliche Lösungen einsetzt und feministische Anliegen vorantreibt. Ohne damit die Grünen schlecht­reden zu wollen: Die SP hat das umfassendste Angebot.

Seit neuestem gibt es Unterschiede zwischen den Grünen und der SP: bei den indirekten Waffen­lieferungen an die Ukraine und beim Ausbau der erneuerbaren Energie auf Kosten des Landschafts­schutzes. Beidem steht die SP offener gegenüber. Sind Sie froh darüber?
Ja, gelegentliche Differenzen schaden der Linken nicht. Wenn die Grünen und wir immer genau das Gleiche tun würden, mobilisierten wir nicht länger unterschiedliche Milieus.

Gemäss den jüngsten Wahl­barometern dürfte es im Herbst kaum signifikante Veränderungen geben. Braucht man am 22. Oktober überhaupt zu wählen?
Ja, unbedingt. Denn es sind Richtungs­wahlen: Es entscheidet sich, wie die Schweiz auf die multiplen Krisen reagiert. Mit Abschottung und dem Schutz der Privilegien weniger? Oder solidarisch nach innen und aussen, zumal die meisten Krisen heute ohnehin nicht mehr national zu bewältigen sind? Darüber hinaus geht es bei diesen Wahlen darum, wie die Schweiz mit den Bevölkerungs­gruppen umgeht, die einen Platz reklamieren, den sie seit jeher verdient haben: namentlich der LGBT-Community, Menschen mit Behinderung sowie den Migrantinnen und Migranten.

Bei kantonalen Wahlen konnte zuletzt die SVP zulegen.
Das bereitet mir Sorgen. Wenn FDP und Mitte-Partei das Spiel der SVP mitspielen, stehen uns harte Zeiten bevor. Nicht zuletzt der LGBT-Community und den Migrantinnen. Diese Gefahr ist real, so paradox das auch ist.

Paradox?
Die SVP nimmt in allen zentralen Dossiers eine objektiv unvernünftige Position ein. Sie reagiert auf die globalen Krisen, indem sie sich von der Realität abschottet und im Inland Gräben aufreisst, wie sich zuletzt in Stäfa zeigte, wo ihre Exponenten die Durchführung eines Gender-Tags verhinderten. Die SVP ist heute objektiv die Partei der Reichen und der Gross­konzerne. Diese Elite boxt alle weg, die ihr in die Quere kommen. Das bereitet mir Sorgen.

Warum verfängt diese Strategie?
Es ist nicht überraschend, wenn Menschen nach 30 Jahren neoliberaler Propaganda den Eigennutz ins Zentrum stellen und ihre Privilegien auf Gedeih und Verderb verteidigen. Denn es stimmt: Reiche, weisse Männer müssen sich plötzlich für Dinge rechtfertigen, von denen sie bisher glaubten, sie stünden ihnen von Natur aus exklusiv zu. Ich spüre das bei jeder Sitzung der Wirtschafts­kommission des Nationalrats: Bürgerliche Männer empfinden es als Zumutung, dass sie mit jungen linken Frauen auf Augenhöhe diskutieren müssen.

Und warum punktet die SVP in der breiten Gesellschaft?
Es ist paradox: Die SVP profitiert vom Versagen des politischen Systems, das sie selbst mitverursacht. Weil sie es bis zu einem gewissen Grad geschafft hat, sich als antisystemische Partei zu positionieren – was nur schon deshalb grotesk ist, weil sie am meisten Parlamentarier stellt sowie zwei Bundesräte und heute in Bundesbern die Konzern­lobby vertritt. Die SVP profitiert davon, dass das politische System nicht mehr lösungsfähig ist. Warum? Weil Freisinnige und die Mitte-Partei ihnen in vielen Dossiers hinterher­laufen. Das blockiert Lösungen im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung. Das muss sich ändern. Denn die beste Antwort auf die SVP-Hetze wären gute Löhne, gute Renten, zahlbare Mieten und Krankenkassen­prämien. Eine funktionierende Klima­politik, eine funktionierende Migrations­politik, eine funktionierende Finanzplatz­regulierung, eine funktionierende Europa­politik. Wenn man das Gefühl hat, die Politik komme bei den wichtigsten Fragen nicht weiter, zerstört dies das Vertrauen ins System.

Wäre es besser, die Provokationen zu ignorieren?
Sie lassen sich nicht ignorieren, weil eine äusserst gefährliche Agenda dahintersteckt. Es geht der SVP ja nicht nur um den Genderstern, sondern darum, jeden Fortschritt in der Gleichstellungs­politik zu verhindern.

Sie haben einen langen politischen Weg hinter sich: vom Juso-Aktivisten bis zum SP-Co-Präsidenten.
Liegt das so weit auseinander?

Heutige Juso-Aktivisten würden das wohl bestätigen, ja.
Da dürften Sie recht haben.

In welchen Bereichen haben Sie Ihre Überzeugung überdenken müssen?
In einigen. Lassen Sie mich stellvertretend jene beiden Themen nennen, in denen ich mich am fundamentalsten irrte: Jahrelang unterschätzte ich die Klima­katastrophe in ihrem realen Ausmass. Das war für viele ein blinder Fleck. Und bei feministischen Anliegen wurde ich durch Partei­kolleginnen und meine eigene Partnerin glücklicher­weise eines Besseren belehrt.

Was haben Sie gelernt?
Als Mann kann man leicht übersehen, welche Privilegien man geniesst und welche sexistischen Strukturen existieren. Auch ich hielt die Zustände für normal, bis mir die Augen geöffnet wurden. Heute bin ich überzeugt, dass die Sozial­demokratie konsequent links­progressiv sein muss: in feministischen Themen, in Migrations­themen, in Klima­themen und in der wirtschafts­politischen Dimension. Es gehört alles zusammen, weil alles mit Unfreiheit und Ausbeutung zu tun hat.

Zur Person

Der Aargauer Nationalrat Cédric Wermuth steht der SP seit Oktober 2020 vor – im Co-Präsidium mit seiner Zürcher Rats­kollegin Mattea Meyer, die die Republik vor ihrer Wahl zum ausführlichen Gespräch traf. In diesem Herbst stellt sich Wermuth zum dritten Mal der Wiederwahl in die grosse Kammer, wo er die SP seit 2019 in der Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK) vertritt. Zum ersten Mal für Furore gesorgt hatte der heute 37-Jährige als junger Erwachsener, als er die Juso zunächst als Zentral­sekretär und dann als Präsident zur bedeutendsten Jungpartei der Schweiz machte. Der schweizerisch-italienische Doppel­bürger studierte Politik­wissenschaft, Geschichte, Wirtschaft und Philosophie an den Universitäten Zürich und Bern, ist verheiratet, Vater von zwei Töchtern und lebt in Zofingen.

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