Wer brachte den Sonder­ermittler auf den «Fall Berset»?

Staatsanwalt Peter Marti stellt mehrere Strafverfahren ein. Gegen Alain Bersets ehemaligen Medienchef ermittelt er aber weiter. Wie geriet dieser eigentlich unter Verdacht? Eine Spurensuche.

Von Lukas Häuptli, 16.03.2023

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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Bis jetzt ging die mediale Erzählung im «Fall Berset» so: Zuerst ermittelte der ausser­ordentliche Staatsanwalt Peter Marti wegen Crypto-Indiskretionen. Dann machte er einen «Zufallsfund» und stiess auf Mails von Peter Lauener, dem ehemaligen Medienchef von Bundes­präsident Alain Berset. Und dann ermittelte Marti wegen Corona-Indiskretionen.

Nur ist diese Erzählung in einem entscheidenden Punkt falsch: Es gab keinen «Zufallsfund». Marti hatte gezielt nach Laueners Mails gesucht.

Daraus ergeben sich Fragen, die tief ins Fundament des Rechts­staats reichen.

Zur Erinnerung: Es war der 14. Januar 2023, ein Samstag, als die Zeitungen von CH Media Auszüge aus Einvernahme­protokollen und Mails aus einem Straf­verfahren gegen Lauener veröffentlichten. Und die CH-Media-Artikel legten nahe, dass das Departement des Gesundheits­ministers während der Corona-Pandemie eine «Stand­leitung» zum Medien­konzern Ringier und zu dessen CEO Marc Walder unterhielt. So habe das Departement Ringier mit gezielten Indiskretionen zur Pandemie­politik versorgt und damit nicht nur die öffentliche Wahrnehmung, sondern auch die Entscheide des Gesamt­bundesrats beeinflusst.

Bereits einen Tag nach der Veröffentlichung forderte SVP-Nationalrat Alfred Heer in der «SonntagsZeitung» Bersets Rücktritt, danach bestimmte der Fall während Wochen die Schlagzeilen.

Am Anfang des «Falls Berset» stand allerdings ein ganz anderer Verdacht. Vor zweieinhalb Jahren hatten die NZZ und die Zeitungen von Tamedia Inhalte des sogenannten Crypto-Berichts veröffentlicht, bevor dieser offiziell publiziert wurde. Ein erster Artikel erschien im Oktober 2020, ein zweiter und ein dritter im November 2020. Diese basierten, so der Verdacht, auf Amtsgeheimnis­verletzungen von Personen, die über einen Entwurf des Crypto-Berichts verfügten.

Um die mutmasslichen Amtsgeheimnis­verletzungen aufzuklären, setzte die Aufsichtsbehörde über die Bundes­anwaltschaft im Januar 2021 Peter Marti als ausser­ordentlichen Staatsanwalt ein. Bald darauf eröffnete dieser ein Strafverfahren.

Doch wie kam es dazu, dass Marti gezielt nach Laueners Mails suchte? Die Republik zeichnet die Ermittlungen des Sonder­ermittlers im Detail nach, die zum «Fall Berset» führten.

Die zentralen Fragen dabei sind:

  • Wann ermittelte Marti was?

  • Warum hatte Marti welchen Verdacht?

  • Welche Hinweise erhielt Marti von Dritten?

Und vor allem:

  • Hatten diese Dritten eine politische Agenda?

Entlang dieser Fragen hat die Republik mit rund einem Dutzend Personen gesprochen, zahlreiche Akten gesichtet und Einschätzungen von Experten eingeholt. Viele redeten nur unter der Zusicherung, dass ihr Name im Artikel nicht erwähnt wird. Andere sagten gar nichts, zum Beispiel der ausser­ordentliche Staats­anwalt Peter Marti.

Er hielt in einer Mail lediglich fest: «Es ist so, dass ich aus grundsätzlichen Überlegungen aus pendenten Verfahren nicht berichte.» Und: «Öffentlich sind die Straf­untersuchungen nicht, erst die Gerichts­verfahren. Daher fällt es mir schwer zu glauben, Ihnen irgend­welche Informationen geben zu können.»

