Die Schadensbilanz

Ignazio Cassis hat die Aussenpolitik so schnell und so radikal umgekrempelt wie keiner vor ihm. Er hat bewährte Werte über Bord geworfen und eine Panne nach der anderen produziert. Jetzt ist der Bundesrat in Panik wegen seiner möglichen Abwahl. In seinem Departement hofft man darauf.

Eine Recherche von Dennis Bühler (Text) und Andrea Ventura (Illustration), 03.12.2019

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Er ist in die Defensive geraten. Und spürbar verzweifelt. Schon im September erzählten Partei­kollegen und enge Mitarbeiterinnen aus dem Aussen­departement, Ignazio Cassis fürchte sich davor, abgewählt zu werden. Am Abend des 20. Oktober aber, als der für schweizerische Verhältnisse epochale Wahlsieg der Grünen feststand, habe sich seine Anspannung in Panik verwandelt.

Seither hat der auf dem FDP-Bundesrat lastende Druck noch einmal zugenommen: Nach den zweiten Wahlgängen ist klar, dass seine Partei im Ständerat nicht zulegen konnte, während die Grünen im Stöckli nun plötzlich fünf Sitze besetzen. Zudem hat die Bedrohung mit Regula Rytz ein Gesicht bekommen. Mit der Grünen-Präsidentin fordert eine in der Bevölkerung beliebte und im Parlament gut vernetzte Politikerin Cassis bei den Bundesrats­wahlen am 11. Dezember heraus – und eine, die als ehemaliges Mitglied der Berner Stadt­regierung zudem über Exekutiv­erfahrung verfügt. Eine Abwahl bleibt zwar unwahrscheinlich. Trotzdem wird der Aussen­minister bis zur Bekanntgabe des Wahlresultats zittern müssen.

Der 58-Jährige hat deshalb in den Wahlkampf­modus geschaltet. Vorsorglich macht er sich in Interviews zum Opfer einer Mehrheit, die mit Minderheiten nicht umzugehen wisse. Als Tessiner sei er benachteiligt, das spüre er als Bundesrat so stark wie nie zuvor. «Die Minderheiten sind sympathisch für die 1.-August-Reden», sagt er. «Wenn es aber um Macht­teilung geht, spielen sie keine Rolle mehr.» Zur Zielscheibe sei er geworden, weil er einer anderen Kultur und Sprachregion entstamme. Die Herkunft unterscheide ihn von seinen Bundesrats­kolleginnen. «Und Unterschiede stören

Stimmt das? Und falls ja: Ist es die ganze Wahrheit?

Oder ist es doch primär Cassis’ Politik, ist es seine Amtsführung?

Mit der Politik seiner Vorgänger gebrochen

Die Republik hat in den vergangenen drei Monaten mit mehr als einem Dutzend ehemaligen und aktiven Diplomaten gesprochen, mit diversen Angestellten des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), mit langjährigen Beobachterinnen der Aussen­politik, Wirtschafts­vertretern, Gewerkschafterinnen und FDP-Mitgliedern.

Das Bild, das sich aus diesen Gesprächen ergibt: Niemand hat die Schweizer Aussenpolitik jemals in so kurzer Zeit so grundlegend umgekrempelt wie Ignazio Cassis. Gemeinsam mit seinem General­sekretär und ehemaligen Geheimdienst­chef Markus Seiler, der zu einer Art Schatten­minister geworden ist, spielt er seit gut zwei Jahren Powerplay: gegen die eigenen Diplomaten, gegen seine Bundesrats­kolleginnen, gegen bewährte Werte der Schweizer Aussenpolitik.

Pierre Aubert, René Felber, Flavio Cotti, Joseph Deiss, Micheline Calmy-Rey, Didier Burkhalter: Seit der Gründung des EDA vor vierzig Jahren sahen es alle Aussen­minister als wichtig an, dass sich die Schweiz stark an multilateralen Institutionen beteiligt. Sie alle setzten sich dort für Menschenrechte und rechts­staatliche Prinzipien ein.

