Extrawürste sind nicht im Angebot

Sowohl die Schweiz als auch Grossbritannien müssen ihr Verhältnis zur EU neu verhandeln. Es gibt Ähnlichkeiten – und zum Glück auch Unterschiede.

Von Tim Guldimann, 21.08.2020

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!

Zwei Staaten in Europa stehen vor einem europa­politischen Wende­punkt. Am 27. September stimmt die Schweizer Stimm­bevölkerung über die Begrenzungs­initiative ab. Am 1. Januar fällt Gross­britannien in den «harten Brexit» und damit in ein vertragsloses Verhältnis zur EU – wenn sich Britinnen und Europäer nicht doch noch im letzten Moment einigen.

In der Schweiz ist die Lage zwar weniger dramatisch als in Gross­britannien, dafür aber verworrener: Ein Nein zur Begrenzungs­initiative der SVP ist noch kein Ja zur Fortsetzung des bilateralen Wegs, denn dieser ist erst mit dem Rahmen­abkommen gesichert. Die Frage des Rahmen­abkommens muss dringend gelöst werden, wenn die Schweiz europa­politisch weiterkommen will.

Zum Autor

Tim Guldimann stand viele Jahre im diplomatischen Dienst und war zuletzt bis 2015 Botschafter der Schweiz in Berlin. Er sass von 2015 bis 2018 für die SP im Nationalrat.

Auf den ersten Blick verfolgen die beiden Staaten zwei unterschiedliche Ziele. Das Vereinigte König­reich verlässt die Europäische Union, die Schweiz hingegen versucht, ihr bilaterales Verhältnis zu Brüssel zu festigen und auszubauen. Trotzdem zeigen sich in der Brexit-Debatte und in der schweizerischen Diskussion über das Rahmen­abkommen Parallelen.

Für beide Staaten geht es um ihr Verhältnis «zu Europa». Europa ist das Gegenüber, der Verhandlungs­partner, mit dem beide Länder als Nicht-EU-Mitglieder neue Verträge abschliessen wollen, um von ausserhalb am europäischen Binnen­markt teilzunehmen.

Der Preis des Zugangs

Der Binnenmarkt ist der Kern der europäischen Integration. Er schafft einheitliche Markt­bedingungen im ganzen EU-Raum und garantiert dafür den freien Verkehr von Waren, Dienst­leistungen, Kapital und Personen über die Landes­grenzen hinweg. Dabei sind auch die nationalen Rechts­ordnungen angepasst worden, um die Wettbewerbs­bedingungen auf den nationalen Märkten vor allem im Sozial-, im Umwelt- und im Konsumenten­schutz­bereich einander anzugleichen. Zuständig für die Durch­setzung dieser Normen ist in letzter Instanz der Europäische Gerichtshof.

Mit der Ablehnung des EWR 1992 blieb die Schweiz vom Binnen­markt ausgeschlossen, und die Wirtschaft stagnierte: Kaufkraft­bereinigt wuchs das schweizerische BIP zwischen 1993 und 2003 um weniger als 8 Prozent, während das Wachstum in den anderen europäischen Staaten 14 bis 40 Prozent, in Irland sogar über 90 Prozent erreichte. Erst die bilateralen Verträge öffneten der Schweiz nach 2002 den Zugang zum Binnen­markt. Das Resultat war ein signifikant höheres Wirtschafts­wachstum als zuvor.

Für diese Teilnahme am Binnen­markt verlangt die EU aber schon lange Rechts­sicherheit. Sie fordert, dass sich die Schweiz dazu verpflichtet, neue Binnenmarkt­regeln zu übernehmen oder eigene gleichwertige zu erlassen; ebenso, dass die Regeln in verbindlicher Form ausgelegt und überwacht werden und dass vertraglich festgelegt wird, wie Konflikte zu lösen sind. Für die Lösung dieser Fragen hat zuerst die Eidgenossenschaft Brüssel den Vorschlag gemacht, ein Rahmen­abkommen abzuschliessen. Seit nunmehr über zwölf Jahren ist es jedoch die EU, welche dieses Abkommen einfordert und zur Voraussetzung für jeden weiteren Schritt in den bilateralen Beziehungen macht. Brüssel hatte nämlich realisiert, dass die Schweiz den Entscheid von 1992, der EU beizutreten, begraben hatte.

