Am Gericht

Brian Keller: Es geht um Folter

Eine drakonische Freiheits­strafe oder ein Freispruch: So weit gehen die Anträge am Straf­prozess auseinander. Im Zentrum aber steht die Frage nach den Menschen­rechten. Dazu äusserte sich ein Gerichts­experte überraschend klar.

Von Brigitte Hürlimann, 01.11.2023

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
0:00 / 12:23

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«Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.»

So ist es in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechts­konvention geregelt, und zwar unter dem Titel «Verbot der Folter». Ein einfacher Satz von absolut zentraler Bedeutung, eine Selbst­verständlichkeit in jeder modernen Demokratie, die sich an rechts­staatliche Grundsätze hält. Sollte man meinen.

Doch wo fängt Folter an? Gibt es sie auch in der Schweiz? Und wenn der Vorwurf erhoben wird: Wer ist zuständig dafür, den Missstand zu beseitigen, die Schuldigen zu bestrafen – und die Opfer zu entschädigen?

Es sind solch grundsätzliche Fragen, die am Straf­prozess gegen Brian Keller verhandelt werden und das noch ausstehende Urteil beeinflussen dürften. Das Bezirksgericht Dielsdorf muss über universell geltende Menschen­rechte entscheiden – nicht nur über 32 eingeklagte Delikte.

Das Urteil wird in diesen Tagen beraten und soll am 8. November öffentlich verkündet werden.

Ort: Bezirksgericht Dielsdorf ZH
Zeit: 30. und 31. Oktober 2023, 8.30 Uhr
Fall-Nr.: DG230005
Thema: Versuchte schwere Körper­verletzung, einfache Körper­verletzung, Sach­beschädigung, Drohung, Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte

Sein Auftritt wirkte wie ein Pauken­schlag. Es war ungewöhnlich ruhig im Saal, als der Berner Strafrechts­professor Jonas Weber am ersten Tag des Prozesses gegen Brian Keller das Wort ergriff. Niemand blätterte mehr in den Unterlagen, keiner tippte mehr auf dem Laptop. Die Medien­schaffenden und das Publikum, die in drei anderen Gerichts­räumen den Prozess per Video­schaltung mitverfolgten, blickten gebannt auf die Leinwand.

Alle hörten zu. Und staunten über die klaren Worte.

Weber wurde vom Bezirks­gericht Dielsdorf als sachverständiger Zeuge befragt und soll einen Zwischen­bericht vorlegen. Thema: die Rechts­konformität der Vollzugs­bedingungen, die Brian Keller während drei­einhalb Jahren im Gefängnis Pöschwies erlebte – in der Langzeit­einzelhaft.

Die Republik hat dieses Vollzugs­regime – und die Kritik daran – mehrfach geschildert. Die Isolation des Inhaftierten, die fehlenden Hofgänge und Beschäftigungen, die schmerzenden Fesselungen an Händen und Füssen, die mangelhafte medizinische Betreuung, um nur einige Stichworte zu nennen.

Jonas Weber untersucht die Haft­periode von August 2018 bis Ende Januar 2022. Er tut dies eigentlich im Auftrag des Zürcher Ober­gerichts, bei dem eine ältere Anklage gegen Brian Keller hängig ist.

Doch weil es auch im neuen Verfahren zentral um die damaligen Haft­bedingungen in der Pöschwies geht, hat das Bezirks­gericht entschieden, den Strafrechts­professor anzuhören. Sämtliche 32 Delikte, die Staats­anwalt Ulrich Krättli dem 28-jährigen Beschuldigten neu vorwirft, haben sich in diesem Haft­regime zugetragen.

Die Verteidiger Kellers sprechen von einer Notstands­situation. Der Insasse habe sich wehren müssen, um nicht völlig zugrunde zu gehen. Zu einem allfälligen Notstand oder zu einer allfällig gerecht­fertigten Gegenwehr des Häftlings äusserte sich der Berner Strafrechts­professor in Dielsdorf nicht. Hingegen stellte er klipp und klar fest:

«Es lag eine nach menschen­rechtlichen Vorgaben verbotene Langzeithaft vor.»

Spätestens jetzt hätte man im Gerichts­saal eine Stecknadel zu Boden fallen hören können.

