«Die Richter machen die Faust im Sack. Sie haben Angst»

Martin Burger war Zürcher Obergerichts­präsident – und überzeugtes SVP-Mitglied. Inzwischen ist er wegen der Druckversuche der Partei gegen ihre Richter ausgetreten. Und fordert ein Ende der politischen Kungeleien im Justizsystem.

Ein Interview von Brigitte Hürlimann (Text) und Joan Minder (Bilder), 23.09.2020

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«Nun ist fertig, ich trete aus»: Martin Burger.

Heute Mittwoch traben 37 Bundes­richter in Bern zur Wieder­wahl an, ein weiterer Kandidat stellt sich erstmals zur Verfügung. Das Prozedere findet alle sechs Jahre statt und sorgt normaler­weise für wenig Spannung oder Aufsehen. Doch von normal kann dieses Jahr keine Rede sein.

Einer der höchsten Richter, die sich der Wieder­wahl stellen, ist der Walliser Yves Donzallaz – Mitglied der SVP, seit 2008 am Bundes­gericht, damals auf wärmste Empfehlung seiner Partei. Doch die Beziehung zwischen dem Richter und der Volks­partei hat sich seither abgekühlt. Eine knappe Mehrheit der SVP-Bundes­haus­fraktion schlägt ihn nicht mehr zur Wieder­wahl vor; wegen Urteilen, die der Partei nicht passen.

In der Politik gehen ob des Manövers die Wogen hoch. Aus der Justiz aber dringt kaum Wider­spruch an die Öffentlichkeit. Nun kritisiert der ehemalige Zürcher Ober­gerichts­präsident und SVP-Gemeinde­rat Martin Burger die Versuche, Druck auf die dritte Gewalt auszuüben, überaus deutlich.

Martin Burger, der Fall Donzallaz zeigt, wie viel Macht die Politik über die Gerichte ausübt. Was ist Ihre Einschätzung?
Das Potenzial des Macht­missbrauchs, das die Parteien bei Nominationen von Richterinnen und bei den Richter­wahlen haben, war immer latent vorhanden. Nun hat es sich zum ersten Mal verwirklicht. In der jüngeren Geschichte ist es noch nie passiert, dass ein Bundes­richter von irgendeiner Partei nicht mehr vorgeschlagen wird, weil er an missliebigen Urteilen mitwirkte. Es wurde bisher akzeptiert, dass ein solcher Vorgang eine Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit darstellt. Die Wahl der Richterschaft ist nicht geeignet und nicht dafür gedacht, Richter abzustrafen, weil sie falsche Urteile gefällt haben sollen. Es ist ein erstmaliger Vorgang und eine unheilvolle Entwicklung.

Bundesrichter Donzallaz hat sich zur Abwahl­drohung seiner Partei öffentlich geäussert. Das ist eine absolute Ausnahme.
Ich finde es sehr gut, was Herr Donzallaz macht, er tritt entschlossen auf, mit überzeugenden Argumenten. Mein Wunsch wäre es, dass man in Zukunft solche Äusserungen von Richtern vermehrt hören würde.


Das Zerwürfnis zwischen der SVP und Bundes­richter Donzallaz geht unter anderem auf einen Entscheid des Bundes­gerichts zurück, welcher der Eidgenössischen Steuer­verwaltung erlaubte, Informationen über rund 40’000 UBS-Kundinnen an Frankreich zu übermitteln. Das Urteil vom Juli 2019 fiel mit drei zu zwei Stimmen, Donzallaz stimmte für die Daten­auslieferung. Bereits 2015 war Donzallaz an einem Urteil beteiligt, in dem das Bundes­gericht mit vier gegen eine Stimme feststellte, das Personen­freizügigkeits­abkommen gehe bei der Umsetzung der Massen­einwanderungs­initiative dem Landes­recht vor. Die Gegen­stimme stammte von einem SVP-Richter, aber nicht von Donzallaz.

Ich will es genauer wissen: Unrühmliche Vorgänge am Bundesgericht

Nicht nur der partei­politische Angriff auf einen unliebsamen Richter überschattet die Wieder­wahl der Bundes­richterinnen im Parlament.

