Serie «Demokratie-Check» – Teil 2

Der Mehrheit die Stirn bieten

Sie brauchen und sie reiben sich: Demokratie und Rechts­staatlichkeit. Selten war diese Spannung in der Schweiz so klar wie im Kampf um das Frauen­stimmrecht. Demokratie-Check, Teil 2.

Von Brigitte Hürlimann, 26.02.2020

Kein Zugang zum politischen Leben: Eine Frau 1946 an der Lands­gemeinde in Trogen AR. Theo Frey/Fotostiftung Schweiz/Keystone

Wir schreiben den 26. Juni 1957.

Es ist ein Mittwoch, und im Bundes­haus diskutiert der Nationalrat, wie man die Steuer­hoheiten zwischen Bund und Kantonen aufteilen soll. Ein höchst demokratisches Anliegen, das da in Bundes­bern heftig diskutiert wird, föderalistisch und so typisch schweizerisch. Doch bezeichnend ist auch: Im Parlament sitzen nur Männer.

Gleichentags in Lausanne, rund 100 Kilometer von Bern entfernt: Das Bundes­gericht beugt sich über eine Beschwerde der Waadtländer Rechts­anwältin Antoinette Quinche. Die FDP-Politikerin und Frauen­rechtlerin verlangt vom höchsten Gericht der Schweiz, sie sei an ihrem Wohnort als Stimm- und Wahl­berechtigte zuzulassen. Sie beruft sich auf Artikel 4 der damaligen Bundesverfassung (heute Artikel 8 Absatz 1): «Alle Schweizer sind vor dem Gesetz gleich.» Die Waadtländer Kantons­verfassung, sagt die Beschwerde­führerin, verletze übergeordnetes Recht, weil sie das Stimm- und Wahl­recht nur den Männern zubillige. Quinche unterliegt mit ihrem Anliegen. Das Bundesgericht schmettert ihre Beschwerde ab, unter anderem mit folgenden Argumenten:

  • Das Waadtländer Stimm- und Wahl­recht ist mit der Wehr­pflicht verbunden und steht damit unzweifelhaft nur den Männern zu.

  • Es entspricht einer «absolut konstanten Recht­sprechung», ja sogar einem Brauch, dass in der Schweiz nur die Männer politische Rechte ausüben dürfen.

  • Die Waadtländer Kantons­verfassung wurde vom Bund genehmigt. Es geht nicht an, dass sich das Bundes­gericht über diese Genehmigung der anderen Staats­gewalt hinwegsetzt. Die Beschwerde­führerin soll ihr Anliegen über eine Verfassungs­änderung und damit über eine Volks­abstimmung vorbringen – nicht auf gerichtlichem Weg erkämpfen.

Mit anderen Worten: Das ausschliesslich von Männern besetzte Bundes­gericht hütet sich, der Politik, ausgeübt durch die männliche Mehrheit der Schweiz, dreinzureden. Ist das nun Respekt vor der Gewalten­teilung, gesetzes­treue Rechts­anwendung, die Einhaltung der demokratischen Spiel­regeln – oder aber Feigheit und eine grobe Missachtung grund­legender rechts­staatlicher Prinzipien?

Friede, Freiheit, Gerechtigkeit

Der emeritierte St. Galler Staats­rechtler Philippe Mastronardi nennt Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit als die drei Ziele der Rechts­staatlichkeit. Und die Grund­rechte als deren Kern­gehalt. Die Gleichheit von Frau und Mann gehört unzweifelhaft zu den universalen Grund­rechten. 1957 schert sich hierzulande weder die Politik noch die Justiz ums übergeordnete Thema. Man argumentiert formalistisch. Die Staats­gewalten schieben sich die heisse Kartoffel gegenseitig hin und her.

Serie «Demokratie-Check»

Alle reden von der Krise der Demokratie – wir auch. Und wir wollen wissen: Was ist es, was die Demokratie im Innersten zusammen­hält? Von welchen Kräften gehen aktuell die grössten Bedrohungen aus? Wie und wodurch erweist sich die Demokratie als widerstands­fähig? Zur Übersicht.