Anders Ignazio Cassis.

1. Die Vorgeschichte

In der Politik landet Ignazio Cassis zufällig. Nach seinem Medizin­studium in Zürich und Lausanne ist er seit sieben Jahren Tessiner Kantonsarzt, als er sich 2003 als Listenfüller für die Nationalrats­wahlen aufstellen lässt, um der FDP einen Gefallen zu tun. Zu seiner eigenen Überraschung überholt der damals 42-Jährige mehrere Partei­kollegen und schafft es auf den ersten Ersatzplatz. Als Laura Sadis im April 2007 in den Regierungsrat gewählt wird, rutscht er für sie in den Nationalrat nach.

Nach seiner Wiederwahl ein halbes Jahr später gibt Cassis seinen Beruf auf und wird vollamtlicher Lobbyist – im Parlament und ausserhalb. Zunächst für FMH, die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte, dann für den Krankenkassen­verband Curafutura. Das Mandat bringt ihm 180’000 Franken pro Jahr und den wenig schmeichelhaften Spitznamen «Krankencassis» ein.

Hat er in Bern anfänglich am linken Rand der FDP-Fraktion politisiert, rückt Cassis mit der Zeit immer weiter nach rechts. Mit der Verschiebung kommt er auch zu mehr Einfluss: 2015 wird er Fraktionschef und Präsident der bedeutenden Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit.

Bei den Parlaments­wahlen im Oktober 2015 holen FDP und SVP insgesamt 101 von 200 Nationalrats­sitzen – eine knappe Mehrheit. Als Taktgeber des Freisinns versucht Cassis fortan den bürgerlichen Schulter­schluss. «Ich habe persönlich alles getan für Absprachen mit der SVP bei den Themen, die wir ähnlich beurteilen – und das sind die meisten», sagt er kurz vor Weihnachten 2016 der «Weltwoche», die ihn gleich zum bestgekleideten männlichen Parlamentarier kürt.

Als Aussenminister Burkhalter im Sommer 2017 seinen Rücktritt erklärt, gilt Cassis von Anfang an als Favorit für seine Nachfolge. Während des dreimonatigen Wahlkampfs lässt er nichts unversucht, um seine Chancen zu optimieren: Neun Tage vor der Wahl tritt er der Waffenlobby Pro Tell bei – und, weil er in den Medien dafür kritisiert wird, drei Wochen nach der Wahl wieder aus. Medienwirksam gibt er den italienischen Pass ab, den er seit Geburt besitzt. Er verspricht, in der Europa­politik einen nicht genauer definierten «Reset-Knopf» zu drücken. Und er versichert sich der Unterstützung der SVP, indem er ihr während des Kandidaten­hearings nach dem Mund redet («Cassis hat ziemlich genau das gesagt, was wir hören wollten»).

Die Strategie geht auf: Cassis distanziert seine Westschweizer Konkurrenten Pierre Maudet und Isabelle Moret am 20. September 2017 mühelos und wird im zweiten Wahlgang in den Bundesrat gewählt. Dank ihm ist das Tessin 18 Jahre nach dem Rücktritt von Flavio Cotti (CVP) wieder in der Landes­regierung vertreten.

2. Der Fehlstart

Den ersten grossen Auftritt hat Aussen­minister Cassis im Januar 2018 am Welt­wirtschafts­forum in Davos. Nach einem Treffen mit seinem saudischen Amtskollegen schwärmt er davon, wie kompromisslos der dortige Kronprinz die Säkularisierung seines Staates vorantreibe.

Die 154 Hinrichtungen im Jahr 2017 erwähnt er so wenig wie die Scharia oder die Unterdrückung der Frauen.

Für Irritation sorgt Cassis am WEF auch mit Aussagen zur Europa­politik. Der Bundesrat wolle mit Brüssel innert weniger Monate ein Rahmen­abkommen schliessen, sagt er vor den Medien. Doch die ebenfalls in Davos weilenden Bundesräte Ueli Maurer und Johann Schneider-Ammann geben öffentlich Gegensteuer. Cassis krebst zurück. Selbst die dem Tessiner freundlich gesinnte NZZ schreibt von einer «kommunikativen Komödie».