Vier Verfahren werden eingestellt

Martis bisherige Ermittlungen lassen sich in vier Phasen unterteilen.

In einer ersten führte Marti sein Verfahren gegen unbekannt.

In einer zweiten, ab Frühling 2021, ermittelte Marti gegen vier Personen. Er verdächtigte drei der Amtsgeheimnis­verletzung im Crypto-Fall und eine vierte der Anstiftung dazu. Bei den ersten drei handelte es sich um Peter Lauener, den ehemaligen Medienchef von SP-Bundes­präsident Alain Berset; um Markus Seiler, den General­sekretär von FDP-Bundesrat Ignazio Cassis; sowie um Cassis’ Medienchef. Vierter Beschuldigter war ein Journalist von Tamedia, der seinerzeit an den beiden Artikeln über den Crypto-Bericht mitgearbeitet hatte. Im Rahmen dieser Ermittlungen stellte Marti auch den Mailverkehr zwischen Lauener und Ringier-CEO Walder sicher.

In einer dritten Phase – im Frühling 2022 – liess Marti Lauener, Seiler und Cassis’ Medienchef vorübergehend festnehmen und führte mit ihnen (sowie mit Gesundheits­minister Berset) Einvernahmen durch. Für Lauener beantragte Marti auch Untersuchungshaft – allerdings ohne Erfolg. In der gleichen Zeit liess er mehrere Haus­durchsuchungen durchführen.

Und jetzt – in einer vierten Phase – schliesst Peter Marti seine Crypto-Untersuchungen ab. Er hat den vier Beschuldigten dieser Tage mitgeteilt, dass er die Strafverfahren gegen sie einstellen werde. Das bestätigen gut informierte Personen unabhängig voneinander. Mit anderen Worten: Der Verdacht, dass die Beschuldigten für allfällige Amtsgeheimnis­verletzungen im Fall Crypto verantwortlich sind, hat sich nicht erhärtet.

Weiterführen will Peter Marti dagegen das Straf­verfahren wegen Verdacht auf Amtsgeheimnis­verletzung im Rahmen der Corona-Indiskretionen. Sein einziger übrig gebliebener Verdächtiger: Peter Lauener.

Nur: Wie war der Sonderermittler im Frühling 2021 überhaupt auf seinen Verdacht gegen Bersets damaligen Medienchef gekommen?

Die Frage ist von grundsätzlicher Bedeutung und reicht weit über den konkreten Fall hinaus. Es geht bei ihr um das Recht auf ein faires Verfahren. Ein Staats­anwalt darf gegen eine Person nämlich nur dann eine Untersuchung einleiten, wenn er gegen sie einen Anfangs­verdacht hat. Dieser Grundsatz soll Bürgerinnen vor willkürlichen Ermittlungen schützen. Schliesslich verfügen Staats­anwälte über weitreichende Befugnisse: Sie können Personen verhaften, Häuser durchsuchen oder Bankdaten und E-Mails sicherstellen.

Hatte Marti im Verfahren gegen Lauener, Seiler und die zwei weiteren Beschuldigten also einen begründeten Anfangs­verdacht?

Das ist sehr fraglich.

Martis Ermittlungs-Lücke

Als Peter Marti im Januar 2021 als ausserordentlicher Staatsanwalt im Fall Crypto eingesetzt wurde, befand er sich bereits seit vier Jahren im Ruhestand. Davor war er während Jahren Zürcher Ober­richter gewesen, nach Jahren als Winterthurer Bezirks­anwalt. Von 1995 bis 1999 sass er für die SVP auch im Zürcher Kantonsrat.

Marti besass am Anfang seiner Ermittlungen also drei Trümpfe: Er hatte viel Erfahrung. Er hatte viel Zeit. Und er musste nur dieses eine Verfahren führen.

Der Staatsanwalt stand aber auch vor einem Problem. Der Kreis der Verdächtigen war sehr gross. Über den geheimen Entwurf des Crypto-Berichts hatten mehrere Dutzend Personen verfügt. Einige sprechen von «mindestens dreissig», andere von «bis zu hundert». Alle diese Personen kamen als Beschuldigte für die mutmasslichen Amtsgeheimnis­verletzungen infrage.

