Die unendliche Haftgeschichte des Brian Keller
Urteile hüben und drüben, höchstgerichtliche Bedenken, ein Gefängnisaufenthalt, der kein Ende nimmt – und der neuste Prozesstermin: die jüngsten Entwicklungen im Fall des schweizweit bekannten Gefangenen.
Von Brigitte Hürlimann, 28.07.2023
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Seit siebeneinhalb Jahren sieht Brian Keller, heute 27 Jahre alt, die Welt nur noch durch Gitterstäbe.
Mauern versperren den Blick in die Umgebung.
Die Türen werden von aussen abgeschlossen.
Und soeben hat das Bundesgericht entschieden, dass sich dieser Zustand nicht so bald ändern wird – einmal mehr, muss man sagen. Doch es fehlt nicht an mahnenden Worten an die zuständigen Zürcher Behörden zum Umgang mit dem bekanntesten Langzeitinsassen der Schweiz.
Auch dies nicht zum ersten Mal.
Für alle, die den Überblick verloren haben: Keller befindet sich derzeit in Sicherheitshaft, und zwar im Gefängnis Zürich. Zuvor war er in Untersuchungshaft, vorher ebenfalls in Sicherheitshaft und noch weiter zurück im Strafvollzug. Den grössten Teil der Knastzeit verbrachte er in der Strafanstalt Pöschwies und dort unter einem einzigartig strengen, international gerügten Haftregime. Dazu nur ein paar Stichworte: immer allein, in der Zelle und im Minihof, Hofgang nur an Händen und Füssen gefesselt und nur unter der Woche, samstags oder sonntags nie. Besuche nur hinter Panzerglas – und ebenfalls an Händen und Füssen gefesselt.
Egal, mit welchen Fragen sich das Bundesgericht rund um Brian Keller beschäftigen muss (es sind viele): In den neueren Urteilen aus Lausanne ist konsequent von «Isolationshaft» die Rede, wenn es um den Vollzug in der Pöschwies geht. Ende Januar 2022 wird der Insasse ins Gefängnis Zürich verlegt, in den normalen Vollzug. Seither kommt es zu keinen nennenswerten Vorfällen mehr.
Anders als zuvor, in der Isolationshaft.
Wegen dieser Ereignisse in der Pöschwies beziehungsweise wegen gut 30 Vorwürfen der Zürcher Staatsanwaltschaft befindet sich Keller heute erneut in Sicherheitshaft. Sie kann angeordnet werden, wenn gegen eine Person eine Anklageschrift eingereicht worden ist und der Strafprozess noch aussteht. Weitere Voraussetzungen sind: Die beschuldigte Person wird eines Vergehens oder Verbrechens dringend verdächtigt und es besteht eine Wiederholungsgefahr schwerer Taten, die bereits früher begangen worden sind. Sicherheitshaft darf jedoch nur zurückhaltend angeordnet werden, als Ultima Ratio, wenn keine milderen Massnahmen möglich sind.
Bei Brian Keller ist vor allem die Wiederholungsgefahr umstritten. Diese wird nun vom Bundesgericht bejaht – allerdings mit Bedenken. Das höchste Gericht weist eine Beschwerde gegen den Verbleib in der Sicherheitshaft ab und erklärt sie für zulässig. Das fünfköpfige Richtergremium zitiert vor allem aus einem früheren Bundesgerichtsentscheid, bei dem es um die Untersuchungshaft Kellers ging.
An der höchstrichterlichen Argumentation irritiert, dass für die Bestätigung der Wiederholungsgefahr auf ein Ereignis in der Pöschwies zurückgegriffen wird, das noch nicht rechtskräftig beurteilt wurde. Kellers Anwälte sagen, damit werde die Unschuldsvermutung ihres Klienten verletzt. Sie rügen ein psychiatrisches Kurzgutachten, das nach Anweisung des Zürcher Obergerichts auf einer «Schuldvermutung» basiert – und eine Rückfallgefahr bejaht.
Die Anwälte weisen ausserdem zum wiederholten Male darauf hin, dass ihr Mandant die ihm vorgeworfenen rund 30 Delikte ja im Gefängnis begangen habe, in der Pöschwies, im Isolationsregime, das von ihnen und von internationalen Experten als Folter bezeichnet wird.
Wie soll eine Rückfall- oder Wiederholungsgefahr ausserhalb der Gitter und Mauern möglich sein, wenn jemand im Gefängnis aufbegehrt hat? Und nur deshalb vor dem Strafrichter antraben muss?