Sie lesen: Teil 2

Der Mehrheit die Stirn bieten

Teil 3

Die Schweiz als Avantgarde des Populismus

Teil 4

Wie ist die Demokratie noch zu retten?

Teil 5

Die Di­gi­ta­li­sie­rung ist politisch

Teil 6

Wie gefährlich ist der Neo­liberalismus?

Teil 7

Ohne Kultur keine Demokratie

Teil 8

Wie stabil sind De­mo­kra­ti­en?

Teil 9

«Die Demokratie wird krank bei zu viel Un­gleich­heit»

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Demokratische Politik und Rechts­staat: Das eine ist vom anderen abhängig. Man braucht sich gegenseitig, streitet sich des Öftern, grenzt sich ab oder greift ergänzend ein.

Notwendig sind beide Elemente, will man Willkür und Tyrannei vermeiden.

Gehen wir von folgenden Grund­lagen aus: Wir verstehen unter Demokratie die Herrschaft des Volks, das heisst der Volks­mehrheit – oder noch exakter: jener, die an die Urne gehen. Sie bestimmen die gesetz­gebende Gewalt (Legislative), die regierende, ausführende Gewalt (Exekutive) und hierzulande auch gleich noch das Personal der dritten Staats­gewalt, der Judikative. Richterinnen und Richter werden vom Volk oder von den Parlamenten gewählt und periodisch wiedergewählt, was sehr demokratisch ist, jedoch rechts­staatlich problematisch (dazu später mehr).

Hat die wählende Volks­mehrheit die Staats­gewalten bestimmt, so zieht sie sich nicht etwa vornehm zurück, sondern entscheidet und gestaltet weiterhin mit. In einer direkten Demokratie wie in der Schweiz mit Volks­initiativen und Sach­abstimmungen an der Urne.

Das Rechtsstaatsprinzip wiederum setzt der Macht der Mehrheit und den von ihr geschaffenen Staats­gewalten klare Grenzen – zum Schutz des Einzelnen. Um nochmals Philippe Mastronardi zu zitieren: Es gelte, die Freiheit des Einzelnen als Leitlinie und als Grenze für die Ausübung der konstituierten Staats­macht zu bestimmen: «Das Recht soll Macht sowohl anleiten wie auch begrenzen. Dies ist Thema des Rechtsstaats.»

Checks and Balances nennt man das Austarieren zwischen den Staats­gewalten, das gegen­seitige Sich-auf-die-Finger-Schauen. Es gelingt mal besser, mal weniger gut, mal schneller, mal unerträglich langsam. Es ist ein ständiges Abwägen zwischen Respekt und notwendigem Eingreifen, ein Ringen um verhältnis­mässige Lösungen. Und es lauert die latente Gefahr, dass eine der Staats­gewalten der anderen übergriffig reinfunkt. Denn das Demokratie- und Rechts­staats­prinzip durchdringt zwar Legislative, Exekutive und Judikative, bildet aber gleichzeitig einen Antagonismus – der sich am Beispiel des Frauen­stimm­rechts bestens darstellen lässt. Schauen wir nochmals zurück in die späten 1950er-Jahre.

Wir schreiben den 1. Februar 1959.

Es ist ein Abstimmungs­sonntag, und der männliche Souverän entscheidet: Die Schweizerinnen bleiben weiterhin von der Politik ausgeschlossen. Die erste eidgenössische Volks­abstimmung zum Frauen­stimm­recht scheitert erschütternd deutlich, sowohl am Volks- als auch am Stände­mehr. Nur die welschen Kantone stimmen für die politische Gleichstellung der Frauen.

Erst zwölf Jahre später, am 7. Februar 1971, beim zweiten Urnen­gang zum gleichen Thema, ringen sich die Schweizer Männer doch noch ein Ja ab. Eine ganze Reihe von Deutsch­schweizer Kantonen lehnt das Frauen­stimm­recht auch beim zweiten Anlauf ab und muss sich der Mehrheit beugen: Appenzell Innerrhoden, Appenzell Ausserrhoden, Schwyz, Obwalden, St. Gallen, Thurgau, Glarus und Uri wollten 1971 noch keine Frauen in der Politik.

