Briefing aus Bern

Endlich Ehe für alle, traurige Nachrichten für Gewerbler und lustige Musikanten im Bundeshaus

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (126).

Von Reto Aschwanden, Dennis Bühler und Cinzia Venafro, 03.12.2020

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«Und sie bewegt sich doch – die Welt im Ständerat», jubelte GLP-National­rätin Kathrin Bertschy. Nach sieben Jahren – ja, Sie haben richtig gelesen – nach sieben Jahren parlamentarischer Debatte, Störmanövern und einem Pingpong zwischen National- und Ständerat wird die Ehe für alle in der Schweiz Realität.

Mit knappen 22 zu 20 Stimmen hat die kleine Kammer am Dienstag entschieden, dass es keine Verfassungs­änderung braucht, um die gesellschafts­politisch wichtigste Vorlage des Jahres abzuschliessen. Doch fast hätte die Vorlage abermals eine Extra­runde gedreht. Auch wenn CVP-Stände­rätinnen wie Heidi Z’graggen sich persönlich die Ehe für alle wünschen, «und zwar rasch», wie sie betonte, müsse dies über eine Verfassungs­änderung geschehen. Eingeflüstert hatte das der ehemaligen Bundesratskandidatin die konservative Juristin Isabelle Häner mit einem Geheimgutachten.

Zur Erinnerung: Bei einer Verfassungs­änderung braucht es eine obligatorische Volks­abstimmung und somit das Ja von Volk und Kantonen. Das Ständemehr kann für progressive Vorlagen zum Stolper­stein werden, so wie letzten Sonntag für die Konzern­verantwortungs­initiative (mehr dazu weiter unten).

Im Stöckli kam es also zum Streit der Verfassungs­rechtlerinnen – und zum Schlag­abtausch zwischen konservativen CVPlern wie Beat Rieder und FDP-Mann Andrea Caroni, der für die Einführung der Ehe für alle auf Gesetzes­stufe plädierte. Im Vergleich zur Revision des Eherechts Anfang der Achtziger­jahre sei die Einführung der Ehe für alle eine «Pinsel­renovation», sagte der Harvard-Jurist Caroni. Damals sei den Männern mit dem Patriarchat etwas weggenommen worden – und selbst dies sei auf Gesetzes­stufe geschehen.

Den Männern sei sicher nichts weggenommen worden, entgegnete Justiz­ministerin Karin Keller-Sutter schmunzelnd. Zudem sei es egal, was man sich einst unter einer Ehe vorgestellt habe, betonte Keller-Sutter: «Der Gesetz­geber ist vor hundert Jahren auch nicht auf die Idee gekommen, dass der Mann nicht das Oberhaupt der Familie ist.»

Am Ende spielte der Freisinn das Zünglein an der Waage: Weil er sich mehrheitlich gegen den Verfassungs­weg aussprach und die beiden Inner­schweizer Hans Wicki und Josef Dittli sich der Stimme enthielten, unterlagen die CVP und die SVP.

Grünes Licht gab der Ständerat auch für die Samen­spende für lesbische Paare. Anders als der Nationalrat es will, soll dies aber nur über eine Schweizer Samenbank legal sein.

Jetzt geht das Geschäft zur Differenz­bereinigung zurück in den Nationalrat, noch diese Session will man das Geschäft abschliessen. Im Nationalrat wird die Ehe-für-alle-Lobby für den uneingeschränkten Zugang zur Reproduktions­medizin für Lesben kämpfen. Oder wie SP-Frau Tamara Funiciello es ausdrückt: «Lesbische Frauen werden mit der Ständerats­lösung nicht gleich­gestellt. Der Teufel steckt im Detail. Details sind in der Schweizer Politik meist Frauen.»

Am Mittwochnachmittag kündigte die EDU an, zusammen mit verbündeten Kräften das Referendum zu ergreifen.

Und damit zum Briefing aus Bern.