Deshalb tat Marti als Erstes das, was Ermittler in solchen Fällen immer tun: Er führte Einvernahmen mit den Journalisten durch, welche die geheimen Crypto-Informationen veröffentlicht hatten. Das waren zwei Journalisten der NZZ und vier von Tamedia.

Die Einvernahmen fanden im März und April 2021 statt und ergaben – nichts. Das war keine Überraschung. Schliesslich sagen Journalisten in Einvernahmen praktisch nie aus, sondern berufen sich auf den Informanten­schutz.

Deshalb führte der Sonder­ermittler sein Verfahren Ende April 2021 noch immer gegen unbekannt. Er hatte schlicht keine Hinweise auf Täterinnen.

Dann tat er während mindestens einem Monat nichts. Zumindest nichts, was er in den Akten festgehalten hätte.

Und trotzdem verdächtigte er einen Monat später nicht nur Markus Seiler und Cassis’ Medienchef, sondern – wie aus dem Nichts – jetzt auch Peter Lauener der Amtsgeheimnis­verletzung. Sowie einen Tamedia-Journalisten der Anstiftung dazu.

Plötzlich hatte Marti seinen Anfangsverdacht.

Diesen begründete er mit einer «Arbeits­hypothese», wie er es selbst nannte. Sie ging so: Eine Amtsgeheimnis­verletzung ist Teil eines Gegen­geschäfts zwischen Behörden und Medien. Die Behörden liefern den Medien Indiskretionen, worauf die Medien positiv über die Behörden schreiben. Oder umgekehrt: Erst schreiben sie positiv, dann erhalten sie Indiskretionen. Auf diese Weise erreichten die Behörden, so Marti, «impact control».

Im «Fall Crypto» sahen seine «Arbeits­hypothesen» so aus:

Markus Seiler und Cassis’ Medienchef versorgten zwei NZZ-Journalisten mit Teilen des geheimen Berichts­entwurfs. Im Gegenzug rückten diese Seilers Rolle im Fall «Crypto» in ein gutes Licht.

Und: Ein Tamedia-Journalist würdigte im Buch «Lockdown» Bersets Rolle in der Corona-Pandemie. Darauf belieferte Bersets Medienchef Peter Lauener den Journalisten mit Informationen aus dem Crypto-Bericht.

Allerdings hatte Marti für seine Thesen kaum Beweise. Im Gegenteil: Der Tamedia-Journalist war lediglich einer von insgesamt vierzehn Verfasserinnen des Buchs «Lockdown». Und zur fraglichen Zeit hatte er auch äusserst kritisch über Berset und sein Departement geschrieben.

«Diktator Berset»

Umso mehr stellt sich die Frage: Haben Dritte Marti darauf hingewiesen, bei Lauener genauer hinzuschauen? Dritte mit einer politischen Agenda gar?

Das ist nicht zu beweisen.

Fest steht aber: Seit Ausbruch der Corona-Pandemie standen Alain Berset und sein Medienchef Peter Lauener in der Dauerkritik – vor allem von der SVP. Diese bemängelte die Massnahmen­politik des Gesundheits­ministers in immer schrilleren Tönen. Die Kampagne erreichte ihren Tiefpunkt im Februar 2021, als SVP-Stratege Christoph Blocher Bundesrat Alain Berset mit einem Diktator gleichsetzte. Später folgten Tochter Magdalena Martullo-Blocher sowie weitere Partei­verantwortliche mit ähnlichen Aussagen.

Kurz zuvor hatte eine Liebes­affäre von Berset für Schlag­zeilen gesorgt. Diese hatte die SVP-nahe «Weltwoche» im Dezember 2020 öffentlich gemacht.

Mit anderen Worten: Alain Berset war für die SVP spätestens ab Anfang 2021 ein rotes Tuch.