Auch die medizinische Versorgung war unzureichend

Weber führte aus, eine verbotene Langzeithaft liege dann vor, wenn die Dauer von 15 Tagen überschritten werde, der betroffene Insasse während 22 Stunden pro Tag keinen sinnvollen menschlichen Kontakt erlebe und es zu keinen ausgleichenden Haft­lockerungen komme.

Sämtliche drei Voraus­setzungen sind im Pöschwieser Haftregime erfüllt, das Brian Keller drei­einhalb Jahre lang erdulden musste. Bei ihm, so Weber weiter, komme erschwerend hinzu, dass es sich um eine vulnerable Persönlichkeit handle – was die Vollzugs­behörde verpflichten würde, bei der Anordnung von Einzelhaft noch zurück­haltender vorzugehen.

Auch bei der medizinischen Versorgung Brian Kellers in der Pöschwies konstatierte der Strafrechts­professor die Verletzung der menschen­rechtlichen Vorgaben. Der Insasse hätte von Anfang an von einer unabhängigen Fachperson regelmässig auf physische und psychische Leiden untersucht werden müssen. Was nicht geschah.

«Die Lebens­geschichte von Brian Keller lässt den Fall als sehr gravierend erscheinen», sagte Jonas Weber vor dem Bezirks­gericht Dielsdorf. Die Haft­bedingungen mit der Renitenz des Insassen zu begründen, greife «nur bedingt». Das Folter­verbot der Europäischen Menschenrechts­konvention gelte absolut, auch unter schwierigsten Bedingungen und unabhängig vom Verhalten der betroffenen Person.

Niemand widersprach. Niemand äusserte Kritik an diesem Befund. Und dann ging der Prozess weiter.

Der Psychiater spricht von einer hohen Rückfallgefahr

Als zweiten sachverständigen Zeugen hatte das Bezirks­gericht den Basler Chefarzt und Psychiater Henning Hachtel vorgeladen, der sich zum psychischen Zustand Brian Kellers und zu dessen Rückfall­gefahr äusserte. Hachtel nahm keinen Bezug zu den Ausführungen seines Vorredners und bestätigte, was er 2019 in einem Gerichts­gutachten festgestellt hatte: dass der Beschuldigte an einer dissozialen Persönlichkeits­störung mit ausgeprägten psycho­pathischen Wesens­zügen sowie an einem Erwachsenen-ADHS leide.

Dass es Hinweise auf eine depressive Entwicklung gebe. Und dass eine hohe Rückfall­wahrscheinlichkeit für Gewalt­taten bestehe.

Ihn unvorbereitet in die Freiheit zu entlassen, so Hachtel auf eine Frage des Gerichts­präsidenten Marc Gmünder, sei ein «grosses Experiment». Vor allem dann, wenn sich Brian Keller auf keine Therapie einlasse.

Staatsanwalt Ulrich Krättli sah sich von den Ausführungen des psychiatrischen Gutachters bestätigt. Für den Ankläger war klar, dass Keller die Verantwortung für sein Verhalten in der Pöschwies übernehmen müsse und von einer Notstands­situation nicht die Rede sein könne. Der Häftling habe es in der Hand gehabt, sich angemessen zu verhalten – doch das habe ihn nie interessiert: «Hätte er sich an die Regeln gehalten, wären die verschärften Haft­bedingungen nicht nötig gewesen.»

Ein drakonischer Strafantrag …

Staatsanwalt Krättli verlangte eine Freiheits­strafe von 9 Jahren und 7 Monaten, unter anderem wegen versuchter schwerer Körper­verletzung. Auf den Antrag, es sei eine Verwahrung anzuordnen, verzichtete er nur zähne­knirschend – nicht zuletzt wegen entsprechender Hinweise aus dem Bundes­gericht. Wichtig war und ist ihm, dass der 28-Jährige nicht in Freiheit kommt. Die Frage einer Überhaft stelle sich noch lange nicht, es sei ja auch noch das ältere Verfahren vor Obergericht hängig, bei dem ebenfalls eine mehrjährige Freiheits­strafe zur Diskussion stehe: «Die Sicherheits­haft Brian Kellers ist zu verlängern.»

