Mehr als Corona: Rückblick auf das Politikjahr 2020
Im letzten Briefing des Jahres schauen wir zurück und sagen, was uns nächstes Jahr in der Schweizer Politik erwartet.
Von Reto Aschwanden, Dennis Bühler, Bettina Hamilton-Irvine, Brigitte Hürlimann, Christof Moser und Cinzia Venafro, 31.12.2020
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Corona rückte den Bundesrat in den Fokus der Öffentlichkeit wie selten. Als die Bundesrätinnen Simonetta Sommaruga, Viola Amherd, Karin Keller-Sutter und Alain Berset am Nachmittag des 16. März vor die Medien traten, schauten fast eine halbe Million Menschen den Livestream auf Youtube, das sind mehr, als durchschnittlich das SRF-Nachrichtenmagazin «10 vor 10» einschalten. Die Bevölkerung hing der Regierung während der ersten Welle an den Lippen und mehr noch einem Mann, dessen Berufsexistenz bis dahin so unspektakulär war wie sein Jobtitel: Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten beim Bundesamt für Gesundheit.
Daniel Koch wurde zu Mr. Corona, doch als er nach seiner Pensionierung weiter die Rampensau spielte, schlug ihm Kritik entgegen, und bei Podiumsdiskussionen musste er sich mit Corona-Leugnern rumschlagen. An seiner Person kristallisiert sich die öffentliche Debatte um die Massnahmen gegen die Pandemie: Zu Beginn erhielten die Behörden viel Beifall, dann tobten die Maskengegnerinnen, und spätestens seit der zweiten Welle gibt es massive Kritik am Krisenmanagement: zu wenig, zu spät – und warum dürfen Skigebiete offen bleiben, während wir nicht mit den Grosseltern Weihnachten feiern konnten? Die breite Bevölkerung allerdings ist laut einer aktuellen Umfrage zufrieden mit der Politik. Mehr dazu am Schluss dieses Briefings.
Zunächst aber zum Rückblick auf 2020 und zum Ausblick auf 2021.
Gesundheit: Viel Streit um die Kosten – und eine Einigung
Das ist passiert: Die Corona-Pandemie hat einen Scheinwerfer auf die Pflegebranche gerichtet: Die Überlastung des Pflegepersonals und ihre Folgen wurden plötzlich öffentlich diskutiert. In der Branche indes ist der Pflegenotstand schon lange ein drängendes Problem. 2017 wurde deshalb die Pflegeinitiative eingereicht, die eine Stärkung des Pflegeberufs fordert. Schon damals gab es einen Mangel an Pflegefachpersonen, per Anfang 2020 fehlen 11’000. Laut Pflegeverband könnten in zehn Jahren 65’000 Fachkräfte fehlen, wenn sich nichts ändert. Die Pandemie dürfte der Pflegeinitiative zusätzlichen Schub verleihen. Doch das Parlament, das seit mehr als einem Jahr an einem indirekten Gegenvorschlag feilt, ist sich auch 2020 nicht einig geworden: Die beiden Kammern streiten noch immer über diverse Punkte.
Dafür gab es dieses Jahr in einer anderen Frage einen Durchbruch: Nach bald zehn Jahren Streit über den Tarif, mit dem Ärzte in Spitälern und Praxen ihre ambulanten Leistungen bei den Krankenkassen abrechnen, haben sich der Krankenkassenverband Curafutura und die Ärztevereinigung FMH geeinigt.
Der Bundesrat hat zudem im August ein zweites Massnahmenpaket beschlossen, mit dem er im Gesundheitswesen eine Milliarde Franken sparen will. Unter anderem soll die freie Arztwahl eingeschränkt werden. Begründet wird dies mit der Verdreifachung der Krankenkassenkosten in den letzten zwanzig Jahren. Ein erstes Massnahmenpaket zur Kostendämpfung wurde vom Parlament dieses Jahr behandelt – es bleiben jedoch noch Differenzen zwischen den beiden Räten.
Das ist der aktuelle Stand: Bundesrat und Nationalrat lehnen die Pflegeinitiative ab. Letzterer will mit dem Gegenvorschlag dem Pflegepersonal jedoch entgegenkommen. Der Ständerat aber blieb in der Wintersession hart: Er will die Kantone entscheiden lassen, ob sie Auszubildenden Unterstützungsbeiträge gewähren. Zudem sollen nur jene Pflegefachkräfte direkt mit Krankenkassen abrechnen dürfen, die eine Vereinbarung dazu abgeschlossen haben.
