Uno-Sonder­berichterstatter für Folter interveniert im Fall Brian

Heute Mittwoch beginnt der Berufungs­prozess gegen den als «Carlos» bekannt gewordenen Straftäter und langjährigen Gefängnis­insassen Brian. Parallel dazu kommt es zu Interventionen auf internationaler Ebene: wegen der rigiden und langen Isolationshaft des 25-Jährigen.

Von Brigitte Hürlimann, 26.05.2021, Update: 22.30 Uhr

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Versuchte schwere Körper­verletzung, einfache Körper­verletzung, Sach­beschädigung, Drohung und einiges mehr, insgesamt über dreissig Vorwürfe: Das sind die Delikte, die heute am Berufungs­prozess vor dem Zürcher Obergericht verhandelt werden. Alle haben sich innerhalb von Gefängnis­mauern ereignet. Der Beschuldigte heisst Brian und ist schweizweit unter dem Pseudonym Carlos bekannt geworden – er geniesst in der breiten Öffentlichkeit keinen besonders guten Ruf.

In der neusten Prozess­runde ficht er eine Freiheits­strafe von 4 Jahren und 9 Monaten an, die das Bezirks­gericht Dielsdorf im November 2019 ausgesprochen hat. In erster Linie aber wehrt er sich gegen die ebenfalls verhängte «kleine Verwahrung». Der Staats­anwalt hatte eine deutlich längere Freiheits­strafe gefordert (7 Jahre und 6 Monate) sowie die ordentliche Verwahrung. Es ist nicht auszuschliessen, dass der Ankläger diese Anträge im Berufungs­prozess wiederholen wird.

Brian lässt sich vor Obergericht neu von einem Anwalts­trio verteidigen. Neben Rechts­anwalt Thomas Häusermann werden zusätzlich noch Bernard Rambert und der Menschenrechts­experte Philip Stolkin plädieren. Den beiden neuen Anwälten im Team geht es vor allem um ein Thema: die ungewöhnlich rigiden Haft­bedingungen, denen Brian seit Mitte August 2018 fast ununterbrochen ausgesetzt ist, seit bald drei Jahren.

Ich will es genauer wissen: Die Gerichtsverhandlung

Der Berufungs­prozess von Mittwoch ist am Abend ohne Urteils­eröffnung unterbrochen worden. Die Anträge der Parteien gehen diametral auseinander. Staats­anwalt Ulrich Krättli forderte erneut eine deutlich längere Freiheits­strafe als vom Bezirks­gericht Dielsdorf ausgesprochen und vor allem die Verhängung der ordentlichen Verwahrung. Brian, so der Ankläger, sei hochgefährlich, aggressiv und gewalt­tätig, es drohten weitere schwere Delikte. Zudem sei der junge Mann nicht therapie­willig, weshalb nur die Verwahrung infrage komme.

Auf die vom Verteidiger­trio vorgelegten nationalen und internationalen Expertisen, die von einer Folterung des Insassen ausgehen (wegen der lang­andauernden Isolations­haft), sowie auf die Intervention des Uno-Sonder­bericht­erstatters für Folter, ging der Staats­anwalt mit keinem Wort ein. Krättli sprach lediglich von «Behauptungen der Verteidigung». Und dass man das Wort Folter an diesem Prozess­tag sehr oft gehört habe.

Das trifft allerdings zu. Die mehrfach dokumentierten Folter­vorwürfe sind der Haupt­grund dafür, dass die drei Verteidiger einen Freispruch für Brian verlangten – und seine sofortige Freilassung aus der Sicherheits­haft. Letzteres wies der Gerichts­vorsitzende Christian Prinz ab.

Über Schuld oder Unschuld, über Verwahrung oder aber Genugtuungs- und Entschädigungs­zahlungen an den Inhaftierten wird das dreiköpfige Richter­gremium im Geheimen beraten. Das Urteil soll mündlich eröffnet werden, an einem noch unbekannten Datum. Bestritten ist in diesem Straf­fall alles, auch der Haupt­vorwurf, Brian habe im Juni 2017 im Gefängnis Pöschwies einem Aufseher gezielt und wuchtig mit der Faust gegen den Kopf geschlagen. Klar ist, dass es zu einem Gerangel kam und der Aufseher leichte Verletzungen erlitt. Der genaue Ablauf des Vorfalls ist höchst umstritten – doch es ist dieses Ereignis, das der Staats­anwalt zum Anlass nimmt, eine Verwahrung für den jungen Mann zu fordern. Diese komme einem Todes­urteil gleich, so einer der Verteidiger.