Auch Grossbritannien muss seine bilateralen Beziehungen mit der EU nun auf eine neue Grundlage stellen: Seit dem Brexit-Referendum 2016 verhandelt es mit Brüssel darüber, wie sein künftiges Verhältnis zum Binnen­markt geregelt werden kann.

Ob die Verständigung beider Länder «mit Europa» gelingt, ist offen. Falls nicht, würde ein Hard Brexit zum sofortigen vertrags­losen Zustand in den Wirtschafts­beziehungen «mit Europa» führen. In der Schweiz wäre, falls am 27. September die Begrenzungs­initiative angenommen wird, die Regierung gezwungen, das Freizügigkeits­abkommen zu kündigen. Damit würde zudem die Guillotine gegen die andern sechs seit 2002 geltenden Abkommen ausgelöst, und andere Abkommen würden nicht mehr angepasst. Das Rahmen­abkommen wäre vom Tisch, und an neue Abkommen – unter anderem für die Bereiche Strom, Medien und Kultur oder Finanz­dienstleistungen – sowie an eine Teilnahme der Schweiz am künftigen Forschungs­programm («Horizon Europe», 2021–2027) wäre nicht zu denken.

Nach der Brexit-Abstimmung im Juni 2016 hofften viele in der Schweiz darauf, im Schlepptau des König­reiches ein vorteilhaftes Rahmen­abkommen zu erzielen. Es kam anders: Das Brexit-Debakel verringerte die Flexibilität der EU in den Verhandlungen mit Bern. Diese kamen Ende 2018 zwar doch noch zu einem Abschluss. Der Bundesrat nahm aber sein eigenes Verhandlungs­ergebnis lediglich «zur Kenntnis» und schob es wie eine heisse Kartoffel der Innenpolitik zu.

Der Kern des Konflikts

An beiden Verhandlungsfronten geht es um sehr ähnliche Probleme. Beide Länder wollen als Nicht-EU-Mitglieder einen Fuss im Binnen­markt behalten. Sie wollen irgendwie mitreden, dabei aber souverän bleiben und sich keinen fremden Entscheiden fügen. Darüber hinaus hoffen sie auf kulante Lösungen für ihre nationalen Probleme. Das wird so nicht gehen, auch nicht mit einem Kraftakt, wenn Boris Johnson versucht, mit seinem «Tiger im Tank» die Verhandlungen zu beschleunigen.

Doch auch die schweizerische Hinhalte­taktik schafft den Widerspruch zwischen Entscheidungs­autonomie und Binnenmarkt­integration nicht aus der Welt.

Der Binnenmarkt beruht auf mühsam erreichten EU-internen Kompromissen, die die gemeinsamen Regeln festlegen und diese laufend anpassen. Sind sie einmal beschlossen, fehlt in Brüssel und in den 27 Mitglieds­staaten die Bereitschaft, das einmal Erreichte zur Disposition zu stellen. Warum sollen ausgerechnet Aussen­stehende Vorteile bekommen, auf die Mitglieder zuvor verzichten mussten?