Abstimmungen: Pyrrhus­sieg und Ständemehr-Diskussion

Worum es geht: Beide Volks­initiativen, die am Sonntag zur Abstimmung standen, wurden abgelehnt. Während die Kriegsgeschäfte­initiative auf 42,5 Prozent Zustimmung stiess, wurde die Konzern­verantwortungs­initiative von 50,7 Prozent der Abstimmenden angenommen, scheiterte jedoch am Ständemehr.

Warum Sie das wissen müssen: Die Stimm­bevölkerung sagt Ja, die Stände sagen Nein – einen solchen Ausgang nahm eine Volksinitiative zuvor erst ein einziges Mal: als es 1955 um den «Schutz der Mieter und Konsumenten» ging. Nachdem die ländlichen Kantone der Deutschschweiz am Sonntag den Ausschlag gegen die Konzern-Initiative gegeben hatten, ist eine Diskussion über Sinn und Unsinn des Stände­mehrs entbrannt. Juso-Präsidentin Ronja Jansen plädiert für die Abschaffung; Grünen-Präsident Balthasar Glättli schlägt dem Parlament vor, dass ein Volksmehr künftig nicht mehr von einer einfachen Mehrheit der Stände, sondern bloss von zwei Dritteln von ihnen gekippt werden kann; FDP-Ständerat Andrea Caroni hingegen wollte das Ständemehr schon vor einem Monat ausbauen.

Wie es weitergeht: Nach der Ablehnung der Konzern-Initiative tritt der Gegen­vorschlag in Kraft, auf den sich das Parlament im Sommer geeinigt hatte. Warum die Wirtschafts­verbände und die feder­führende Bundesrätin Karin Keller-Sutter damit einen Pyrrhus­sieg feierten, lesen Sie im Kommentar von Daniel Binswanger. Im Themenfeld der Kriegs­geschäfte­initiative kommt es bald zu einer nächsten Abstimmung: Im Sommer 2019 ist die Korrektur-Initiative zustande gekommen, die Waffen­exporte in Länder einschränken will, die in Konflikte oder Menschen­rechts­verletzungen verwickelt sind. Vor eineinhalb Monaten beschloss der Bundesrat einen indirekten Gegen­vorschlag; kürzlich wurde publik, dass ausgerechnet Verteidigungsministerin Viola Amherd den Initianten noch weiter hatte entgegenkommen wollen. Das Parlament berät 2021 über die Korrektur-Initiative.

Kein Corona-Mieterlass für Gewerbler

Worum es geht: Es ist ein herber Dämpfer für Laden­besitzerinnen, Clubbetreiber und viele weitere Gewerbler. Die Mitte-rechts-Mehrheit im National- und im Ständerat hat das Covid-19-Geschäftsmieteng­esetz bachab geschickt. Die grosse Kammer wollte mit 100 zu 87 Stimmen nicht, dass Mietern für die Zeit des pandemie­bedingten Lockdowns ein Teil ihrer Miete erlassen wird. Und auch der Ständerat sprach sich am Mittwoch mit 30 zu 14 Stimmen dagegen aus.

Warum Sie das wissen müssen: Noch im Sommer schien im Parlament der Weg frei für einen Corona-Mieterlass. Doch weil unter anderem ein Teil der GLP mit den Bürgerlichen stimmte, müssen Mieter und Vermieter nun selbst Lösungen finden. SP-Ständerat Christian Levrat, frisch aus der Quarantäne zurück, ärgerte sich: «Es ist ein unglaubliches Zeichen der Schwäche unseres Parlaments, dass wir es nach neun Monaten nicht schaffen, eine Lösung für Gewerbe­treibende zu finden.» SVP-Bundesrat Guy Parmelin hatte den Mieterlass nur widerwillig aufgegleist und freute sich gestern über das definitive Nein: «Die Vorlage widerspricht der Wirtschafts­freiheit und führt zu einer Verzerrung der Konkurrenz.»

