Die unendliche Haftgeschichte des Brian Keller

Urteile hüben und drüben, höchst­gerichtliche Bedenken, ein Gefängnis­aufenthalt, der kein Ende nimmt – und der neuste Prozess­termin: die jüngsten Entwicklungen im Fall des schweizweit bekannten Gefangenen.

Von Brigitte Hürlimann, 28.07.2023

Vorgelesen von Egon Fässler
0:00 / 9:41

Journalismus kostet. Dass Sie diesen Beitrag trotzdem lesen können, verdanken Sie den rund 27’000 Leserinnen, die die Republik schon finanzieren. Wenn auch Sie unabhängigen Journalismus möglich machen wollen: Kommen Sie an Bord!

Seit siebeneinhalb Jahren sieht Brian Keller, heute 27 Jahre alt, die Welt nur noch durch Gitterstäbe.

Mauern versperren den Blick in die Umgebung.

Die Türen werden von aussen abgeschlossen.

Und soeben hat das Bundes­gericht entschieden, dass sich dieser Zustand nicht so bald ändern wird – einmal mehr, muss man sagen. Doch es fehlt nicht an mahnenden Worten an die zuständigen Zürcher Behörden zum Umgang mit dem bekanntesten Langzeit­insassen der Schweiz.

Auch dies nicht zum ersten Mal.

Für alle, die den Überblick verloren haben: Keller befindet sich derzeit in Sicherheitshaft, und zwar im Gefängnis Zürich. Zuvor war er in Untersuchungs­haft, vorher ebenfalls in Sicherheits­haft und noch weiter zurück im Straf­vollzug. Den grössten Teil der Knastzeit verbrachte er in der Strafanstalt Pöschwies und dort unter einem einzigartig strengen, international gerügten Haftregime. Dazu nur ein paar Stich­worte: immer allein, in der Zelle und im Minihof, Hofgang nur an Händen und Füssen gefesselt und nur unter der Woche, samstags oder sonntags nie. Besuche nur hinter Panzer­glas – und ebenfalls an Händen und Füssen gefesselt.

Egal, mit welchen Fragen sich das Bundes­gericht rund um Brian Keller beschäftigen muss (es sind viele): In den neueren Urteilen aus Lausanne ist konsequent von «Isolations­haft» die Rede, wenn es um den Vollzug in der Pöschwies geht. Ende Januar 2022 wird der Insasse ins Gefängnis Zürich verlegt, in den normalen Vollzug. Seither kommt es zu keinen nennens­werten Vorfällen mehr.

Anders als zuvor, in der Isolations­haft.

Wegen dieser Ereignisse in der Pöschwies beziehungsweise wegen gut 30 Vorwürfen der Zürcher Staats­anwaltschaft befindet sich Keller heute erneut in Sicherheits­haft. Sie kann angeordnet werden, wenn gegen eine Person eine Anklage­schrift eingereicht worden ist und der Strafprozess noch aussteht. Weitere Voraus­setzungen sind: Die beschuldigte Person wird eines Vergehens oder Verbrechens dringend verdächtigt und es besteht eine Wiederholungs­gefahr schwerer Taten, die bereits früher begangen worden sind. Sicherheits­haft darf jedoch nur zurückhaltend angeordnet werden, als Ultima Ratio, wenn keine milderen Massnahmen möglich sind.

Bei Brian Keller ist vor allem die Wiederholungs­gefahr umstritten. Diese wird nun vom Bundes­gericht bejaht – allerdings mit Bedenken. Das höchste Gericht weist eine Beschwerde gegen den Verbleib in der Sicherheits­haft ab und erklärt sie für zulässig. Das fünfköpfige Richter­gremium zitiert vor allem aus einem früheren Bundesgerichts­entscheid, bei dem es um die Untersuchungs­haft Kellers ging.

An der höchst­richterlichen Argumentation irritiert, dass für die Bestätigung der Wiederholungs­gefahr auf ein Ereignis in der Pöschwies zurück­gegriffen wird, das noch nicht rechts­kräftig beurteilt wurde. Kellers Anwälte sagen, damit werde die Unschulds­vermutung ihres Klienten verletzt. Sie rügen ein psychiatrisches Kurz­gutachten, das nach Anweisung des Zürcher Ober­gerichts auf einer «Schuld­vermutung» basiert – und eine Rückfall­gefahr bejaht.

Die Anwälte weisen ausserdem zum wiederholten Male darauf hin, dass ihr Mandant die ihm vorgeworfenen rund 30 Delikte ja im Gefängnis begangen habe, in der Pöschwies, im Isolations­regime, das von ihnen und von internationalen Experten als Folter bezeichnet wird.

Wie soll eine Rückfall- oder Wiederholungs­gefahr ausserhalb der Gitter und Mauern möglich sein, wenn jemand im Gefängnis aufbegehrt hat? Und nur deshalb vor dem Straf­richter antraben muss?