Die Schlusslichter

Die Schweiz, das viel bewunderte demokratische Muster­kind mit Vorbild­funktion, rangiert weltweit hinten auf der Liste, was die Einführung des Frauen­stimm­rechts betrifft. Das Schlusslicht unter den europäischen Ländern ist allerdings Liechtenstein: Das Fürstentum erlaubt seinen Bürgerinnen erst seit 1984 die politische Mitwirkung. Doch auch die Schweiz muss nach dem Februar 1971 noch zünftig nachbessern.

Wir schreiben den 27. November 1990.

Es ist ein Dienstag, und einmal mehr hat sich das Bundes­gericht mit dem Frauen­stimm­recht zu befassen. Die Schweizerinnen haben ihre politischen Rechte nicht nur spät, sondern auch inkonsistent bekommen. Fast zwei Jahrzehnte nach der gewonnenen Volks­abstimmung braucht es noch das Macht­wort der Judikative, um den Frauen in der Schweiz vollends den Zugang zum politischen Leben zu ermöglichen.

Das Bundesgericht behandelt eine staatsrechtliche Beschwerde von Theresa Rohner und knapp hundert Mitunterzeichnerinnen und -unterzeichnern. Sie verlangen, dass den Frauen nicht nur auf eidgenössischer Ebene, sondern auch im Kanton Appenzell Innerrhoden die politischen Mitwirkungs­rechte zugebilligt werden. Der Gesetz­geber hatte es versäumt (oder nicht gewagt), klarzustellen, dass dieses fundamentale Recht auf allen Staats­ebenen gilt. Eine typisch schweizerische Rücksicht­nahme auf die föderalistischen Strukturen, auf die Autonomie der Kantone. Wiederum höchst demokratisch, jedoch höchst ungerecht den Frauen gegenüber – und eben: eine Missachtung der Grund­rechte und damit eine Missachtung der Rechtsstaatlichkeit.

Die meisten Kantone haben nach 1971 das Frauen­stimm­recht einigermassen zügig eingeführt, nur Appenzell Innerrhoden stellt auf stur. Der Kanton nutzt auch die letzte Chance nicht, die ihm das Bundes­gericht bietet, indem es die Beschwerde sistiert. Das höchste Gericht wartet eine Lands­gemeinde ab, an der das Frauen­stimm­recht erneut verhandelt wird.

Das Ergebnis? Die Lands­gemeinde verweigert den Innerrhoderinnen am 29. April 1990 einmal mehr die Mitwirkung. Nun schaut das Bundes­gericht dem unwürdigen Treiben nicht länger zu und behandelt Theresa Rohners Beschwerde. Mit einer reichlich verschwurbelten Argumentation führt es das Frauen­stimm­recht im hintersten und letzten Kanton via Urteil ein. Das Bundes­gericht schreibt:

  • «Der Richter muss sich bemühen, eine Norm in einer Weise anzuwenden, die den gegen­wärtigen Gegebenheiten und Auffassungen möglichst entspricht. Er wird daher oft dazu kommen, eine hergebrachte Auslegung aufzugeben, die zur Zeit der Entstehung des Gesetzes zweifellos gerechtfertigt war, sich aber angesichts der Änderung der Verhältnisse oder auch nur wegen der Entwicklung der Anschauungen nicht mehr halten lässt.»

  • Die einschlägige Norm der Appenzell-Innerrhoder Verfassung, welche die Frauen von der politischen Mitwirkung ausschliesst, wurde von der Bundes­versammlung im Dezember 1971 genehmigt. (Notabene: Das war einige Monate nach der Volks­abstimmung vom Februar gleichen Jahres, in der das Frauen­stimm­recht auf eidgenössischer Ebene angenommen wurde.)

  • Das Bundesgericht darf diese kantonale Verfassungs­norm trotzdem überprüfen, weil Artikel 4 Absatz 2 der Bundes­verfassung – «Mann und Frau sind gleich­berechtigt» – erst nach der Genehmigung durch den Bund in Kraft trat (heute Artikel 8 Absatz 3 Bundesverfassung). Der neue Absatz regelt die Gleich­stellung von Frau und Mann in allen Lebens­bereichen und auf allen staatlichen Ebenen. «Heute könnte eine revidierte kantonale Verfassung, die den Frauen das Stimm- und Wahl­recht abspricht, nicht mehr gewährleistet werden.»