Wie es weitergeht: Nun wird wohl vermehrt auf Kantons­ebene über Mietzins­reduktionen diskutiert. In Baselland zum Beispiel beschloss das Stimmvolk letzten Sonntag, dass der Kanton ein Drittel der geschuldeten Geschäftsmieten von April bis Juni 2020 übernimmt, sofern der Vermieter auf ein Drittel des Miet­zinses verzichtet. Ein ähnliches Modell hatte das basel-städtische Parlament schon im Mai beschlossen.

Krankenkassen zahlen für frühe Fehlgeburten

Worum es geht: Jährlich erleiden in der Schweiz 20’000 Frauen eine Fehlgeburt. Je nach Zählart endet jede dritte bis fünfte Schwangerschaft in einem persönlichen Drama. Bisher galten Frauen in der Schweiz aber erst ab der 13. Woche als «schwanger», kam es zuvor zu Komplikationen oder einem Früh­abort, waren sie rechtlich betrachtet also «krank». Konsequenz: Zur seelischen Belastung durch eine Fehlgeburt gab es obendrauf eine Rechnung der Kranken­kasse. Der Ständerat will das nun wie auch der Nationalrat ändern.

Warum Sie das wissen müssen: Frauen sind künftig ab dem ersten Schwangerschafts­tag kostenbefreit. Dafür gekämpft hatte die Grünen-Nationalrätin Irène Kälin. Auch der erzkonservative SVP-Mann Jean-Luc Addor hatte eine gleich­lautende Motion eingereicht – so kam es zu einer Allianz zwischen Links und Rechts.

Wie es weitergeht: Ab wann das Gesetz eingeführt wird, ist noch nicht definiert.

Transmenschen: Änderung von Namen und Geschlecht wird einfacher

Worum es geht: Menschen mit Trans­identität und Menschen mit einer Variante der Geschlechts­entwicklung sollen künftig ihr Geschlecht und ihren Vornamen auf dem Zivilstands­amt unbürokratisch ändern können. Uneinig ist sich die Politik noch, ob Minder­jährige dafür die Zustimmung ihrer Eltern einholen müssen. Der Bundesrat will es so (worin das Transgender Network Switzerland einen Rückschritt sieht), der Nationalrat nicht – und der Ständerat hat sich für einen Mittelweg entschieden: Minderjährige ab 16 Jahren sollen selbstständig handeln können.

Warum Sie das wissen müssen: Bis vor wenigen Jahren mussten Menschen, die ihren Geschlechts­eintrag ändern wollten, sehr hohe Hürden überwinden. Erlaubt war ihnen das nämlich nur, wenn sie sich chirurgisch sterilisieren liessen; diese Praxis hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im April 2017 verboten. Mit der nun geplanten Änderung des Zivilgesetz­buches werden Personen, die innerlich fest davon überzeugt sind, das Geschlecht und den Vornamen wechseln zu wollen, beim Zivilstands­amt eine Änderung des Eintrags bewirken können, indem sie dort persönlich vorsprechen.

Wie es weitergeht: Die Vorlage geht zurück an den Nationalrat. Im September hat er sich dafür ausgesprochen, dass alle urteilsfähigen Minderjährigen – auch unter 16-Jährige – ihr Geschlecht und ihren Namen ändern können. Sobald sich die beiden Parlaments­kammern in dieser Frage einig sind, ist das Geschäft bereit für die Schluss­abstimmung. Wird dagegen kein Referendum ergriffen, tritt es in Kraft.

Fair-Preis-Initiative: Auch der Ständerat will einen Gegenvorschlag

Worum es geht: Der Ständerat lehnt die Initiative «Stop der Hochpreisinsel – für faire Preise» ab. Er will ihr aber genauso wie der Bundesrat und der Nationalrat einen indirekten Gegen­vorschlag entgegen­stellen, der Verschärfungen im Kartell­recht beinhaltet. Der Gegen­vorschlag träte in Kraft, falls die Initiantinnen ihre Initiative zurück­zögen oder wenn die Initiative an der Urne scheitern sollte.