Den nächsten Fehltritt leistet sich Cassis im Mai 2018, als er Jordanien besucht. Er eröffnet eine neue Botschaft und lässt sich eine Ausbildungs­stätte für palästinensische Flüchtlinge zeigen, die vom Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) betrieben wird. Auf der Rückreise sagt er zu einer mitgereisten Journalistin: «Für mich stellt sich die Frage: Ist die UNRWA Teil der Lösung oder Teil des Problems?» Und gibt auch gleich seine Antwort darauf: «Sie ist sowohl als auch.» Denn solange Palästinenser in Flüchtlings­lagern leben könnten, sei es klar, dass diese in ihre Heimat zurückwollten. Sein Fazit: «Indem wir die UNRWA unterstützen, halten wir den Konflikt am Leben.»

Mit diesen Aussagen bricht der schon zu Parlamentarierzeiten als Israel­freund geltende Cassis mit der jahrzehnte­langen Schweizer Unterstützung für das Hilfswerk. Ein Sprecher der Partei von Palästinenser­präsident Mahmoud Abbas gibt sich «irritiert, schockiert und überrascht». Auch in der Schweiz sorgt das Votum des Aussen­ministers für Unruhe: Nach der Rückkehr zitiert ihn Bundes­präsident Alain Berset zu sich und lässt danach schriftlich ausrichten, an der Nahost­politik des Bundesrats habe sich nichts geändert. «Insbesondere gibt es keine Änderung, was die Unterstützung für die UNRWA angeht.»

Vier Wochen später tritt Cassis in den nächsten Fettnapf: In einem Radio­interview stellt er die vom Bundesrat definierten roten Linien in den Verhandlungen mit Brüssel infrage. Wolle man ein Rahmen­abkommen abschliessen, müssten sowohl die EU als auch die Schweiz «über ihren eigenen Schatten» springen und «kreative Wege» finden, sagt er. Konkret: Die Schweiz müsse die 8-Tage-Regel aufgeben, einen elementaren Bestandteil der Lohnschutzmassnahmen.

In der Folge ziehen sich die Gewerkschaften aus den Verhandlungen über ein Rahmen­abkommen zurück. Ihr oberster Chef Paul Rechsteiner kritisiert, Cassis habe sämtliche seit zwanzig Jahren geltenden Regeln gebrochen, er habe «den Kopf verloren». Das EDA versucht, die Aussagen des Aussen­ministers zu relativieren. Doch der Schaden ist angerichtet.

Cassis lässt sich derweil nicht bremsen: In einem Interview mit der italienischen Zeitung «Corriere della Sera» prophezeit er, die EU werde implodieren, wenn sie sich nicht dezentralisiere, er spottet über den «alten kaiserlichen Geist» französischer Präsidenten und die mühevolle Koalitions­bildung in Deutschland. Die renommierte Zeitung vergleicht ihn mit Matteo Salvini, dem rechts­nationalistischen Innen­minister Italiens: «Mit Cassis weht der populistische, souveränistische und identitäre Wind, der von Osten kommt, nun auch in Bern.»

Und so rätselt nach Cassis’ erstem Jahr im Bundesrat die Schweiz: Ist der Tessiner ein ungeschickter Kommunikator? Oder provoziert er mit Kalkül?

3. Der Undiplomat

Im Aussendepartement hat Cassis einen schweren Stand. Denn er, der als Gesundheits­politiker im Nationalrat kaum mit aussen­politischen Themen in Berührung kam, sieht sich nach seinem Amtsantritt mehreren hundert Experten gegenüber: Diplomatinnen, die seit Jahrzehnten im Staatsdienst sind und alles besser zu wissen glauben als ihr neuer Vorgesetzter. Viele von ihnen haben unter SP-Bundesrätin Calmy-Rey Karriere gemacht und sind unter dem links­freisinnigen Burkhalter in Führungs­positionen aufgestiegen. Sie beobachten Cassis argwöhnisch. Sie haben registriert, dass er vor der Wahl eine klare Ansage gemacht hat: «Es darf nicht sein, dass die Beamten den Kurs bestimmen, das ist Aufgabe des Chefs.»