Beim einzigen der 38 Richter, der für die neue Amts­periode nicht mehr antritt und ersetzt werden muss, handelt es sich um den amtierenden Bundes­gerichts­präsidenten Ulrich Meyer. Sein Abschied verläuft, gelinde gesagt, unharmonisch. Meyer musste sich diesen Sommer wegen sexistischer Bemerkungen gegenüber einer Bundes­straf­richterin in aller Form öffentlich entschuldigen. Das Erstaunen über seine Entgleisung war gross, nur der bevor­stehende Rück­tritt ersparte ihm weiteres Ungemach: Seine Präsidial­zeit hört turnus­gemäss Ende Jahr auf, und er wird diesen Herbst 67 Jahre alt.

Erst vor wenigen Tagen wurde zudem bekannt, dass gegen Meyer und zwei weitere Bundes­richter Straf­anzeige eingereicht worden ist. Bundes­straf­richterin Andrea Blum bezichtigt drei der höchsten Richter – die Mitglieder der Verwaltungs­kommission – der Verleumdung. Ihr werde vorgeworfen, Gerichts­interna in den National­rat getragen zu haben, was nicht zutreffe, macht sie geltend. Neben dem Noch-Präsidenten hat die SVP-Richterin auch Vize­präsidentin Martha Niquille und Bundes­richter Yves Donzallaz angezeigt – mit Letzterem einen Parteikollegen.

Andrea Blum ist allerdings selber in ein schiefes Licht geraten. Die «Rundschau» machte einige ihrer Facebook-Posts publik, in der sie Corona-skeptische Inhalte teilt oder verlinkt. Diese Links führen teilweise zu Platt­formen von Verschwörungs­theoretikern. Auf diese öffentlichen Äusserungen einer Bundes­straf­richterin angesprochen, sagt Andrea Caroni, FDP-Ständerat und Präsident der Gerichts­kommission: Es gelte die Meinungs­äusserungs­freiheit, doch solche Posts seien erstaunlich und «spektakulär»; eine Veröffentlichung auf Facebook sei nicht mehr nur privat. Eine Empfehlung für eine Nicht­wiederwahl der Richterin werde es jedoch nicht geben, so Caroni gegenüber der «Rund­schau», die Schwelle dazu sei hoch und in diesem Fall nicht erreicht.

Herr Burger, das Vorgehen der SVP, einen Richter wegen unliebsamer Urteile aus dem Amt hieven zu wollen, zeugt von einem bedenklichen Verständnis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Genau. Man kann die Urteile übrigens durchaus kritisieren, ich habe auch nicht begriffen, warum die Schweiz Daten an den französischen Fiskus liefern soll. Aber das ist noch lange kein Grund zu sagen, jemand dürfe nicht mehr Richter sein. Hier werden die Gewalten­teilung und die richterliche Unabhängigkeit tangiert.

Sollten die Richterinnen ihre vornehme Zurück­haltung in der Öffentlichkeit aufgeben, wenn ihre Unabhängigkeit angegriffen wird?
Ja, vor allem wegen der Zumutungen aus der Politik. Die Politiker wurden in den letzten Jahren immer offensiver gegenüber der dritten Staats­gewalt. Nicht nur SVP-Politiker. Da muss man einen Gegen­druck entwickeln und gegenüber der Bevölkerung Stellung beziehen. Die Richter sollten offensiver kommunizieren und auf Falsch­informationen hinweisen. Ich bin aber pessimistisch, dass dies geschehen wird. Unser Richter­wahl­system hält die Richter in Schach. Jegliche Konflikte, die ein Richter mit seiner Partei und mit dem Wahl­gremium riskiert, setzen ihn der Gefahr aus, dass er Nachteile gewärtigen muss. Darum sind die Leute so vorsichtig. Dass sich die Richter nicht hinter dem Busch hervor­wagen, ist für mich ein Symptom dafür, dass wir unser Richter­wahl­system hinter­fragen und reformieren müssen.


Die Affäre Donzallaz rückt das unrühmliche Richter­wahl­system ins Scheinwerfer­licht: Die Richter­posten werden hierzulande nach der Partei­stärke verteilt, und jede Richterin hat ihrer Partei als Dank fürs Mandat jährliche Abgaben in erklecklicher Höhe zu leisten. Wer kein Partei­buch vorweisen kann, hat keine Chance auf eine Richter­stelle an einem höheren Gericht. Nur in unteren Instanzen, wenn das Volk die Richterinnen direkt wählt, kommen Parteilose zum Zug. Zum grossen Ärger der Parteien.

Einer, der dieses System jahrzehntelang mitgetragen hat, war Martin Burger.