Deshalb ist nicht auszuschliessen, dass Bersets politische Gegner Marti zwischen Januar und Juni 2021 den Hinweis gaben, es gebe eine auffallende Nähe zwischen dem Departement des Gesundheits­ministers einerseits und den Medien­konzernen Tamedia und Ringier andererseits.

Alle angefragten SVP-Vertreter bestreiten kategorisch, Einfluss auf Marti genommen, ja überhaupt Kontakt mit ihm gehabt zu haben.

Ein Indiz für die Nähe zwischen Bersets Departement und den Medien­konzernen hätte der später geleakte Mailverkehr zwischen Lauener und Ringier-CEO Walder sein können.

Hätte.

Denn im Juni 2021 wusste Marti vom Mail­verkehr noch gar nichts. Dieser konnte also nicht Grundlage für seinen Anfangs­verdacht gegen Lauener gewesen sein. Kenntnis davon hatten lediglich Dritte, etwa Mitarbeiterinnen des Bundesamts für Informatik und Telekommunikation (das zum Departement des damaligen SVP-Bundesrats Ueli Maurer gehörte) sowie Mitarbeiter von Swisscom. Über deren Server liefen Laueners geschäftliche und private Mails.

«Ein ausgeprägter Strafverfolgungs­wille»

Während der Corona-Pandemie haben sich die Strafverfahren wegen Verdacht auf Amtsgeheimnis­verletzungen auffallend gehäuft. Allein von 2021 bis 2022 ist ihre Zahl um rund 40 Prozent gestiegen, wie Linda von Burg, Sprecherin der Bundes­anwaltschaft sagt. Allerdings enden die meisten dieser Untersuchungen im Nichts. Weil einerseits der Kreis der Verdächtigen sehr gross ist. Und weil andererseits die Staats­anwältinnen des Bundes schwerere Straftaten aufklären müssen als Indiskretionen.

Marti dagegen hatte als ausser­ordentlicher Staatsanwalt des Bundes nur einen einzigen Fall zu untersuchen. Und er stand seit seiner Zeit als Winterthurer Bezirksanwalt im Ruf, gegen Verdächtige mit besonderer Härte vorzugehen. «Er verfügt über einen ausgeprägten Strafverfolgungs­willen», sagt eine Person, die ihn sehr gut kennt.

Das zeigte sich auch im weiteren Verlauf seiner Ermittlungen:

Im September 2021 verfügte Marti beim Bundesamt für Informatik und Telekommunikation (BIT) die Herausgabe von Laueners Geschäftsmails. Der Staatsanwalt verlangte die elektronische Korrespondenz von sechs Wochen, erhielt vom BIT aber Laueners gesamte Mail-Box. Dieser war beim Bund seit 2012 angestellt. Ein Teil dieser Mails wurde später geleakt und Anfang dieses Jahres von CH Media veröffentlicht.

Im Januar 2022 verfügte der Staatsanwalt, dass Swisscom Laueners Privat-Mails herausgibt. Er verlangte die Korrespondenz der letzten sechzehn Monate, erhielt aber auch da viel mehr, nämlich Laueners private Mails der letzten zehn Jahre.

Erst später, nämlich im Februar 2022, ersuchte er die Aufsichts­behörde über die Bundes­anwaltschaft, sein Mandat als ausser­ordentlicher Staatsanwalt auszuweiten. Das geschah am 1. März und war rechtliche Voraussetzung dafür, dass Marti überhaupt gegen Lauener im «Fall Corona» ermitteln durfte.

Im März 2022 liess der Sonder­ermittler Cassis’ Generalsekretär Markus Seiler an dessen Wohnort in Spiez vorübergehend festnehmen und vernahm ihn ein.

Im Mai 2022 liess Marti Peter Lauener an dessen Wohnort in Bern festnehmen. Der Staatsanwalt beantragte Untersuchungs­haft wegen Verdunkelungs­gefahr. Das Zwangs­massnahmen­gericht lehnte den Antrag aber ab, auch Martis Beschwerde gegen den Entscheid vor Bundes­strafgericht hatte keinen Erfolg. Lauener kam nach vier Tagen wieder frei. Gleichzeitig dehnte der Sonder­ermittler das Verfahren gegen ihn aus, und zwar auf den Tatbestand der «Störung der verfassungs­mässigen Ordnung der Eidgenossenschaft».