Der neue Ärztetarif muss noch vom Bundesrat genehmigt werden. Aktuell werden immer noch jedes Jahr Leistungen von 12 Milliarden Franken über einen veralteten Tarif abgerechnet – rund ein Drittel der Gesamtkosten der Grundversicherung.
Zum zweiten Massnahmenpaket zur Kostendämpfung konnten interessierte Kreise dem Bundesamt für Gesundheit bis zum 19. November ihre Stellungnahme zukommen lassen. Das Massnahmenpaket ist gleichzeitig als indirekter Gegenvorschlag die Antwort des Bundesrats auf die sogenannte Kostenbremse-Initiative, welche die CVP im März eingereicht hat. Sie fordert, dass die Prämien nicht stärker steigen dürfen als die Löhne.
So geht es 2021 weiter: Haben sich Nationalrat und Ständerat auf einen Gegenvorschlag zur Pflegeinitiative geeinigt, müssen die Initiantinnen entscheiden, ob sie ihre Initiative zurückziehen. Sie haben dies in Aussicht gestellt, falls der Gegenvorschlag aus ihrer Sicht griffig genug ist – womit dieser dann in Kraft treten würde. Ansonsten kommt es zur Abstimmung.
Der neue Ärztetarif wird voraussichtlich erst 2022 in Kraft treten.
Das Parlament wird 2021 das erste Massnahmenpaket zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen abschliessend beraten und die Diskussion über das zweite Paket aufnehmen.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
In keiner anderen Branche gibt es aktuell so viele Aussteigerinnen wie in der Pflege, schuld ist vor allem die Überlastung. Eine Pflegefachfrau erzählt, wie es ist, wenn nichts mehr geht.
Medizinethikerin Tanja Krones erklärt, wieso das Schweizer Gesundheitssystem nur in guten Zeiten funktioniert.
Wie ist das, auf einer Intensivstation zu arbeiten, die bereits massiv unterbesetzt ist – und dann kommt Corona? Eine Pflegefachfrau wehrt sich – und wird verhaftet.
Medien: Hin und Her bei der Onlineförderung
Das ist passiert: Die Medien tun sich schwer mit dem Strukturwandel. Während die Erlöse im Printbereich schrumpfen, gelingt es den Verlagen noch immer mehr schlecht als recht, mit Onlinejournalismus Geld zu verdienen. Deshalb will die Politik helfen. Über die Details hat sich das Parlament im Jahr 2020 allerdings nicht einigen können. Immerhin konnte die Branche seit Juni auf Corona-Nothilfe zählen; diese wurde jüngst bis Mitte 2021 verlängert. Zudem hat der Bundesrat entschieden, die Zustellung der Regional- und Lokalpresse per Post ab kommendem Jahr stärker zu subventionieren: Pro Exemplar beträgt die Vergünstigung neu 29 statt 27 Rappen. Die staatliche Unterstützung kommt gelegen, wurden doch in den letzten zwölf Monaten wie schon in den Vorjahren Zeitungstitel und TV-Sender eingestellt und Hunderte Stellen abgebaut.
Das ist der aktuelle Stand: 2020 galt als entscheidendes Jahr für die Ausgestaltung der Medienförderung, konnte die Hoffnungen aber nicht einlösen. Im Frühling hat der Bundesrat ein Massnahmenpaket präsentiert, das erstens einen starken Ausbau der bewährten indirekten Presseförderung beinhaltet und zweitens eine Onlineförderung von maximal 30 Millionen Franken pro Jahr; der Ständerat stimmte den Massnahmen dieses Pakets im Sommer grösstenteils zu, der Nationalrat und dessen zuständige Sachkommission verfielen im Herbst jedoch in ein Hin und Her. Gestritten wird vor allem über zwei Aspekte der Onlineförderung: Sollen Portale leer ausgehen, die ihre Inhalte kostenlos anbieten? Und sollen kleine Redaktionen stärker gefördert werden als solche, die zu einem grossen Verlag gehören? Zurzeit schreibt die Bundesverwaltung mehrere vertiefende Berichte, die die Nationalratskommission im November bei ihr bestellt hat.