Während Burkhalter oft zu Hause arbeitete und mit allen Mitarbeitern per Sie war – selbst mit solchen, die ihn aus der FDP kannten und früher geduzt hatten –, ist Cassis täglich in der Zentrale präsent und mit den meisten Diplomaten per Du. Doch er erkennt nicht, dass die Akzent­verschiebungen, die er sich in der Aussen­politik wünscht, besser gelängen, wenn seine 5500 Mitarbeiterinnen mitzögen.

Im ersten Jahr sind es bloss feine Spitzen, die Cassis in Reden und Interviews einbaut: So betont er oft, er sei Politiker, nicht Diplomat. Mit der Zeit aber verschärft er den Ton. Ab Herbst 2018 geht der «Undiplomat», wie die Bilanz ihn nennt, voll auf Konfrontation.

Im September kritisiert er, im Departement herrsche «immer diese Euphorie, im Chor zu singen, und die Vorstellung, man habe für alles unbegrenzte Ressourcen». Ihm aber gehe es darum, Lösungen zu finden, «die richtig sind für unser Land, und nicht Lösungen, die einfach nur das Ziel haben, der Uno zu gefallen».

Im November behauptet er, «global und vielleicht nicht immer im Takt mit der Innenpolitik» arbeitende Diplomaten hätten in Eigenregie entschieden, die Uno-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zu unterstützen. Und er macht sich darüber lustig, dass manche glaubten, der Bundesrat sei ein von Werten, Parteien und Politik unabhängiger Ort, wo sich Engel um das Wohl­ergehen der Bevölkerung kümmern. «Das ist sehr romantisch. Aber die Zauberformel existiert nicht für nichts.» Er bleibe Politiker mit einem Parteibuch, auch als Bundesrat.

Im Dezember frotzelt er in der Weihnachts­ausgabe der «Weltwoche», vielen EDA-Mitarbeitern sei gar nicht bewusst, dass sie einer bestimmten Welt­anschauung folgten. «Sie passen sich der Mehrheit an und kommen auf diese Weise beruflich vorwärts. Diesen Herdentrieb zu brechen, das ist sehr schwer.» Der Migrationspakt, bei dessen Aushandlung die Schweizer Diplomatie während mehr als zwei Jahren eine führende Rolle eingenommen hat, sei ein gutes Beispiel dafür, dass die Aussen­politik den Draht zur Innen­politik verloren habe. «Man hätte merken sollen, dass man eine so brisante Sache nicht unter dem Tisch halten und durchschmuggeln kann, sondern breit diskutieren muss. Das darf nicht mehr vorkommen.»

Cassis’ Fundamentalkritik kommt in seinem Departement gar nicht gut an. «Mit diesem ‹Weltwoche›-Interview hat er die Bande endgültig zerschnitten», sagt eine Diplomatin.

Viele Mitarbeiter fühlen sich von ihrem Chef im Stich gelassen. Sie nehmen es ihm übel, dass er sich nicht einmal halbherzig für die Anerkennung des Migrations­pakts einsetzt (dem sich die Schweiz nach wochenlangen Diskussionen im Parlament und in den Medien dann auch nicht anschliesst). Viel schwerer aber wiegt, dass sich Cassis nicht schützend vor sein Personal stellt, als Vertreter der rechtsextremen Identitären Bewegung Österreich im Internet und mit Flyern gegen zwei Schweizer Diplomaten hetzen.

Ein halbes Jahr später tut Staats­sekretärin Pascale Baeriswyl das, was Cassis hätte tun sollen: Als sie an der Presse­konferenz über ihren Wechsel nach New York informiert, macht sie darauf aufmerksam, dass den beiden Diplomaten wochenlang Personen­schutz gewährt werden musste.