Hin und wieder müsse Althergebrachtes über Bord geworfen werden, findet also das höchste Gericht. Es müssten gesellschaftliche Entwicklungen ins Recht fliessen, bestehende Gesetze anders ausgelegt, die Grenzen der kantonalen Hoheit aufgezeigt werden. All dies tut das Bundes­gericht nicht sonderlich gerne, sondern mit grösster Zurück­haltung. Und das hat einen Grund: In der Schweiz geniesst die Politik und damit das Demokratie­prinzip Vorrang vor dem Rechts­staat – anders als beispiels­weise in Deutschland.

Das letzte Wort hat Bundesbern

Die Schweiz kennt keine Verfassungs­gerichtsbarkeit; letzte ernsthafte Bemühungen, diese einzuführen, liegen Jahre zurück. Bei uns gilt der Grundsatz, dass die Volks­vertreterinnen auf Bundes­ebene das letzte Wort haben sollen – nicht die Richterschaft.

Dem Souverän, und damit seit den 1970er-Jahren endlich auch den Frauen, steht ein breites Instrumentarium zur Verfügung, die demokratische Ordnung mitzugestalten: mit Initiativen und Sach­abstimmungen zu schier allen Fragen, als Ergänzung zum umfassenden Wahl­recht. Direkte Demokratie nennt man das. Anders beim grossen nördlichen Nachbarn, wo der Souverän nur wählen darf und den Rest der politischen Arbeit an die Parlamente delegiert. Dafür wacht das Bundes­verfassungs­gericht in Karlsruhe mit weitgehenden Befugnissen über die Rechts­staatlichkeit des demokratischen Handelns.

Gesetze auf ihre Verfassungs­mässigkeit hin überprüfen, das darf das höchste Gericht der Schweiz nicht. Es kann unter gewissen Voraussetzungen einschreiten, wenn Völker­recht verletzt wird – nur schon das ist politisch umstritten. Der Hebel der richterlichen Macht liegt darin, dass die Richterinnen die Gesetze auslegen und konkretisieren. Die Lebens­sachverhalte lassen sich meist nicht telquel unter eine generell-abstrakte Norm subsumieren; die Weiter­entwicklung des Rechts gehört zum täglichen Geschäft der Gerichte – und die Anwendung richterlichen Ermessens. Darin kumuliert sich die Macht der dritten Gewalt im Staat. Eine Macht, notabene, die von der Politik mit Argus­augen beobachtet und vermehrt mit Polemik und Droh­gebärden begleitet wird.

Und wie rechtsstaatlich sind die Gerichte?

Es ist die Politik, die weitgehend die Spiel­regeln der Gerichtsbarkeit diktiert. Das Volk oder die Volks­vertreterinnen wählen die Richter, und zwar streng nach dem Parteiproporz.

Das ist sehr demokratisch und schlecht für die Rechtsstaatlichkeit.

Ans Gericht kommen nicht zwingend die fähigsten Juristinnen, sondern jene mit dem richtigen Partei­büchlein. Und wer einmal einen Richter­posten ergattert hat, bezahlt sein ganzes Richter­leben lang Partei­steuern – je nach Partei in erklecklicher Höhe. Die Anti­korruptions­gruppe des Europarats findet keinen Gefallen an dieser Verknüpfung, die derzeit hängige Justizinitiative schlägt zwar einen radikalen System­wechsel vor, aber alle Parteien – wen wunderts – sind geschlossen dagegen. Auch der Bundesrat lehnt sie ab. Die Landes­regierung stösst sich vor allem am vorgeschlagenen Losverfahren: Damit werde ein Instrument eingeführt, das in der schweizerischen Tradition nicht verwurzelt sei.