So geht es 2021 weiter: Mitte Februar diskutiert die Kommission zum dritten Mal über das Hilfspaket. Kann sie sich einigen, ist im März zum zweiten Mal der Nationalrat an der Reihe. So oder so: Auf staatliche Unterstützung hoffen können Onlineredaktionen frühestens 2022. Auftrieb erhalten dürfte 2021 die Diskussion, ob die Förderung der für das Funktionieren einer direkten Demokratie wichtigen vierten Gewalt auf eine gänzlich neue Verfassungsgrundlage gestellt werden soll.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
Das Corona-Paradox: Warum die Pandemie die Klickzahlen in die Höhe treibt und die Medienkonzerne dennoch an den Abgrund geraten.
Wie der TX-Group-Chef und Verlegerverbandspräsident Pietro Supino die Schweizer Medienpolitik prägt.
Interview mit Medienministerin Simonetta Sommaruga: «Redaktionen, die ihre Leser mit versteckter Werbung täuschen, beschädigen ihre Glaubwürdigkeit.»
Rechtsstaatlichkeit: Der Richter und sein Parteibüchlein
Das ist passiert: Im August 2019 reicht ein Initiativkomitee rund um den Investor Adrian Gasser ein Volksbegehren mit dem unverdächtigen Namen Justizinitiative ein. Dahinter steckt nichts weniger als die Idee, die hiesigen Richterwahlen fundamental zu verändern – in einem ersten Schritt am Bundesgericht. Eine von der Politik unabhängige Fachkommission würde valable Kandidatinnen evaluieren. In einem zweiten Schritt würde per Los entschieden, wer den frei werdenden Posten bekommt. Die Richter müssten sich zudem nicht mehr der periodischen Wiederwahl stellen; als Korrektiv würde ein Amtsenthebungsverfahren eingeführt. So wollen die Initiantinnen erreichen, dass sich die politischen Parteien die Richterstellen nicht mehr untereinander aufteilen. Der Parteiklüngel bei den Richterwahlen wird von der Antikorruptionsgruppe des Europarats schon lange kritisiert – nicht zuletzt wegen der Mandatssteuer, welche Richterinnen jährlich an ihre Parteien abzuliefern haben. Würden die Anliegen der Justizinitiative erfüllt, hätten neu auch parteilose Richterkandidatinnen eine Chance auf eine Stelle am obersten Schweizer Gericht.
Das ist der aktuelle Stand: Der Bundesrat kann mit der Justizinitiative nichts anfangen, er lehnt sie im November 2019 ab, ohne Gegenvorschlag. Die Justizinitiative erregt die Gemüter lange kaum – bis im Herbst dieses Jahres die Wiederwahl der Bundesrichterinnen auf der Traktandenliste steht. Erst jetzt realisieren viele die Verstrickungen zwischen Parteien und Richterposten. Ausgelöst wird die Diskussion durch die SVP, die einen Bundesrichter nicht mehr zur Wiederwahl empfiehlt, weil er bei manchen Urteilen die Parteilinie nicht eingehalten habe. Der Druckversuch führt zu einer Grundsatzdebatte über die Gewaltenteilung in der Schweiz. Der betroffene Richter Yves Donzallaz wird im September von der vereinigten Bundesversammlung mit komfortablem Mehr wiedergewählt.
So geht es 2021 weiter: Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats macht im November 2020 den ersten Schritt. Sie fordert einen indirekten Gegenvorschlag zur Justizinitiative. Sie nimmt dabei zwar nicht alle Anliegen der Initianten auf, aber viele. Die Kommission will ebenfalls eine Vorselektion – aufgrund der fachlichen und persönlichen Eignung. Von Parteibüchlein und Parteiproporz ist keine Rede mehr, im Gegenteil, die Unabhängigkeit der Richterinnen von den Parteien sei zu gewährleisten, Alternativen zur Mandatsabgabe seien zu prüfen. Damit sprechen die Bundespolitiker die Parteifinanzierung an. Alle Parteien von links bis rechts zeigen ihre liebe Mühe mit einem neuen, parteiunabhängigen Richterwahlsystem, weil sie Löcher in der Parteikasse befürchten. Anfang Dezember hat sich die Kommission für Rechtsfragen des Ständerats dem Antrag ihrer Schwesterkommission angeschlossen – allerdings nur sehr knapp, mit 6 zu 6 Stimmen, bei einer Enthaltung und mit Stichentscheid des Präsidenten.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
Der politische Klüngel in der Schweizer Justiz: Warum wir ein Anrecht auf parteipolitisch unabhängige Richterinnen haben.