Das alles waren umstrittene Massnahmen. Es gibt Strafrechtler, die gar von «verfahrens­rechtlichen Fehlern» reden.

«Im Gesetz schlicht keine Grundlage»

So unterliess es Marti, nach der Sicher­stellung der besagten E-Mails Lauener auf dessen Siegelungsrecht hinzuweisen. Wären die E-Mails gesiegelt worden, hätte der Staatsanwalt sie erst durchsuchen dürfen, wenn ihm das vom Zwangs­massnahmen­gericht Bern erlaubt worden wäre. Ein Entscheid des Gerichts in dieser Sache steht noch immer aus.

Stefan Maeder, Assistenzprofessor für Strafrecht an der Universität Luzern, sagt dazu: «Ich bin der Meinung, dass ein Staatsanwalt einen Beschuldigten spätestens vor der Durchsuchung der sicher­gestellten Daten auf dessen Siegelungs­recht hinweisen muss – zumindest, wenn der Beschuldigte ein sogenannt Berechtigter an den Daten ist. Natürlich verstehe ich das Bedürfnis eines Ermittlers, die sicher­gestellten Daten zuerst zu sichten. Aber für ein solches Vorgehen sehe ich im Gesetz schlicht keine Grundlage.»

Daneben ist fraglich, ob Marti die Straf­verfahren gegen Lauener, Seiler und die beiden anderen Beschuldigten überhaupt hätte führen dürfen. Der Sonder­ermittler war nämlich eingesetzt worden, weil anfänglich auch Mitarbeiter der Bundes­anwaltschaft als Urheber der fraglichen Amtsgeheimnis­verletzungen infrage kamen. Dieser Verdacht wurde nach kurzer Zeit entkräftet. Damit entfiel aber die rechtliche Voraussetzung dafür, dass das Verfahren von einem ausser­ordentlichen Staatsanwalt geführt werden muss – oder geführt werden darf.

«Wenn ein ausserordentlicher Staatsanwalt des Bundes merkt, dass Staatsanwälte des Bundes als Beschuldigte nicht infrage kommen, muss er das entsprechende Verfahren meiner Meinung nach abgeben, in diesem Fall an die Bundes­anwaltschaft», sagt Maeder.

Schliesslich ist umstritten, ob Marti das Verfahren gegen Lauener auf den Tatbestand der «Störung der verfassungs­mässigen Ordnung der Eidgenossenschaft» ausweiten durfte, ohne dafür eine Ermächtigung des Bundesrats einzuholen.

Der «Gameplan»

Obwohl sich Marti «aus grund­sätzlichen Überlegungen» nicht zu hängigen Verfahren äussern will, tat er das dann doch einmal – als im Januar 2023 die Einvernahme­protokolle und Mails aus seinem Verfahren geleakt wurden.

Da sagte er der WOZ: «Hinter der Weitergabe steht ein Gameplan.»

Marti hätte auch sagen können, sein Strafverfahren sei zu politischen Zwecken instrumentalisiert worden.

Bald stellte sich nämlich heraus, dass die weiter­gegebenen Akten kaum als Beweise dafür taugten, was verschiedene Medien behaupteten: Die Protokolle und Mails würden zeigen, dass Bersets Departement mit gezielten Indiskretionen die Bericht­erstattung in den Ringier-Medien beeinflusse. Und dass es damit den Gesamt­bundesrat bei seinen Entscheiden zur Corona-Politik unter Druck setze.

Die erste Behauptung wurde unter anderem durch eine Recherche der SRF-Sendung «Rundschau» infrage gestellt, die zweite durch SVP-Bundesrat Guy Parmelin. In einem Interview mit der «NZZ am Sonntag» sagte er: «Entscheide des Bundesrats kann man so kaum beeinflussen.»

Vielleicht hatte es allerdings bereits früher einen «Gameplan» gegeben. Oder mehr als einen.