Das Bundes­gericht lässt durchblicken, dass es mit dem Verlauf der Causa Brian Keller nicht zufrieden ist – auch wenn es die Beschwerde abweist. Die Bemerkungen auf den letzten paar Urteils­seiten lassen aufhorchen. Das höchste Gericht schliesst sich Brian Kellers Kritik am neusten psychiatrischen Kurz­gutachten in wesentlichen Punkten an. Der Gutachter erkenne Hinweise auf eine depressive Entwicklung wegen der früheren Isolations­haft, vermöge diese aber «nicht klar zu erfassen». Ebenso wenig könne er sagen, ob die Taten in der Pöschwies aufgrund einer Retraumatisierung geschehen seien. Die Haft­bedingungen dort seien kaum in die Prognose­stellung eingeflossen.

Seit seiner Verschiebung ins Gefängnis Zürich verhält sich der Insasse gut. Aber auch das wird vom Gutachter nicht gewürdigt. All dies führt zur Feststellung des Bundes­gerichts, dass die Frage der Wiederholungs­gefahr auch anders hätte entschieden werden können. Um dann wieder zurück­zukrebsen und zu sagen: «Geradezu unhaltbar ist es jedoch nicht, wenn die Vorinstanzen, gestützt auf das Gutachten, von einer ungünstigen Prognose ausgehen.»

Am Schluss rügt das Bundes­gericht auch noch die Zürcher Staats­anwaltschaft, die mit der Eröffnung ihrer Straf­untersuchung der Vorfälle viel zu lange gewartet habe. Es war im November letzten Jahres gewesen – drei Tage bevor Brian Keller aus der Haft entlassen worden wäre.

Doch eben, inzwischen haben die Straf­verfolger ihre Anklage­schrift wegen diverser Vorfälle in der Pöschwies beim Bezirks­gericht Dielsdorf eingereicht. Der Prozess­auftakt ist auf den 30. Oktober 2023 geplant, die Verhandlung dürfte mehrere Tage in Anspruch nehmen. Brian Keller wird unter anderem versuchte schwere Körper­verletzung oder Gewalt und Drohung gegen Beamte vorgeworfen. Die Anklage­schrift ist den Medien­schaffenden noch nicht zugänglich gemacht worden.

Die unendliche Geschichte rund um Brian Keller ist also noch längst nicht beendet. Doch auch wenn ihn das Bundes­gericht mit dem neusten Urteil nicht aus der Sicherheits­haft befreit hat: Seine Rechts­anwälte können jederzeit neue Haftentlassungs­gesuche stellen.

Ein für Keller positives Signal aus Lausanne gab es bereits Ende Juni: Das höchste Gericht hiess eine seiner Beschwerden gut, die drei Ärzte der Psychiatrischen Universitäts­klinik Zürich betrifft.

Die drei Männer waren verantwortlich dafür, dass der damals 16-Jährige im September 2011 dreizehn Tage lang an ein Spital­bett gefesselt und mit einem Medikamenten­cocktail ruhig­gestellt worden war. Das Zürcher Ober­gericht hatte die Ärzte im Oktober 2021 vom Vorwurf der Freiheits­beraubung freigesprochen – nun muss es den Fall nochmals verhandeln. Es habe sich zu wenig mit einem psychiatrischen Gutachten auseinander­gesetzt, das die Behandlung Kellers notabene als nicht zulässig bezeichnet hatte.

Die Einschätzungen von Psychiatern spielen beim Umgang mit dem heute 27-jährigen Keller eine grosse Rolle; der Berg an Gutachten, die bisher erstellt wurden, wächst kontinuierlich. Spätestens in den kommenden Verfahren und Prozessen dürfte auch eine Stimme aus Deutschland eine gewichtige Rolle spielen.

Das Anwaltstrio von Brian Keller – Philip Stolkin, Bernard Rambert und Thomas Häusermann – hat bei Strafrechts­professor Frank Meyer von der Universität Heidelberg ein Gutachten darüber erstellen lassen, ob die andauernde Inhaftierung ihres Mandanten im Einklang mit der Europäischen Konvention für Menschen­rechte stehe.

Meyers Antwort auf 44 Seiten fällt eindeutig aus: Nein. Und zwar gleich mehrfach nicht.

Auch die jüngste psychiatrische Begutachtung Kellers wird vom Heidel­berger Professor harsch kritisiert – die Methodik, die fehlende Neutralität des Gutachters oder die fehlenden Voraus­setzungen für eine Inhaftierung. Um nur einen Satz aus Meyers Expertise zu zitieren:

«Ein Gutachten müsste sich ferner mit der neuralgischen Frage befassen, inwiefern die in Rede stehenden Taten nicht (zumindest auch) durch die Weigerung der Zürcher Justiz zu erklären sind, dem Betroffenen eine Chance zu geben, und ihn stattdessen fortlaufend, jahrelang besonders harten und international wiederholt gerügten Vollzugs­bedingungen zu unterwerfen.»

Hier finden Sie das Urteil 7B_188/2023 vom 24. Juli 2023 ; Urteil 6B_356/2022 vom 23. Juni 2023 (zu den drei Ärzten).

Wenn Sie weiterhin unabhängigen Journalismus wie diesen lesen wollen, handeln Sie jetzt: Kommen Sie an Bord!