«Die Richter machen die Faust im Sack. Sie haben Angst»: ein Interview mit dem ehemaligen Zürcher Obergerichtspräsidenten Martin Burger.
Der Mehrheit die Stirn bieten: Selten war die Spannung zwischen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit so klar wie im Kampf um das Frauenstimmrecht in der Schweiz.
Der in diesem Abschnitt erwähnte Initiant der Justizinitiative gehört zum Kreis der Republik-Aktionäre. Das Aktionariat ist öffentlich einsehbar. Über den Bauplan zur Sicherstellung der redaktionellen Unabhängigkeit haben wir hier informiert.
Klima: CO2-Gesetz auf den letzten Metern
Das ist passiert: Am 25. September hat das Parlament nach jahrelangen Verhandlungen das CO2-Gesetz verabschiedet. Das Gesetz ist das wichtigste Instrument der schweizerischen Klimapolitik und soll gewährleisten, dass die Schweiz ihre Treibhausgasemissionen so stark reduziert, dass sie ab 2050 nicht mehr davon in die Luft bläst, als natürliche Speicher aufnehmen können. Dazu hat sich die Schweiz mit der Unterzeichnung des Pariser Abkommens verpflichtet. Der Vertrag will die globale Erwärmung auf unter 2 Grad Celsius gegenüber den vorindustriellen Werten begrenzen.
Das ist der aktuelle Stand: Teile der Klimastreikbewegung, die SVP und unterschiedliche Interessenverbände haben das Referendum gegen das CO2-Gesetz ergriffen und sammeln derzeit Unterschriften, um die Vorlage an die Urne zu bringen. Während für die Klimaaktivisten das Gesetz viel zu lasch ausfällt – sie fordern netto null bis 2030 –, kritisieren die bürgerlichen Komitees eine Ausweitung von Bürokratie, Verboten und Abgaben.
So geht es 2021 weiter: Gelingt es den unterschiedlichen Gegnerinnen des CO2-Gesetzes, innerhalb der Frist genügend Unterschriften zu sammeln, wird über die Vorlage nächstes Jahr an der Urne entschieden. Ein Nein würde die Schweizer Klimapolitik um Jahre zurückwerfen. Neben einem möglichen Abstimmungskampf um das CO2-Gesetz wird sich der Bundesrat auch wegen der Gletscherinitiative weiterhin intensiv mit der Klimapolitik beschäftigen müssen. Nachdem die Regierung den direkten Gegenentwurf bereits diesen September präsentierte, wird nächstes Jahr die Botschaft folgen, damit das Parlament seine Arbeit beginnen kann. Die Gletscherinitiative fordert die Verankerung der Ziele des Pariser Klimaabkommens in der Verfassung und will den Einsatz fossiler Energien ab 2050 verbieten.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
Die Politik lässt im Wettlauf gegen die Klimakrise wertvolle Zeit verstreichen: Warum die Schweiz im Jahr der Pandemie mehr Klimaschutz verschlafen hat.
Klimaplan mit Schönheitsfehler: Der Bund zeigt in einer Studie erstmals auf, wie die Schweiz das Netto-null-Ziel bis 2050 erreichen kann.
Krisenhilfe auf Kosten des Klimas: eine Übersicht über die Konjunkturprogramme weltweit.
Widerstand und ziviler Ungehorsam: die neue Strategie der Klimaaktivisten.
Demokratische Teilhabe: Ausweitung des Wahl- und Stimmrechts
Das ist passiert: Verschiedene Vorstösse wollen die politische Mitsprache in der Schweiz ausweiten.
Ende November hat das Genfer Stimmvolk entschieden, dass auch Menschen mit geistiger oder psychischer Beeinträchtigung das Stimm- und Wahlrecht erhalten sollen. Ähnliche Vorlagen sind in weiteren Westschweizer Kantonen hängig.
Auf Bundesebene hat sich der Nationalrat im September für eine Senkung des Stimmrechtsalters auf 16 Jahre ausgesprochen.
In Basel-Stadt soll nach dem Willen des Parlaments künftig auch die ausländische Wohnbevölkerung auf kantonaler Ebene mitbestimmen können.
Zumindest auf Gemeindeebene möchte auch der Zürcher Kantonsrat Ausländerinnen und Ausländern das Stimm- und Wahlrecht erteilen. Anfang Jahr unterstützte das Kantonsparlament eine entsprechende Behördeninitiative der Stadtzürcher Regierung.