Ein winziger Spazierhof

Der 25-Jährige befindet sich in Sicherheits­haft – nicht im Straf­vollzug, weil das Urteil gegen ihn noch nicht rechts­kräftig geworden ist. Es gilt also nach wie vor die Unschulds­vermutung, und trotzdem wurde Brian ins Hochsicherheits­gefängnis Pöschwies im zürcherischen Regensdorf verlegt. Dort verbringt er seine Tage isoliert in einer Zelle: ohne Kontakt zu den Mitinsassen, ohne Beschäftigung oder Ausbildung und ohne die Möglichkeit, sich sportlich zu betätigen.

Besuche mit seiner Familie sind nur hinter Panzer­glas möglich; in einer engen Kabine mit miserabler Akustik. Betreut wird er unter anderem von jenen Gefängnis­aufsehern, die ihn im laufenden Straf­verfahren schwer belasten. Mehr als zwei Jahre lang durfte Brian in der Pöschwies nur von Montag bis Freitag täglich eine Stunde in einem kleinen Spazierhof verbringen, gefesselt an Händen und Füssen – und stets allein. Samstags und sonntags blieb er durchgehend in der Zelle eingesperrt. Diese Situation hat sich seit einigen Wochen geändert, der Hofgang findet nun ohne Fesselung und jeden Tag statt; in einem neuen, speziell errichteten, winzigen Hof. Die Isolierung des jungen Insassen bleibt unverändert bestehen.

«Genügend Anhalts­punkte für eine Intervention»

Rechtsanwalt Stolkin hat deshalb vergangene Woche eine Eingabe an den Uno-Sonder­bericht­erstatter für Folter in Genf, Nils Melzer, abgeschickt – mit der Bitte um eine dringliche Intervention, was die Haft­bedingungen seines Mandanten betrifft. Stolkin fordert, dass die Verletzung des Folter­verbots durch den Vertrags­staat Schweiz festgestellt und sein Mandant sofort freigelassen werde. Der Anwalt stützt sich bei seinen Begehren auf die Europäische Menschenrechts­konvention, die Uno-Anti-Folter­-Konvention sowie auf den Uno-Pakt II.

Auf Anfrage der Republik bestätigt Melzer den Eingang des Schreibens aus Zürich. Und er sagt: «Es gibt genügend Anhalts­punkte für eine Intervention. Es stellen sich ernsthafte menschen­rechtliche Fragen, und ich werde daher beim Schweizer Aussen­minister offiziell weitere Abklärungen verlangen. Danach hat die Schweiz sechzig Tage Zeit. Erst nach Ablauf dieser Frist werden meine Intervention und allfällige Antworten der Schweiz auf der Website des Hoch­kommissariats für Menschen­rechte publiziert. Wir wollen den Vertrags­staaten Raum für mögliche Lösungen und Reaktionen geben, sie sollen sich organisieren können. Wir gehen nicht von Anfang an auf Konfrontation.»

Die Tatsache, dass der Uno-Sonder­bericht­erstatter in diesem Fall bei der Schweizer Regierung interveniert, ist zwar nicht geheim, doch deren Inhalt bleibt während der sechzig­tägigen Frist vertraulich. Deshalb darf sich Melzer in der Sache selbst zurzeit nicht äussern. Er weist jedoch darauf hin, dass er täglich zehn bis fünfzehn Anfragen bekomme und davon aus Kapazitäts­gründen höchstens eine behandeln könne – nur das Allerdringendste.

Der Sonder­bericht­erstatter ist sich bewusst, dass seine Intervention bei der Schweizer Regierung den zweit­instanzlichen Straf­prozess in Zürich nicht stoppen wird. «Das ist auch nicht meine Absicht. Dennoch hoffe ich, dass bis zum Ablauf der sechzig­tägigen Frist kein Fait accompli geschaffen wird, sondern allfällige menschen­rechtliche Empfehlungen unsererseits noch berücksichtigt werden können.»

Hauptthema der Eingabe Stolkins an den Uno-Sonder­bericht­erstatter ist die seit bald drei Jahren andauernde Einzelhaft und Isolierung Brians. Ähnliche Fragen beschäftigten Nils Melzer auch bei seinen Interventionen im Fall des Wikileaks-Gründers Julian Assange – wobei es dort zusätzlich noch um gravierende, staats­übergreifende Verfahrens­fehler ging und bis heute geht. Was die Haft­bedingungen von Assange betrifft, kritisierte Melzer im Januar letzten Jahres gegenüber der Republik die «fast vollständige Isolations­haft». Jeglicher Kontakt mit anderen Insassen sei Assange verweigert worden, er zeige «die typischen Symptome psychologischer Folter».