Herr Burger, sind Sie nach wie vor der Meinung, dass ein Richter zwingend Partei­mitglied sein muss?
Nein, nicht mehr.

Wie kam es zu dieser Meinungsänderung?
Die Erfahrungen haben mich geprägt. Vor allem die Erfahrung, dass wir in der partei­internen Richter­wahl­kommission die fachliche Befähigung und die persönliche Eignung in den Vorder­grund stellten, die Fraktion aber andere Prioritäten hatte.

Nämlich?
Es war wichtiger, ob und wie sich jemand in der SVP engagiert hat. Wenn jemand im Parlament war, wie ich damals im Zürcher Gemeinde­rat, dann hatte er einen enormen Vorteil. Man kannte ihn und wusste, der ist auf Partei­linie. Das war ausschlag­gebend, und das hat mich gestört. Es bewarben sich hervor­ragende Kandidatinnen für eine Ober­richter­stelle, und die hatten keine Chance: weil sie nicht in einem Partei­vorstand waren, keine Flug­blätter verteilten, sich in der Partei nicht engagierten. Dafür wurden mittel­mässige Juristen gewählt, weil die sich für die Partei enorm ins Zeug gelegt hatten.

«Heute ist in der SVP eine Bereitschaft für Eskalationen da, ohne ernsthaft nach einer Lösung zu suchen»: Martin Burger auf dem Zürcher Helvetiaplatz.

Haben Sie das nie moniert?
Doch, ich habe es versucht. Aber auch in der Richter­wahl­kommission sitzen halt Politiker, die jenen Leuten den Vorzug geben, die sie kennen. Immerhin konnte ich in ein paar Fällen das Schlimmste verhindern. Aber die Kandidaten, die sich in der Politik engagiert hatten, kamen früher oder später doch zum Zug. Es geht um ein Belohnen für Verdienste in der Partei, um eine Gegen­leistung. Genau so, wie man es nicht machen sollte.


Der 62-Jährige war bis Ende Juni Präsident des Zürcher Ober­gerichts – und bis vor kurzem Mitglied der SVP. Die Richter­stelle hat Burger alters­halber aufgegeben, er ist heute in Früh­pension und verfasst eine Doktor­arbeit über das Richter­wahl­system in Zürich. Die Partei hingegen hat er aus Protest verlassen: wegen einer Ehren­charta, verfasst von der Kantonal­zürcher SVP, mit der die Richterinnen auf Partei­linie getrimmt werden. Als weiterer Grund kam Anfang September die Causa Donzallaz hinzu: «Inakzeptabel, bedenklich und gefährlich», sagt der ehemalige Oberrichter.

Wie haben Sie den Einfluss der Partei auf Ihre Arbeit als Richter erlebt?
Als Bezirks­richter war er inexistent. Aber als Ober­richter und vor allem als Gerichts­präsident kam es zu informellen und unter­schwelligen Versuchen, Einfluss zu nehmen. Allerdings nie in diesem schlimmen Ausmass, wie das jetzt auf Bundes­ebene geschieht.

Wie muss man sich die Einfluss­versuche auf Kantons­ebene vorstellen?
Ich kann ein Beispiel machen: Ich sitze als Gerichts­präsident mit Kantons­räten beim Mittag­essen, es wird ein bestimmtes Urteil angesprochen – und es taucht die Frage auf, wer an diesem Urteil beteiligt gewesen sei. Wenn ich die Namen nannte und es war jemand von der SVP dabei, wurde zum Teil krass reagiert. Man müsse sich überlegen, ob diese Person wieder vorgeschlagen werden solle, hiess es dann. Solche Vorhaben wurden zwar nie in die Tat umgesetzt. Sie blieben aber ständig spürbar.

Solche Druck­versuche sind nicht neu?
Wie gesagt, ich erlebte sie vor allem in den vergangenen vier Jahren, als Ober­gerichts­präsident. Die Druck­versuche waren manchmal ausgeprägter, manchmal weniger, je nach den Urteilen, die gefällt wurden. Generell kann man sagen, dass die SVP der Justiz und der Richterschaft gegenüber sehr kritisch eingestellt ist, sowohl im Kanton Zürich als auch in der restlichen Schweiz. Und dennoch fordert man nicht etwa die besten Leute für die Gerichte. Es geht um etwas anderes. Von den SVP-Richtern wird verlangt, dass sie die Partei­linie einhalten.