Das ist der aktuelle Stand: Die Schweiz rühmt sich gern ihrer demokratischen Tradition, doch haben viele Menschen, die hier leben, kein Recht, mitzuentscheiden. Derzeit dürfen 16-Jährige nur im Kanton Glarus abstimmen und wählen. Nun wollen im Kanton Uri Parlament und Regierung das Stimm- und Wahlrechtsalter auf 16 senken.
Wer keinen Schweizer Pass hat, darf auf kantonaler Ebene heute erst im Jura und in Neuenburg abstimmen. Auf kommunaler Ebene lassen die Westschweizer Kantone (ausser dem Wallis) sowie einige Gemeinden in Graubünden und in Appenzell Ausserrhoden Ausländerinnen mitbestimmen. In Metropolen wie Zürich und Basel hingegen, wo Ausländer rund ein Drittel der Wohnbevölkerung ausmachen, ist bisher ein grosser Teil der Bevölkerung von der demokratischen Teilhabe ausgeschlossen. Zumindest in Bern wird das auch so bleiben, denn dort lehnte es das Kantonsparlament Ende November ab, den Gemeinden die Kompetenz zur Einführung des Ausländerstimmrechts auf kommunaler Ebene zu erteilen.
So geht es 2021 weiter: Das Stimmrechtsalter 16 auf nationaler Ebene kommt wohl 2021 in den Ständerat, wo progressive Anliegen in der Regel einen schweren Stand haben. Andererseits zeigt das Beispiel Uri, dass die Senkung des Stimmrechtsalters auch in einem konservativen Umfeld Anklang finden kann. Am Ende werden aber sowohl bei der Alterssenkung wie auch bei der Ausweitung auf die ausländische Wohnbevölkerung die schon heute Stimmberechtigten entscheiden, ob sie auch bisher Ausgeschlossene mitbestimmen lassen.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
Sollen die Stimmen der Jungen in der Schweiz mehr Gewicht erhalten? Warum das keine gute Idee ist.
Wo die Mehrheit keine Wahl hat: eine Reportage aus Kreuzlingen.
Gesellschaft: Schwule und Lesben dürfen heiraten
Das ist passiert: Sieben Jahre lang hat es gedauert. Doch mit der Schlussabstimmung in der Wintersession ist klar: Die Ehe für alle wird eingeführt. Am Ende spielte die FDP das Zünglein an der Waage, um das gesellschaftspolitisch wichtigste Geschäft des Jahres endlich zu verabschieden. Auch der Zugang zur Samenspende für lesbische Paare wird möglich. Einschränkung: Es muss eine Spende aus einer Schweizer Samenbank sein. Linke und Lesben-Organisationen sehen dies als Diskriminierung. Zudem hat das Parlament in der Wintersession auch für die Vereinfachung des Geschlechtseintrags in amtlichen Dokumenten gestimmt. Ein «Meilenstein für trans und intergeschlechtliche Menschen», freut sich Pink Cross.
Das ist der aktuelle Stand: Die rechtskonservative EDU hat mit einem «überparteilichen Komitee» das Referendum angekündigt. Sie will laut eigenen Angaben Anfang Januar mit Sammeln beginnen.
So geht es 2021 weiter: Bei einer Abstimmung dürfte die EDU in der Bevölkerung keine Mehrheit finden. Doch wann genau die erste Schweizer Ehe eines lesbischen oder schwulen Paares geschlossen wird, hängt auch davon ab, ob die EDU es überhaupt schafft, ausreichend Unterschriften für ihr Referendum zu erhalten.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
Die letzte Schlacht um die «Ehe für alle»: der Streit unter Verfassungsrechtlern im Ständerat.
«Ich bettle nicht darum, dass man uns leben lässt»: die Geschichte des Tänzers René Fürstenfeld und der Juristin Salome Zimmermann.
Die Bildkolumne «Blickwechsel» über ältere Menschen, die nicht ins binäre Geschlechterkonzept passen.