Das Bundesgericht lässt durchblicken, dass es mit dem Verlauf der Causa Brian Keller nicht zufrieden ist – auch wenn es die Beschwerde abweist. Die Bemerkungen auf den letzten paar Urteilsseiten lassen aufhorchen. Das höchste Gericht schliesst sich Brian Kellers Kritik am neusten psychiatrischen Kurzgutachten in wesentlichen Punkten an. Der Gutachter erkenne Hinweise auf eine depressive Entwicklung wegen der früheren Isolationshaft, vermöge diese aber «nicht klar zu erfassen». Ebenso wenig könne er sagen, ob die Taten in der Pöschwies aufgrund einer Retraumatisierung geschehen seien. Die Haftbedingungen dort seien kaum in die Prognosestellung eingeflossen.
Seit seiner Verschiebung ins Gefängnis Zürich verhält sich der Insasse gut. Aber auch das wird vom Gutachter nicht gewürdigt. All dies führt zur Feststellung des Bundesgerichts, dass die Frage der Wiederholungsgefahr auch anders hätte entschieden werden können. Um dann wieder zurückzukrebsen und zu sagen: «Geradezu unhaltbar ist es jedoch nicht, wenn die Vorinstanzen, gestützt auf das Gutachten, von einer ungünstigen Prognose ausgehen.»
Am Schluss rügt das Bundesgericht auch noch die Zürcher Staatsanwaltschaft, die mit der Eröffnung ihrer Strafuntersuchung der Vorfälle viel zu lange gewartet habe. Es war im November letzten Jahres gewesen – drei Tage bevor Brian Keller aus der Haft entlassen worden wäre.
Doch eben, inzwischen haben die Strafverfolger ihre Anklageschrift wegen diverser Vorfälle in der Pöschwies beim Bezirksgericht Dielsdorf eingereicht. Der Prozessauftakt ist auf den 30. Oktober 2023 geplant, die Verhandlung dürfte mehrere Tage in Anspruch nehmen. Brian Keller wird unter anderem versuchte schwere Körperverletzung oder Gewalt und Drohung gegen Beamte vorgeworfen. Die Anklageschrift ist den Medienschaffenden noch nicht zugänglich gemacht worden.
Die unendliche Geschichte rund um Brian Keller ist also noch längst nicht beendet. Doch auch wenn ihn das Bundesgericht mit dem neusten Urteil nicht aus der Sicherheitshaft befreit hat: Seine Rechtsanwälte können jederzeit neue Haftentlassungsgesuche stellen.
Ein für Keller positives Signal aus Lausanne gab es bereits Ende Juni: Das höchste Gericht hiess eine seiner Beschwerden gut, die drei Ärzte der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich betrifft.
Die drei Männer waren verantwortlich dafür, dass der damals 16-Jährige im September 2011 dreizehn Tage lang an ein Spitalbett gefesselt und mit einem Medikamentencocktail ruhiggestellt worden war. Das Zürcher Obergericht hatte die Ärzte im Oktober 2021 vom Vorwurf der Freiheitsberaubung freigesprochen – nun muss es den Fall nochmals verhandeln. Es habe sich zu wenig mit einem psychiatrischen Gutachten auseinandergesetzt, das die Behandlung Kellers notabene als nicht zulässig bezeichnet hatte.
Die Einschätzungen von Psychiatern spielen beim Umgang mit dem heute 27-jährigen Keller eine grosse Rolle; der Berg an Gutachten, die bisher erstellt wurden, wächst kontinuierlich. Spätestens in den kommenden Verfahren und Prozessen dürfte auch eine Stimme aus Deutschland eine gewichtige Rolle spielen.
Das Anwaltstrio von Brian Keller – Philip Stolkin, Bernard Rambert und Thomas Häusermann – hat bei Strafrechtsprofessor Frank Meyer von der Universität Heidelberg ein Gutachten darüber erstellen lassen, ob die andauernde Inhaftierung ihres Mandanten im Einklang mit der Europäischen Konvention für Menschenrechte stehe.
Meyers Antwort auf 44 Seiten fällt eindeutig aus: Nein. Und zwar gleich mehrfach nicht.
Auch die jüngste psychiatrische Begutachtung Kellers wird vom Heidelberger Professor harsch kritisiert – die Methodik, die fehlende Neutralität des Gutachters oder die fehlenden Voraussetzungen für eine Inhaftierung. Um nur einen Satz aus Meyers Expertise zu zitieren:
«Ein Gutachten müsste sich ferner mit der neuralgischen Frage befassen, inwiefern die in Rede stehenden Taten nicht (zumindest auch) durch die Weigerung der Zürcher Justiz zu erklären sind, dem Betroffenen eine Chance zu geben, und ihn stattdessen fortlaufend, jahrelang besonders harten und international wiederholt gerügten Vollzugsbedingungen zu unterwerfen.»
Hier finden Sie das Urteil 7B_188/2023 vom 24. Juli 2023 ; Urteil 6B_356/2022 vom 23. Juni 2023 (zu den drei Ärzten).