Das Partei­buch kommt an erster Stelle.
Innerhalb der SVP besteht der generelle Verdacht, dass die Richterinnen nicht das tun, was sie aus Sicht der SVP tun sollten. Das betrifft auch die eigenen Richter. Wenn ich in der Partei die einzelnen Richter­kandidaten vorstellte, hörte ich manchmal den Kommentar: «Bei dem steht nicht nur SVP drauf, da ist auch SVP drin.» Mit anderen Worten: Es wird erwartet, dass ein SVP-Richter die Partei­linie durchzieht. Es war ein permanenter Druck da, den vielleicht nicht alle Richter gleich stark gespürt haben wie ich als Gerichts­präsident. Mir war bewusst, dass wir unter Beobachtung stehen.

Wie reagieren Ihre SVP-Richter­kollegen auf den Druck?
Sie erzählen mir nur informell, dass sie bei ihren Sektionen komische Bemerkungen hören. Als dann aber im Juni diese unsägliche Geschichte mit der Ehren­charta kam, da äusserten viele ihren Ärger.

Was soll diese Ehrencharta?
Es geht um die Verpflichtung der Mandats­träger, also auch der Richter, sich dauerhaft für die Partei zu engagieren, vor allem im Wahl- und im Abstimmungs­kampf. Oder um die Zustimmung zum Partei­programm, zu den Grund­sätzen der SVP sowie um die Bereitschaft, die Partei nach aussen zu vertreten und zu repräsentieren. Und es wird die Pflicht aufgeführt, eine Mandats­steuer zu zahlen. In der alten Fassung war noch ein Ehren­gericht erwähnt, das Wider­handlungen gegen die Charta ahnden sollte. Auf meine Intervention hin wurde das Ehren­gericht wieder entfernt, und es wird neu die richterliche Unabhängigkeit erwähnt. Das hat jedoch die Funktion eines Feigen­blatts. Als ich an der Vorstands­sitzung gegen die Ehren­charta intervenierte, ging ein Bashing los – gegen mich und gegen die Richterschaft insgesamt. Das war ein negativer Höhe­punkt mit meiner Partei.

Wer muss das Papier unterschreiben?
Richterkandidaten, wenn sie sich bewerben, und bestehende Richterinnen vor den Wieder­wahlen. Ich weiss, dass Kandidaten die frühere, schärfere Fassung unter­schrieben haben. Nach meiner Intervention beschloss der Vorstand, die Charta den Mandats­trägern vorzulegen und zu erklären. Andere Richter und Staats­anwältinnen regten sich heftig auf. Aber sie wagen es nicht, öffentlich und namentlich Kritik zu äussern, sie machen die Faust im Sack. Sie haben Angst. Sie befürchten Nachteile für ihre Laufbahn. Einige dachten darüber nach, aus der Partei auszutreten, und taten es doch nicht.

Sie hingegen sind ausgetreten. Warum?
Aus den erwähnten Gründen. Und es kommt ein weiterer Grund hinzu. Die SVP geht fälschlicher­weise davon aus, ich hätte die Ehren­charta in die Medien getragen. Das stimmt nicht. Ich würde es gerne zugeben, wenn ich es gewesen wäre. Der Kantonal­zürcher Partei­präsident hat in einem «Tages-Anzeiger»-Artikel brand­schwarz gelogen, indem er sagte, diese Sache mit der Ehren­charta sei seit Monaten nicht mehr aktuell, was einfach nicht stimmt. Er stellte mich und die übrigen Richter als Trottel hin. Nach dieser Episode war für mich klar, nun ist fertig, ich trete aus.


Martin Burger ist in den frühen 1990er-Jahren der SVP beigetreten, weil er eine Karriere in der Straf­justiz anstrebte. Er wusste, dass es ohne Partei­buch nicht geht. Er entschied sich für die SVP, weil er deren Umgang mit Kriminalität schätzte – die harte Linie, die klaren Worte, die Lösungs­vorschläge. Er habe damals in der Stadt Zürich eine politische Lethargie gespürt, sagt Burger, die nur die SVP habe aufbrechen können.

Nach fünf Jahren in der Straf­verfolgung wechselte Burger die Seiten und wurde Richter; zunächst am Bezirks­gericht Zürich, ab 2006 am Ober­gericht. Von 2002 bis 2006 war er zudem SVP-Mitglied im Stadt­zürcher Parlament, dem Gemeinde­rat. Eine Doppel­funktion, von der er heute abraten würde.