Europapolitik: Der Status quo bleibt die Blockade
Das ist passiert: Mit der Ablehnung der Begrenzungsinitiative der SVP im September hat die Stimmbevölkerung den Weg für die Weiterführung des bilateralen Wegs mit der EU frei gemacht. Der Bundesrat setzte im Oktober Roberto Balzaretti als Chefunterhändler ab. Als Nachfolgerin wird Livia Leu bestimmt, die bisherige Botschafterin in Paris. Der Wechsel soll eine neue Dynamik ins verfahrene Dossier Rahmenabkommen bringen. Allerdings ist der Posten des Unterhändlers aufseiten der EU derzeit unbesetzt.
Das ist der aktuelle Stand: Das Rahmenabkommen mit der EU liegt als Vertragsentwurf seit zwei Jahren vor. Bei den umstrittenen Punkten –Lohnschutz, staatliche Beihilfen, Unionsbürgerrichtlinie, Schlichtungsstelle – hat sich im vergangenen Jahr nichts bewegt. Die Situation bleibt zerfahren. Innenpolitisch ist das Rahmenabkommen ohne substanzielle Anpassungen chancenlos. Zuletzt zeigten sich Schweizer Politiker hoffnungsvoll, dass der in letzter Minute doch noch zustande gekommene Brexit-Deal der EU mit Grossbritannien mehr Spielraum für die Schweiz bedeuten könnte.
So geht es 2021 weiter: Grosse Sprünge sind in der Europapolitik auch nächstes Jahr nicht zu erwarten.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
Viele Firmen hoffen, dass das Rahmenabkommen mit der EU zustande kommt. Warum? Vier Betriebe geben Auskunft.
Aussenminister Ignazio Cassis hat die Aussenpolitik so schnell und so radikal umgekrempelt wie keiner vor ihm. Eine Schadensbilanz.
Sowohl die Schweiz als auch Grossbritannien müssen ihr Verhältnis zur EU neu verhandeln. Extrawürste sind nicht im Angebot.
Interview mit dem ehemaligen Schweizer Spitzendiplomaten Jakob Kellenberger: «Vernunft ist heute unpopulär.»
Hoffnungsschimmer des Jahres
Seit 2009 führt die Universität St. Gallen eine Studie unter dem Titel «Hoffnungsbarometer» durch. Dieses Jahr stand die Umfrage, an der im November rund 7000 Menschen aus allen Landesteilen teilnahmen, natürlich unter dem Eindruck von Corona. Umso überraschender und erfreulicher sind die Ergebnisse.
Zwar erlebten viele Leute Stress, die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben ist im Vergleich zum Vorjahr aber praktisch gleich geblieben. Sogar zugenommen hat die Zufriedenheit mit der nationalen Politik. Diese liegt auf einer Skala von 1 bis 5 bei 2,81 Punkten. Exakt den gleichen Wert erreicht die Zufriedenheit mit dem Umgang mit der Pandemie in der Schweiz. Weniger zufrieden sind die Befragten im Schnitt mit der nationalen Wirtschaft.
Mehr Wert als noch 2019 legen die Umfrageteilnehmer auf Gesundheit, Selbstbestimmung und eine glückliche Partnerschaft. Weniger wichtig als vor einem Jahr sind Geld und Sex.
Unerfreulich sind die Werte beim Thema «soziales Wohlbefinden». Dabei ging es um die Fragen, ob der Mensch grundsätzlich gut sei, ob die Gesellschaft sich für alle Menschen positiv entwickle und ob die Art, wie unsere Gesellschaft funktioniert, Sinn ergebe. Bei allen drei Fragen fand eine Mehrheit, das sei nur in geringem Masse der Fall.
Das führt aber nicht zu Gleichgültigkeit oder gar Zynismus. Im Gegenteil: Viele Menschen sind Ende 2020 gewillt, ihren Teil für ein gelungenes Miteinander beizutragen. Über 43 Prozent gaben an, sie seien im Vergleich zum Vorjahr eher bereit, andere Menschen freundlich zu behandeln. Mehr als die Hälfte sogar fühlt sich motivierter, anderen zu helfen. Und das sind offenbar keine leeren Behauptungen, melden doch Hilfswerke wie Caritas höhere Spendenergebnisse als noch 2019.
Erhöht hat sich bei gut 4 von 10 Befragten auch das Vertrauen in sich selbst. Kein Wunder, hält Studienautor Andreas M. Krafft fest: «Alles in allem zeigte eine grosse Mehrheit der Schweizer Bevölkerung eine grosse Resilienz im Umgang mit der Krise.»
Das macht doch Hoffnung. Wir wünschen Ihnen ein gutes neues Jahr.
Illustration: Till Lauer