Warum Sie das wissen müssen: Das Ziel der Fair-Preis-Initiative ist es, die Wettbewerbs­fähigkeit der Schweizer Unternehmen zu stärken, indem ihre Beschaffungs­freiheit im In- und Ausland gewähr­leistet wird. Indirekt sollen so die Preise für importierte Waren und Dienst­leistungen gesenkt werden. Getragen wird die Initiative von der Stiftung für Konsumenten­schutz, Gastrosuisse und dem Wirtschafts­verband Swissmechanic, der 1400 KMU in der Maschinen-, Elektro- und Metall­branche vereint. Der Gegen­vorschlag nimmt neben marktbeherrschenden auch relativ marktmächtige Unternehmen verstärkt in die Pflicht. Gemeint sind Unternehmen, von denen andere mangels Alternative faktisch abhängig sind. Eine von FDP-Ständerat Ruedi Noser angeführte und vom Wirtschafts­dachverband Economiesuisse unterstützte Minderheit der ständerätlichen Wirtschafts­kommission hatte nicht auf den Gegen­vorschlag eintreten wollen, unterlag aber.

Wie es weitergeht: Noch gibt es einige wenige Differenzen zwischen den Räten. So stellt sich der Ständerat etwa gegen eine Re-Importklausel, die der Nationalrat in den Gegen­vorschlag eingefügt hat. Die Klausel soll verhindern, dass günstig ins Ausland gelieferte Produkte zum tieferen Preis in die Schweiz zurück­importiert werden. Der Nationalrat wird deshalb noch einmal über den Gegen­vorschlag beraten.

Ständchen der Woche

Politik ist harte Arbeit. Und wer hart arbeitet, darf sich zwischendurch auch eine kleine Freude gönnen. Also wurde die Wahl des Schwyzers Alex Kuprecht zum Ständerats­präsidenten am Montag mit Musik gefeiert. Der beliebte Volksmusiker Carlo Brunner spielte mit seiner Länder­kapelle ein paar lüpfige Lieder, ein Video davon landete auf Twitter, und dort brach sogleich der Shitstorm los. So enervierte sich der Virologe Christian Althaus, Mitglied der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes: «Das Land, welches bald 5000 Todesfälle im Zusammen­hang mit Covid-19 zu beklagen hat, feiert munter weiter. Und zwar mit Blasmusik.»

Im Parlament stiess Althaus’ Kritik auf taube Ohren. Denn schon am anderen Tag erklang im Bundeshaus bereits wieder Musik, wenn auch ohne Blas­instrumente. Dafür sang der Nationalrat Ueli Maurer ein Ständchen zum Siebzigsten. Auch Ballons mit Schweizer Wappen gabs für das magistrale Geburtstags­kind, es war schön wie ein Kinder­geburtstag. Weniger schön fielen aber auch hier die Reaktionen aus. So kommentierte ein Lehrer auf Twitter: «Kinder dürfen nicht mehr in den Gesangs­unterricht. Aber im Bundeshaus kann man locker singen.»

Wir ersparen uns und Ihnen weitere Kommentare und verweisen stattdessen auf das Bundesamt für Gesundheit, das in seinen Tipps für die Festtage schreibt: «Gemeinsames Singen und das Spielen von Blasinstrumenten können das Ansteckungs­risiko erhöhen. Hören Sie besser Weihnachts­lieder auf Ihrer Musik­anlage.» Von Carlo Brunner zum Beispiel gibt es ein Stück namens «Wiehnacht z Lache am See», gesungen von seiner Schwester Maja. Und Frau Brunners Gesang aus der Musik­anlage ist nicht nur virensicher, er klingt auch besser als der von Tante Marlies oder irgendeinem Nationalrat.

Illustration: Till Lauer

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