Die Hoffnungen des einstigen Premiers David Cameron, im Hinblick auf die Brexit-Abstimmung Zugeständnisse dadurch zu erwirken, dass er die andern EU-Regierungen gegeneinander auszuspielen versuchte, erwiesen sich als Illusion. Ähnliches gilt für die Schweizer Hoffnung, unsere Freunde in Berlin oder Paris würden sich für unsere Interessen in Brüssel starkmachen. Aus lauter Vorsicht, sich ja nicht in die schweizerische Innen­politik einzumischen, verschonten uns diese Freunde immer vor der harten Wahrheit und blieben, von seltenen Ausnahmen abgesehen, freundlich. Allein Viviane Reding, Vize­präsidentin der EU-Kommission, stellte 2014 nach dem Ja zur Massen­einwanderungs­initiative klar: «Der Binnen­markt ist kein Schweizer Käse (…) mit Löchern darin.» Was sich mit Bezug auf den Initianten des Binnen­markts auf die Formel bringen lässt: «Delors ou dehors».

Im Kern des Konflikts geht es um die Souveränität. Sie ist die «Kompetenz-Kompetenz» unabhängiger Staaten, das heisst die Kompetenz, Kompetenzen abzutreten. Allein die Über­tragung national­staatlicher Kompetenzen an die Gemeinschaft ermöglichte die europäische Integration.

Wie erklärt sich der Schweizer Sonderweg?

Die Bereitschaft dazu ist nicht nur eine Frage von Interessen, sondern hängt von historischen Erfahrungen und der durch sie geprägten Identität ab, von einem nationalen Selbst­verständnis, das nicht nur rational, sondern auch emotional begründet ist.

Diese Bereitschaft ist je nach Staat sehr unterschiedlich. Im Kalten Krieg verfolgten fünf Staaten in Europa – Österreich, Schweden, Finnland, Liechtenstein und die Schweiz – eine Politik der Bündnis­freiheit oder der expliziten Neutralität. Schon fünf Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges traten Österreich, Schweden und Finnland der Europäischen Gemeinschaft und Liechtenstein dem Europäischen Wirtschafts­raum bei. Nur die Schweiz ging einen Sonderweg: Sie lehnte den Beitritt zum EWR ab, und die Zustimmung zur Neutralität hat seit dem EWR-Nein von 80 auf 95 Prozent noch einmal zugenommen.

Wie erklärt sich das? Es geht hier nicht um die völker­rechtliche Bedeutung der Neutralität, die nur dazu verpflichtet, sich nicht an Kriegen anderer Staaten zu beteiligen. Wir könnten getrost der EU beitreten, solange sie sich nicht zu einer Verteidigungs­gemeinschaft entwickelt. Vielmehr steht die Neutralität in der Schweiz für eine Grund­haltung des politischen Abseits­stehens, die sich langsam vom Mittel­alter über den Dreissig­jährigen Krieg bis zum Wiener Kongress heraus­bildete. Die Eidgenossenschaft fühlt sich in dieser Haltung dadurch bestätigt, dass sie zwei Welt­kriege unversehrt überlebte. Dass sich Nazi­deutschland durch das völker­rechtliche Statut der Neutralität vom Einmarsch in die Schweiz abhalten liess, ist jedoch ein Mythos. Als der belgische Nato-Botschafter einmal gefragt wurde, was er von der Neutralität halte, war seine Antwort kurz: «Nichts, wir haben das zweimal probiert, das funktioniert nicht.» Belgien hat sich schon sehr früh aktiv für die europäische Integration engagiert.

Die Haltung, eigentlich nicht zu Europa gehören zu wollen, teilt das Land des «Sonderfalls» mit den Britischen Inseln. In ihrer langen Geschichte mischten sich die Briten nur dann in die Angelegenheiten des Kontinents ein, wenn ihre globalen Interessen auf dem Spiel standen. Dann dachten sie auch europäisch. So forderte Churchill in seiner Rede in der Aula der Zürcher Uni am 19. September 1946: «Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten», nur dass er – was oft übersehen wird – nicht im Geringsten daran dachte, dass sich sein Land daran beteiligen sollte. Fünf Jahre später bekräftigte er seine Solidarität mit Europa gegenüber Adenauer: «Sie können beruhigt sein, Grossbritannien wird immer an der Seite Europas stehen», darauf Adenauer: «Herr Premier­minister, da bin ich ein wenig enttäuscht. England ist ein Teil Europas.»

Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen dem britischen und dem schweizerischen Verständnis der eigenen Souveränität. Die Briten treten mit dem Selbst­bewusstsein der ehemaligen Grossmacht auf: Sie glauben weiterhin an die Prinzipien, auf denen das ehemalige Empire ruhte. Selbst­bestimmung und Souveränität sind deshalb die Schlüssel­begriffe des Brexit: Take back control!

Dabei schwingt heute immer noch der unverdaute Verlust ihres Welt­reichs mit, etwa wenn die Brexiteers geradezu nostalgisch vom Wieder­erstarken des Commonwealth oder von einer anglosphere schwärmen. Der britische Handels­minister Greg Hands hat im Juni in einem Interview mit dem Deutschland­funk acht Mal das Argument der Souveränität bemüht, um auf das Recht der Briten zu pochen, unabhängig über eigene Regeln im künftigen Handel mit der EU zu entscheiden.

Dieses Problem stellt sich zwar auch für die Schweiz, aber wir haben letztlich ein sehr pragmatisches Verhältnis zum Binnen­markt, dessen Regeln wir weitestgehend diskussionslos übernehmen. Wir begnügen uns damit, den Verlust an Selbst­bestimmung einfach mit dem Begriff des «autonomen Nachvollzugs» zu tarnen, ein Widerspruch in sich selbst, weil wir ja nicht über ein Gesetz (nomos) selbst (autos) bestimmen und entscheiden.

In beiden Staaten zeigt sich jedoch die Angst, die Souveränität zu verlieren, im Schlagwort der «fremden Richter». Theresa May musste Ende 2017 die unbeschränkte Zuständigkeit des Europäischen Gerichts­hofs (EuGH) für die Übergangs­zeit bis zum Brexit akzeptieren, nachdem sie ein Jahr zuvor verkündet hatte: «Die Geltung des EU-Rechts ist (…) für immer beendet.» Die Zuständigkeit des EuGH wird auch in der Schweiz als Bedrohung gesehen. Doch zeigte sich in der Debatte um das Rahmen­abkommen, dass diese Bedrohung mit den Argumenten für das vorgesehene Schieds­gericht gemildert und gegenüber den konkreten Anliegen wie dem Lohn­schutz in den Hinter­grund gerückt werden konnte.

Drückt die Zuwanderung tatsächlich die Löhne?

Fremdenfeindlichkeit ist überall verbreitet, doch bestätigen die Umfragen der EU-Kommission eine klare Unter­scheidung zwischen der Zustimmung zur Personen­freizügigkeit und damit zur EU-Binnen­wanderung – und der Haltung zur Einwanderung von ausserhalb der EU, die mit Abstand als wichtigstes Problem genannt wurde. Über 80 Prozent der EU-Bürgerinnen und 90 Prozent der Deutschen waren 2016 für die Personen­freizügigkeit, die niedrigste Zustimmung zeigten England und Österreich. In der Schweiz stimmte die Mehrheit 2014 der Massen­einwanderungs­initiative zu, einer Vorlage, die nicht nach Herkunft der Zuwanderung unterschied.

Schon lange war in Grossbritannien und in der Schweiz die Zuwanderung aus dem übrigen Europa innen­politisch brisant, bei uns seit der Schwarzenbach-Initiative vor 50 Jahren, in England schon nach dem Krieg, als in Schottland Zehntausende ehemalige polnische Soldaten angesiedelt, aber nicht integriert wurden. In der Brexit-Abstimmung konnte die Personen­freizügigkeit zum entscheidenden Argument werden, weil London den Arbeits­markt ohne Übergangs­fristen sofort für billige Arbeits­kräfte aus Ost­europa geöffnet hatte. In den Jahren 2014 bis 2017 kamen jährlich über 200’000 Zuwanderer aus EU-/Efta-Staaten ins Land.