Doch nicht nur die Partei­abhängigkeit nagt an der Eigen­ständigkeit der Gerichte: Ausser im Kanton Freiburg müssen sich alle Richterinnen periodisch der Wiederwahl stellen – ein Einfallstor für politische Einfluss­nahme. Wer als Richter einen Entscheid fällt, der nicht auf Partei­linie liegt, sieht sich mit Abwahl­drohungen konfrontiert; so etwa im Sommer vergangenen Jahres, als ein SVP-Bundes­richter mitentschied, dass die Eidgenössische Steuer­verwaltung Informationen über französische UBS-Kunden an Frankreich weiterleiten darf. Der höchst­richterliche Entscheid fiel mit drei gegen zwei Stimmen. Und National­räte aller bürgerlichen Parteien drohten unverzüglich mit der Nicht­wiederwahl des eigenständigen SVP-Richters.

Das Erfordernis der Richter­wiederwahl ist ein Paradox: höchst demokratisch (wie übrigens auch das Recht, jemanden nicht wieder­zuwählen) – und höchst fragwürdig, was die Rechts­staatlichkeit betrifft.

Der Gesetzgeber ist am längeren Hebel

Was neben Richter­wahlen, Wieder­wahlen, Partei­proporz und Partei­steuern nicht vergessen werden darf: Die Politik bestimmt auch über die gerichtlichen Verfahrens­regeln und damit über den Zugang ans Gericht.

Wer darf wann und unter welchen Voraus­setzungen den Richter anrufen, ein Urteil an die nächste Instanz weiterziehen – und was kostet das alles? Diese entscheidenden Fragen werden gesetzlich geregelt und die entsprechenden Gesetze von der Legislative erlassen. Übrigens kann der Gesetz­geber auch sämtliche Erlasse jederzeit wieder abändern; etwa dann, wenn ihm eine höchst­gerichtliche Gesetzes­auslegung und -anwendung nicht in den Kram passt. Dann schreibt er das Gesetz flugs um, und die Gerichte sind daran gebunden. Das Bundes­gericht wiederum kann dem Gesetz­geber nur Vorschläge für Gesetzes­änderungen unterbreiten, was es auch regelmässig tut. Es steht der Legislative jedoch völlig frei, sich darauf einzulassen oder nicht.

Die internen Abläufe und Organisationen hingegen dürfen die Gerichte weitgehend selber bestimmen. Das klingt harmlos, ist es aber nicht. Zur internen Organisation gehört die Fall­zuteilung oder die Besetzung der Richter­bank. Beide Vorgänge berühren den verfassungs­mässigen Anspruch auf ein unabhängiges Gericht. Denn eine rechts­staatlich konforme Unabhängigkeit ergibt sich nicht bloss aus der Abgrenzung zu den beiden anderen Staats­gewalten, sie hat auch gerichts­intern zu erfolgen. Sie gilt für jeden einzelnen Fall, der vor Gericht getragen wird.

Die Rechtssuchenden müssen darauf vertrauen können, auf ein unvoreingenommenes Richter­gremium zu stossen. Es ist nicht gleichgültig, wer auf der Richter­bank sitzt, wer als Referentin den Fall massgeblich bearbeitet, den Richter­kollegen einen Urteils­vorschlag unterbreitet. Die Richterinnen sind keine Rechts­roboter, ihre Werte­vorstellungen fliessen in die Entscheid­findung mit ein. Gewisse Gerichte (hierzulande nur wenige) haben die Problematik erkannt und weisen die Fälle automatisiert, via Software, einem Richter zu. In der Regel aber findet die Fallzuteilung von Hand statt: Die Gerichts­präsidentin oder ein Abteilungs­präsident ordnet die Fälle zu – nach Kriterien, die ausserhalb der Gerichts­mauern niemand kennt.

Sind die Richter in der Lage, mich zu verstehen?

Da steht man also vor Schranken, als Klägerin, Beklagte, Beschuldigte oder Opfer, und wundert sich: Wer sind diese drei oder fünf Menschen, die über meine Sache befinden? Welcher Partei gehören sie an? Können sie es sich erlauben, von der Partei­linie abzuweichen? Geraten sie intern unter Druck, wenn sie eine Minderheits­meinung äussern, eine abweichende Haltung einnehmen? Gefährdet die Eigen­ständigkeit ihre Karriere? Und sind sie überhaupt in der Lage, mich zu verstehen? Entscheiden sie selbstständig und fach­kompetent, oder gibt es Einflüsterer, die im Hinter­grund agieren? Erfahrene Gerichtsschreiberinnen etwa, die einem Laien­richter auf die Sprünge helfen?