Herr Burger, was ist problematisch daran, wenn Richter auch noch Parlamentarier sind?
Es ist schlecht für die Gewalten­teilung. Diese Doppel­funktion ist zwar nicht auf allen Ebenen möglich, ein Ober­richter beispiels­weise darf nicht Mitglied des kantonalen Parlaments sein. Auf der unteren Stufe aber gibt es keine derartige Unvereinbarkeits­regel – doch eine solche sollte geschaffen werden, für alle Stufen. Es gibt immer wieder Themen, bei denen die Doppel­rolle heikel ist, auch im kommunalen Parlament: wenn es etwa darum geht, Bussen­höhen neu zu bestimmen. Ein Politologe nannte mich in meiner Funktion als SVP-Parlamentarier einen Hardliner. Das gab mir zu denken.

Warum?
Ich hatte mir grosse Mühe gegeben, im Parlament nicht zu polemisieren, doch das war mir offensichtlich nicht gelungen. Ich begann zu realisieren, dass sich ein Parlaments­mandat nicht mit der Richter­rolle verträgt. Denn als Richter hat man eine andere Funktion und ein anderes Auftreten als ein Politiker.

Als Richter hatten Sie nicht den Ruf, ein Hardliner zu sein?
Nein, das glaube ich nicht. Unsere Urteile wurden breit getragen. Ich fand allerdings, dass wir Richter zeitweise zu lasch mit den Gewalt­tätern umgingen. Das hat sich inzwischen geändert.

Die SVP hat den unsäglichen Begriff der Kuschel­justiz erfunden.
Dazu muss ich Folgendes sagen: Es kommt zu Generalisierungen, gerade in der SVP, die einfach nicht zutreffen. Wenn man aufs Gerate­wohl sagt, ohne Akten­kenntnisse und ohne die Hinter­gründe zu kennen, das sei Kuschel­justiz, dann bin ich nicht mehr dabei. Das Stich­wort ist häufig und leider auch zu Unrecht genannt worden, weil man die Sach­verhalte nicht kannte.

Haben Sie nie versucht, bei Ihren Partei­kollegen korrigierend einzugreifen?
Ich habe es versucht, bei einzelnen Parlamentariern ist es mir vielleicht gelungen. Aber es ist heute in der SVP eine Bereitschaft für Eskalationen da, ohne ernsthaft nach einer Lösung zu suchen. Als ich das realisierte, habe ich begonnen, mich von der Politik zu entfernen. Obwohl ich grund­sätzlich vom Partei­programm her nach wie vor hinter der SVP stehen würde.

Es fällt auf, dass die Richterschaft mehrheitlich schweigt, auch wenn die Gerichts­barkeit als Institution angegriffen wird.
Das sehe ich auch so, und ich bedaure es. Ich kann natürlich leicht reden, weil ich mich öffentlich äussere und mir das auch leisten kann: wegen der zeitlichen Koinzidenz. Die negativen Vorfälle fielen mit meiner Früh­pensionierung zusammen.

Und wenn Sie nicht kurz vor der Früh­pensionierung gestanden wären?
Dann hätte ich trotzdem auf den Putz gehauen.

Wirklich?
Ja, das hätte ich gemacht. Ich war ja der einzige Richter im SVP-Vorstand. Ich habe eine Woche vor der Vorstands­sitzung die Unter­lagen bekommen und gesehen, was in dieser Charta steht. Es war mir klar, das wird durch­gewinkt, wenn wir uns nicht wehren.

Hätten Sie sich auch dann gewehrt, wenn Sie ein junger Richter gewesen wären, der am Anfang seiner Karriere steht?
Dann vermutlich nicht. Hätte die Gefahr bestanden, dass ich meinen Beruf aufgeben müsste, hätte ich es nicht gemacht. In dieser Situation befinden sich halt viele Richterinnen und Staatsanwälte.

Streitpunkt Ehrencharta: «Der Kantonalzürcher SVP-Partei­präsident hat brandschwarz gelogen».

Haben sie derart Angst vor einer Nichtwiederwahl?
Ja. Und sie haben Angst vor den partei­internen Querelen. Bis es dazu kommt, dass eine Richterin nicht wieder vorgeschlagen wird, braucht es zwar viel. Aber wenn sich jemand in der Partei unmöglich macht, kann er seine Karriere, den Wechsel an ein oberes Gericht vergessen.