Nils Melzer besucht seit vielen Jahren und auf der ganzen Welt Gefängnis­insassen; seit 2016 als Uno-Sonder­bericht­erstatter für Folter, zuvor zwölf Jahre lang als Delegierter für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Zum Thema Isolations­haft sagt er generell, diese verstärke die zugrunde liegenden Probleme eher und sei in aller Regel keine langfristige Lösung. Es müsse stets darum gehen, für jeden Insassen die menschlichste Haftform zu finden; die Vollzugs­behörden dürften es sich nicht zu einfach machen.

Melzer verweist auf die Nelson-Mandela-Regeln der Vereinten Nationen, welche die weltweit geltenden Mindest­grundsätze im Umgang mit Gefangenen festhalten. Langzeit-Einzelhaft gilt als grausam, unmenschlich und entwürdigend – und sie ist verboten. Als Einzelhaft wird «die Absonderung eines Gefangenen für mindestens 22 Stunden pro Tag ohne wirklichen zwischen­menschlichen Kontakt» bezeichnet. Und von Langzeit-Einzelhaft ist gemäss Mandela-Regeln bei einer Isolierung von mehr als 15 aufeinander­folgenden Tagen die Rede.

Der US-Folterexperte äussert sich schockiert

Doch nicht nur der Uno-Sonder­bericht­erstatter für Folter interveniert wegen der Haft­bedingungen von Brian. Rechts­anwalt Stolkin ist auch beim International Rehabilitation Council for Torture Victims (IRCT) vorstellig geworden, dem international grössten Dach­verband zur Unterstützung von Folter­opfern mit Sitz in Kopenhagen und Zentren in 76 Staaten. Das IRCT kümmert sich unter anderem um die Einhaltung des Istanbul-Protokolls; eines von der Uno angewandten Hand­buchs zur Erkennung, Dokumentierung und Bekämpfung von Folter.

James Lin vom IRCT äussert sich im Gespräch mit der Republik schockiert über die Haft­bedingungen des 25-jährigen Brian. Damit würden ganz klar internationale Mindest­standards verletzt, es fehle an jeglicher Legalität. Auch der US-Folter­experte erinnert daran, dass Einzel­haft ab 15 Tagen verboten sei. Zudem müssten die isolierten Häftlinge vom ersten Tag ihrer Einzelhaft an täglich von einem Arzt untersucht werden – wegen der drohenden physischen und psychischen Schäden. Dies, so Lin, werde unter anderem von den europäischen Gefängnisregeln verlangt.

«Die Auswirkungen von Isolations­haft sind gut dokumentiert. Es ist mit bleibenden Schädigungen und Persönlichkeits­veränderungen zu rechnen. Dies übrigens auch in modernen und hygienischen Zellen – dort können die gesundheitlichen Probleme wegen der sensorischen Entbehrungen sogar noch schlimmer sein und das Trauma der Isolation verstärken.» Was die Haft­bedingungen von Brian betreffe, sagt James Lin, entsprächen diese in hohem Masse der Definition von Folter und anderen unmenschlichen, erniedrigenden Behandlungen.

Kein Verständnis zeigt Lin für das Argument der Zürcher Strafvollzugs­behörde, dass der Insasse diese unmenschliche Behandlung durch sein Verhalten provoziere. Es sei längst bekannt, sagt der Folter­experte, wie Gefangene auf Isolations­haft reagierten – mit Angst- und Panik­attacken, Depressionen, Wahrnehmungs- und Konzentrations­störungen, mit Suizid­gedanken oder mit einer extremen Reizbarkeit.

Wink mit dem Zaunpfahl auch vom Bundesgericht

Mahnende Worte an den Zürcher Justiz­vollzug kommen übrigens nicht zum ersten Mal. Im April hat das Bundes­gericht in einem Urteil festgehalten, die «sehr restriktiven Haft­bedingungen» Brians liessen sich «zurzeit noch» rechtfertigen. Bei einem längeren Freiheits­entzug und einem unveränderten Regime könne sich aber die Frage eines «menschen­würdigen Vollzugs» stellen. Es brauche «alle möglichen Anstrengungen für angepasste und grundsätzlich zunehmend zu lockernde Haftbedingungen».

Die Republik wollte damals von der Zürcher Abteilung Justiz­vollzug und Wieder­eingliederung (JuWe) wissen, ob man aufgrund des höchst­gerichtlichen Urteils allenfalls Änderungs­bedarf beim Umgang mit Brian sehe. Die Antwort des JuWE: «Wir diskutieren diesen komplexen Fall mit Fachleuten und suchen ständig nach neuen Lösungen.» Weitere Auskünfte seien wegen des Persönlichkeits­schutzes des Insassen und wegen des Amts­geheimnisses nicht möglich.

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