Das Argument, die Zuwanderung drücke die Löhne, spielt auch in der schweizerischen Debatte eine Rolle, lässt sich aber – mit Ausnahme der Folgen für niedrig qualifizierte ansässige Ausländer – nicht erhärten. Vielmehr erhöht sie die Flexibilität des Arbeits­markts und trägt dazu bei, dass der Zugang zum Binnen­markt über den Aufschwung der Exporte eine durchschnittliche Reallohn­entwicklung pro Kopf von jährlich 0,7 Prozent über die ganze Zeit von 2002 bis 2018 ermöglichte.

Zentral für die innen­politische Akzeptanz der Bilateralen sind aber nach wie vor die flankierenden Massnahmen, weil nur ein Lohn­schutz vor ausländischer Billig­arbeit das hohe Einkommens­niveau in der Schweiz verteidigen kann. Es ist von daher nur verständlich, dass die Linke den Lohn­schutz bedingungslos verteidigt. Die SP war damit äusserst erfolgreich, sehr im Kontrast zum Niedergang ihrer Schwester­parteien in Frankreich, Italien und Deutschland. Problematisch an der Haltung der Linken in dieser Debatte war aber, dass sie nicht das Schutz­niveau, sondern die bestehenden Massnahmen als unantastbar deklarierte, anstatt dem Bundesrat die Beweis­last für die rote Linie des Lohn­schutzes zu überlassen, auf die er sich verpflichtet hatte.

Die EU befindet sich in einer Krise, weil sich unter dem Druck nationaler Probleme einige Mitglieds­staaten immer weniger an das Gemeinschafts­recht halten. Ob Brüssel mit dem aktuellen Kraftakt einer immensen Neuverschuldung die Gemeinschaft erfolgreich aus der Corona-Krise führen kann, ist offen. Umso mehr insistiert Brüssel auf den Prinzipien der Union, um das Ganze zusammen­zuhalten. Auch von daher sind Flexibilität und Nachsicht gegenüber Aussen­stehenden nicht angesagt. Für das Vereinigte König­reich und die Schweiz naht die Stunde der Wahrheit. Weder Bern noch London können den Grundsatz­entscheid noch lange hinaus­schieben. Aber trotz aller Ähnlichkeiten ist die Ausgangs­lage beider Länder verschieden.

Gelingt in den Brexit-Verhandlungen der nächsten Wochen kein Durchbruch und verlangt London keine Verlängerung der Verhandlungen, fällt das König­reich in der Silvester­nacht automatisch in den Hard Brexit. Jetzt damit zu drohen, wird Brüssel und die 27 Mitglieder nicht zu substanziellen Zugeständnissen veranlassen. Seinerseits wird auch Boris Johnson – geschwächt durch sein Corona-Desaster und umgeben von den Hard­linern in seiner Regierung – kaum bereit sein zurückzurudern, weder durch eine Verlängerung der Verhandlungs­frist noch durch plötzliche Kompromiss­bereitschaft. Da beide Seiten ihre Prinzipien hochhalten dürften, erscheint ein Hard Brexit immer wahrscheinlicher.

Es geht nur noch um drei Detailfragen

Im Vergleich dazu ist die schweizerische Ausgangs­lage weit weniger bedrohlich, zumal sich eine Ablehnung der Begrenzungs­initiative abzeichnet. Brüssel und Bern haben den Vertrags­text ausgehandelt, zu klären sind lediglich noch drei Detail­fragen bezüglich staatlicher Beihilfen, Lohn­schutz und der Unions­bürger­richtlinie. Dafür liesse sich rasch eine vertretbare und pragmatische Lösung finden. Neuverhandlungen zu fordern, wie dies der ehemalige Staats­sekretär Michael Ambühl im Juni in der NZZ getan hat, verkennt hingegen, genauso wie seine frühere Idee eines «Interims­abkommens», die klare und prinzipielle Position der EU und schürt nur bekannte Illusionen. Zum Tango braucht es zwei, und eine neue Einladung zum Tanz wird in Brüssel auf taube Ohren treffen.