Ausser, er wechselt die Partei.
Aber nur, falls die neue Partei bereit ist, ihn zu portieren. Den Partei­proporz kann man umgehen, indem man die Partei aus taktischen Gründen wechselt. Das hat aber nicht mehr viel damit zu tun, dass an den Gerichten möglichst viele Welt­anschauungen vertreten sein sollen, wie es immer so schön heisst, um den Partei­proporz zu rechtfertigen.

Wie verlaufen solche Wechsel?
Ich habe schon alles erlebt, Leute, die von der SP zur SVP wechselten oder von der FDP zur SP. Und alles nur deshalb, weil der Partei­wechsel einen Karriere­schritt ermöglichte. Den Interessenten für eine Richter­stelle kann ein solches Vorgehen nicht vorgeworfen werden. Der Vorwurf muss den Parteien gemacht werden, die sich die Richter­stellen via Partei­proporz quasi angeeignet haben – obwohl es sich nicht um politische Mandate handelt.

Was schlagen Sie vor, um den Einfluss der Politik auf die Gerichte zurückzudrängen?
Ich würde die periodische Wieder­wahl abschaffen. Das ist der Dreh- und Angel­punkt der Abhängigkeit zur Partei oder zum Wahl­gremium. Wenn keine Wieder­wahl mehr nötig ist, dann bringen Druck­versuche nichts mehr. Ein Wieder­wahl­prozedere, wie es die Schweiz kennt – mit Ausnahme des Kantons Freiburg –, gibt es in Europa nur gerade in drei Ländern: neben der Schweiz noch in Liechtenstein und in Andorra. Alle anderen wählen die Richter entweder auf unbestimmte Zeit oder auf eine bestimmte, aber lange Amts­dauer. Das müsste man zuerst ändern. Die Wieder­wahl abschaffen und ein Abberufungs­verfahren einführen.

Und der Parteiproporz?
Den muss man hinterfragen, aber nicht zwingend abschaffen. Er hat durchaus seine Berechtigung, auch wenn er nicht ideal ist. Er darf bloss nicht das ausschlag­gebende Kriterium sein. Ich hätte eine Idee, sie wird auch in der Justiz­initiative genannt.

Die wäre?
Ein unabhängiges Fach­gremium, bestehend aus Anwälten, Richterinnen, Professoren, Staats­anwältinnen und anderen Experten. Dieses Gremium wird dem Wahl­organ vorgeschaltet, das vermutlich weiterhin ein Parlament bleiben wird. Aber der Partei­proporz würde aufgeweicht, weil in der Fach­kommission die Partei­zugehörigkeit nur noch am Rande ein Thema sein wird, wenn überhaupt. Die Kungeleien unter den Parteien und partei­intern wären damit beendet. Und dann sollte man gesetzlich verbieten, dass Richterinnen ihren Parteien eine Mandats­steuer bezahlen müssen; das Ganze verbunden mit der bereits erwähnten Abschaffung der periodischen Wiederwahl. Diese dient aus Sicht der Partei­funktionäre ohnehin nicht der demokratischen Legitimation der Richterschaft. Sondern vielmehr der Sicher­stellung der Zahlungs­moral, was die Partei­steuer betrifft.

Keine Partei wird sich dafür einsetzen, dass der Partei­proporz aufgehoben wird.
Das ist so, denn es geht es um die Aufteilung des finanziellen Kuchens. Die Parteien können nur dank den Abgaben der Richter so kutschieren, wie sie das heute tun – der sogenannt freiwillige Partei­proporz dient primär der Parteien­finanzierung. In der Rechts­wissenschaft wird gefordert, dass er wenigstens in einem Gesetz festgehalten wird. Doch ob die Bevölkerung ein solches Gesetz annehmen würde, ist mehr als fraglich. Viele sind sich gar nicht bewusst, dass die Richterinnen zwingend Partei­mitglied sein müssen und Mandats­steuern zahlen. Wer es erfährt, ist schockiert. Ich habe der SVP immer gesagt, ihr schmuggelt den Partei­proporz, das System der Richter­wahlen, am Volk vorbei. Ein solcher Vorwurf kommt in der Volks­partei nicht gut an.

Dank der Justiz­initiative wird das Richter­wahl­system jetzt immerhin diskutiert.
Aber der Bundesrat lehnt sie ohne Gegen­vorschlag ab. Das lässt den Verdacht aufkommen, dass die Politiker, inklusive Bundes­rat und Parlament, sehr daran interessiert sind, dass möglichst alles so bleibt, wie es ist.

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