Aus Martis Verfahren waren nämlich seit Mitte letzten Jahres immer wieder Informationen in die Medien gelangt. Im Juni 2022 machte SVP-Politiker Christoph Mörgeli in der «Weltwoche» den Namen des ersten Beschuldigten öffentlich (Peter Lauener). Im Juli folgten die Tamedia-Zeitungen mit dem Namen des zweiten Beschuldigten (Markus Seiler) sowie die CH-Media-Zeitungen mit dem des dritten (Cassis’ Medienchef).

Und dann bot ein Unbekannter CH Media Einvernahme­protokolle und Mails, aber auch andere Akten aus dem Lauener-Verfahren an. Die Journalisten veröffentlichten zumindest einen Teil davon.

Wer leakte all diese Informationen?

Darauf gibt es bis jetzt keine Antworten.

Fest steht einzig, dass offiziell nur ein kleiner Kreis Zugang zu Verfahrens­akten hatte. Es sind unter anderen:

  • der ausserordentliche Staatsanwalt Peter Marti;

  • Polizisten der Zürcher Kantonspolizei, die für Marti ermittelten;

  • das Zwangsmassnahmen­gericht Bern;

  • die Beschuldigten und ihre Anwälte;

  • Verantwortliche und Anwälte des Ringier-Konzerns, bei dem Marti ebenfalls eine Haus­durchsuchung durchführen liess.

Staatsanwalt, Polizei und Gericht äussern sich mit Verweis auf das Amtsgeheimnis nicht zu Fragen rund um den Fall, auch nicht zu Fragen zum Leak. Beschuldigte, Anwälte und Ringier ihrerseits bestreiten, Verfahrens­akten an CH Media weiter­gegeben zu haben.

Wegen des Leaks hat die Bundes­anwaltschaft im Januar auch Strafanzeige erstattet, und zwar wegen Verdachts auf Amtsgeheimnis­verletzung.

Seither sucht die Aufsichts­behörde über die Bundes­anwaltschaft nach einem weiteren ausser­ordentlichen Staatsanwalt, der dieses Verfahren führt. Bis jetzt, zwei Monate nach der Anzeige, ist die Aufsichts­behörde allerdings noch immer nicht fündig geworden, wie deren Sekretär Patrick Gättelin sagt.

Trotzdem beschäftigen sich mittlerweile vier Behörden mit dem «Fall Berset»:

  • Ein erster ausser­ordentlicher Staatsanwalt des Bundes, Peter Marti. Er ermittelt weiter gegen Lauener und geht auch der Frage nach, was Berset von den E-Mails an Ringier wusste. Der Bundes­präsident hat mehrmals erklärt, er habe von diesen keine Kenntnis gehabt.

  • Ein zweiter ausserordentlicher Staatsanwalt des Bundes. Er heisst Stephan Zimmerli und wurde nach einer Strafanzeige von Lauener gegen Marti eingesetzt. Seit letztem Dezember ermittelt Zimmerli, ob Marti in seinem Verfahren gegen strafrechtliche Bestimmungen verstossen hat.

  • Eine sechsköpfige Arbeitsgruppe der Geschäftsprüfungs­kommissionen von National- und Ständerat. Die Gruppe besteht aus je einem Mitglied von SVP, SP, FDP, Grünen, Mitte und GLP und untersucht seit Januar die «Indiskretionen im Zusammen­hang mit den Covid-19-Geschäften des Bundesrats».

  • Das Finanzdepartement, dessen Chef bis 2022 SVP-Bundesrat Ueli Maurer war und dem seit Jahres­anfang FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter vorsteht. Es klärt seit rund anderthalb Monaten die Rolle des Bundesamts für Informatik und Telekommunikation ab, das über Laueners Mails verfügte und im September 2021 einen grossen Teil davon an Marti weitergab.

Noch haben sich Aufregung und Empörung im «Fall Berset» nicht gelegt. Aber fest steht: Der Fall ist längst nicht mehr nur ein strafrechtlicher, sondern ein politischer Fall.

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