Für die staatlichen Beihilfen kann Bern in einer inter­pretativen Erklärung festhalten, dass im Konflikt­fall das Schieds­gericht nur einvernehmlich angerufen werden kann. Aufgrund des Freihandels­abkommens kann hier die EU ihre Positionen nicht einseitig durchsetzen.

Für den Lohn­schutz könnten sich beide Seiten darauf einigen, gemeinsam das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit» zu bekräftigen und auf effektive, verhältnis­mässige und nicht diskriminierende Kontrollen durch die Sozial­partner zu zählen. Gestützt darauf kann sich Bern in einem Konflikt­fall für die Gewerkschafts­interessen starkmachen, ohne dass es zu einer Eskalation kommen sollte.

Bezüglich der Unionsbürger­richtlinie, die im Abkommen gar nicht erwähnt wird, kann Bern einseitig erklären, dass die Schweiz weiterhin für ihre nationalen Interessen in Zuwanderungs­fragen einstehen wird. Aus Sicht der EU-Kommission betrifft das Prinzip der Freizügigkeit jedoch nicht nur die Arbeits­kräfte, sondern alle Personen, welche die Staats­bürgerschaft eines Landes innehaben, das am Binnen­markt teilnimmt. Brüssel geht deshalb davon aus, dass die Schweiz Regeln zur Freizügigkeit, die in der EU seit dem Freihandels­abkommen von 1972 erlassen wurden, übernehmen müsste. Die EU könnte es deshalb nicht akzeptieren, wenn die Schweiz heute erklären würde, dass sie sich in diesem Punkt dem Mechanismus zur Streit­beilegung verweigern wird. Diese Differenz lässt sich nicht aus der Welt schaffen. Deshalb lässt man die Frage am besten einfach offen – und im Streit­fall wird gestritten. Innerhalb der EU wird sehr viel gestritten. Kriminelle aus EU-/Efta-Staaten könnten am Ende vielleicht nicht mehr so leicht ausgewiesen werden. – So what?

In seltener Eintracht argumentieren heute sämtliche Parteien (ausser der SVP) und alle wichtigen Verbände im Land für das Nein zur Begrenzungs­initiative, selbst SVP-Bundesrat Guy Parmelin ist dem Chor beigetreten. Eine Ablehnung des Rahmen­abkommens hätte sehr ähnliche – wenn auch verzögerte – Folgen wie ein Ja am 27. September: Die bestehenden Verträge würden ausgehöhlt und neue Verträge verhindert. Der Status quo ist keine Alternative. Allein das Rahmen­abkommen sichert die Zukunft des Bilateralismus – aber nicht zum Null­tarif.

Ein besseres Abkommen ist nicht im Angebot.

Eine Ablehnung der Initiative am 27. September wird allgemeine Erleichterung zur Folge haben, aber kaum einen raschen Entscheid für das Rahmen­abkommen. Nostalgie für helvetische Abgrenzung und Misstrauen «gegenüber Europa» werden wohl weiter die Debatte bestimmen. «In Europa» abermals auf Nachsicht, Geduld und Verständnis für unsere entscheidungs­schwache Innen­politik zu zählen, wird jedoch nicht mehr weiterhelfen. Brüssel wird den Druck auf Bern erhöhen und bestehende Abkommen nicht mehr anpassen, was die Interessen der Wirtschaft zunehmend belasten wird. Der Brexit wird – unabhängig von seinem Ausgang – die Grenzen des Möglichen bestätigen, uns aber keinen neuen Spiel­raum verschaffen. Wir müssen entscheiden, ob wir weiterhin vom Binnen­markt profitieren wollen. Falls ja, gilt frei nach Friedrich Engels: «Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit.»

Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus mit einem Monatsabonnement oder einer Jahresmitgliedschaft!