Der Beschuldigte hörte diesen strengen Antrag nicht, er war von der Gerichts­verhandlung dispensiert worden. Es waren die Mutter und seine Schwester, die ihm am Abend des ersten Prozess­tags von den Ausführungen des Staats­anwalts berichteten – im Besuchs­zimmer des Untersuchungs­gefängnisses Zürich. Solche Gefängnis­besuche gehören für die Familie seit mehr als sieben­einhalb Jahren zur Routine. Sie sind zermürbend und belastend.

Der Sohn habe gefasst reagiert, berichtete die Mutter am zweiten Prozesstag gegenüber der Republik-Reporterin in einer Verhandlungs­pause. Aber sie habe Angst, dass er die Hoffnung verliere. Wie sie auch.

Das Verteidigertrio, Thomas Häusermann, Bernard Rambert und Philip Stolkin, forderte das Gericht auf, den Ausführungen des Staats­anwalts nicht zu folgen und sich vom überrissenen Strafantrag nicht beeindrucken zu lassen. Brian Keller werde als Monster, als notorischer, gefährlicher Gewalt­täter dargestellt. Das sei falsch.

… versus Freispruch, Entschädigung und Genugtuung

Die Verteidiger forderten einen Freispruch für ihren Klienten sowie Entschädigungen und Genugtuung; nicht zuletzt gestützt auf die Recht­sprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen­rechte in Strassburg.

Etliche Sachverhalte seien gar nicht erstellt. Und für jene Delikte, die nachgewiesen seien, gäbe es Rechtfertigungs­gründe: basierend auf dem Haftregime, das vom Experten Jonas Weber – und nicht nur von ihm – als menschenrechts­widrig qualifiziert worden sei.

Bei sämtlichen Straftat­beständen, die Brian Keller in diesem Prozess vorgeworfen werden, geht es um Ausfälligkeiten und Hand­greiflichkeiten während der Langzeit­einzelhaft in der Pöschwies. Rechts­anwalt Thomas Häusermann betonte, die Aufseher, die Keller belasten, hätten sich an die Vorfälle kaum mehr erinnern können. Sie hätten sich abgesprochen und vor den Einvernahmen die internen Journale und Rapporte lesen müssen. «Alle haben sich vorbereitet. Glaubhafte Aussagen sehen anders aus.»

Die gefängnis­internen Berichte hätten keinen eigen­ständigen Beweiswert. Sie seien weder nach­vollziehbar noch überprüfbar.

Auch das schwerste Delikt, das als versuchte schwere Körper­verletzung eingeklagt ist, sei nicht erwiesen. Keller wird vorgeworfen, eine Glas­scherbe gegen die Zellen­türe geworfen zu haben, die wenige Zentimeter geöffnet war. Dahinter befanden sich drei Aufseher, und einer der Männer wurde am Kopf leicht verletzt.

Es sei absurd, so Häusermann, zu behaupten, der Beschuldigte habe eine schwere Körper­verletzung der Aufseher in Kauf genommen. Er habe die Männer hinter der Türe gar nicht sehen können.

«Nur der Widerstand rettete ihn vor dem Wahnsinn»

Bernard Rambert und Philip Stolkin wiederum betonten die Notstands­situation des Häftlings, der sich gegen das menschenrechts­widrige Haft­regime habe wehren dürfen und wehren müssen. «Wir bestreiten nicht, dass unser Mandant kein Chor­knabe ist und ein schwieriges Kind war», so Rambert. «Wir bagatellisieren die Straftaten nicht, die er früher begangen hat. Aber wir bestreiten, dass dies der Behörde das Recht gibt, sich so zu verhalten, wie sie es getan hat.»

Mehrere Gutachten, die von den Verteidigern in den letzten Jahren eingereicht wurden, kommen zum gleichen Schluss wie der Berner Strafrechts­experte Jonas Weber. Man habe die Zürcher Justiz­behörde schon lange auf die unhaltbaren Zustände in der Pöschwies aufmerksam gemacht, sagte Philip Stolkin – und sei nicht gehört worden. Auch die Intervention des Uno-Sonder­bericht­erstatters für Folter, Nils Melzer, habe zu keiner Änderung geführt.

Brian Keller sei nichts anderes übrig geblieben, als sich zu wehren, als aufzubegehren, um dem totalen Reiz­entzug in der Isolation etwas entgegen­zusetzen:

«Nur sein Widerstand rettete ihn vor dem Wahnsinn», sagte Verteidiger Philip Stolkin.

Illustration: Till Lauer

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