Wir wissen wenig von den Richterinnen und Richtern unseres Landes. Wenn sie einmal gewählt sind, verschwinden sie gerne in der Anonymität und schätzen es nicht, wenn über sie oder ihre Arbeit öffentlich gesprochen wird. Das sei eine wichtige Abgrenzung zur Politik, heisst es allenthalben aus Richter­kreisen, man äussere sich im Gerichts­saal und in den Urteilen, das habe zu genügen. Doch ob diese Öffentlichkeits­scheu dazu beiträgt, dass die dritte Gewalt im Staat wahr- und ernst genommen wird? Warum stoisch schweigen, wenn aus der Politik ein Giftpfeil nach dem anderen in Richtung Justiz abgeschossen wird?

Die Zurückhaltung der Richterschaft ist das eine, die Geheimnis­krämerei, was ihre Verhandlungen und Urteile betrifft, das andere. Letzteres ist schlicht inakzeptabel, ein Verstoss gegen die Bundes­verfassung. Urteile sind öffentlich, doch die erstinstanzlichen Entscheide findet kein Mensch, und die zweit­instanzlichen sind nur in gewissen Kantonen zugänglich. Eine löbliche Ausnahme stellen immerhin die eidgenössischen Gerichte dar.

Es ist schwierig und aufwendig, das Wirken der Gerichte nachzuvollziehen oder gar kritisch zu begleiten. Während es die Politik mit der Publicity eher übertreibt, entzieht sich die Gerichts­barkeit allzu sehr dem Volk, wirkt unnahbar und fremd. Das tut der Balance nicht gut. Klar muss eine Richterin nicht ein laufendes oder hängiges Verfahren kommentieren, das könnte mit der Unvorein­genommen­heit und der Unabhängig­keit kollidieren. Aber warum nicht die richterliche Arbeit im Generellen besser bekannt und vor allem verständlich machen? Die Kenntnisse über die Gerichts­arbeit sind in der Schweizer Bevölkerung erschreckend klein.

Es darf ruhig einen Zacken schneller gehen

Wir schreiben das 21. Jahrhundert.

Politik und Justiz, das ist ein Geschwister­paar, das unterschiedlicher nicht sein könnte. Sie sollen sich in den Haaren liegen, das gehört zum System, schafft die Voraussetzung für Korrekturen und Veränderungen. Sie sollen sich aber nicht gegenseitig lähmen und blockieren. Denn nur im fairen und transparenten Zusammen­wirken schaffen sie es, eine moderne Demokratie am Leben zu erhalten, wie wir sie uns im 21. Jahr­hundert vorstellen. Die 1950er-Jahre sind vorbei. Wir haben unsere Lehren gezogen. Eine der wichtigsten lautet: Wenn es um Grund­legendes geht, um die Menschen­würde, die universellen Menschen­rechte – dann darf die Anpassung an veränderte Realitäten und den gesellschaftlichen Werte­wandel ruhig etwas entschlossener erfolgen. Dazu braucht es Mut und Weitsicht bei allen drei Staats­gewalten. Denn diese Wandelbarkeit ist eine der grossen Stärken einer lebendigen Demokratie.

Bis diese beim Frauen­stimm­recht genutzt wurde, hat es reichlich Zeit gebraucht. Heute stehen neue Fragen an und warten auf rasche Entscheide: die Ehe für alle. Die Rechte der Geflüchteten. Die Würde der Alten und Armen. Die Mitbestimmung der Ausländerinnen. Die Verantwortung der Schweiz im internationalen Gefüge.

Es geht um Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit. Und in erster Linie um die Grund­rechte – und zwar für alle. Dafür muss manchmal Althergebrachtes über Bord geworfen werden; dem Neuen, den gesellschaftlichen Entwicklungen zuliebe.

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Wie ist die Demokratie noch zu retten?

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