Während Baeriswyl vor einer Verrohung der Sitten warnt, sitzt Cassis daneben und verzieht keine Miene.

4. Der Schattenminister

Wenige Wochen nach seiner Wahl in den Bundesrat macht Cassis einen Schachzug, der genial ist – für alle Beteiligten: Er holt den damaligen Geheimdienst­chef Markus Seiler als General­sekretär ins EDA.

Der aussenpolitisch unerfahrene Cassis profitiert damit von Seilers Know-how und Netzwerk, während Seiler dem Nachrichten­dienst des Bundes entfliehen kann, der gerade von einer Spionage­affäre gezeichnet ist. Auch der FDP kommt die Versetzung entgegen: Mit Seiler hat sie in einer Schlüssel­position einen Aufpasser für ihren neuen Bundesrat installiert. So soll verhindert werden, was mit Burkhalter geschah: Der Neuenburger hatte sich als Aussen­minister je länger, desto mehr von seiner Partei entfremdet und sie am Ende nicht einmal in seine Rücktritts­pläne eingeweiht.

Seine Karriere startet der promovierte Politik­wissenschaftler Seiler als Funktionär im FDP-General­sekretariat, wo er es bis zum Pressechef schafft. 1997 wird er Referent im Stab von Finanz­minister Kaspar Villiger, bald steigt er zum persönlichen Mitarbeiter auf. 2002 wechselt er ins Verteidigungs­departement des damals noch der SVP angehörenden Samuel Schmid, drei Jahre später wird er General­sekretär. Das bleibt er auch unter Schmids Nachfolger Ueli Maurer, bevor dieser ihn 2010 an die Spitze des Nachrichten­diensts wegbefördert, der aus der Fusion des Inland- und des Ausland­geheimdiensts entstanden ist.

Schon damals wird Seiler als «karrieregeil» und als Machtmensch bezeichnet, der seine Ziele berechnend verfolge. Die Beschreibung bleibt bis heute zutreffend.

Im EDA dominiert Seiler seit zwei Jahren nach Belieben. Im Grunde genommen führe er das Departement und bestimme über die Aussen­politik, sagen aktuelle und ehemalige Diplomaten übereinstimmend. «Und nicht Cassis.»

Sein Vorgänger Benno Bättig war deutlich zurückhaltender: Er sah es als seine Verantwortung an, dass die Verwaltung funktioniert, und bereitete für Burkhalter die Bundesrats­geschäfte der anderen Departemente vor. Seiler hingegen agiert strategisch, reist selbst ins Ausland und mischt sich inhaltlich ein. Und er hält ein wachsames Auge auf die Verwaltung: Laut EDA-Mitarbeitern wird im Departement seit zwei Jahren kaum eine Sitzung abgehalten, an der nicht entweder Seiler oder sein Stellvertreter Charles Jean-Richard teilnimmt. Jean-Richard arbeitete schon als Fraktions­sekretär der FDP bis im Herbst 2017 eng mit Cassis zusammen. Ein aussergewöhnlich enges Verhältnis unterhält Cassis auch zu seinen persönlichen Mitarbeitern Anna Fazioli und Cédric Stucky.

Seiler tritt auch öffentlich auf, was unüblich ist für General­sekretäre. Letzte Woche sprach er an der Universität Zürich zur Frage, ob Cassis wirtschaftliche Interessen in der Aussenpolitik zu Recht stärker gewichtet. «Die Idee ist nicht neu», sagte er. «Schon im ersten Aussenpolitischen Bericht aus dem Jahre 1993 hiess es, Aussenpolitik bedeute primär die Interessen­wahrung nach aussen. Geschrieben haben den Bericht Jakob Kellenberger und Peter Maurer, die späteren Präsidenten des Internationalen Roten Kreuzes – sicherlich keine neoliberalen Ideologen.» In den Nuller­jahren habe eine Gegen­bewegung den Wert der Solidarität in den Vordergrund gestellt. «Wir sagen nun: Werte und Interessen sind zwei Seiten derselben Medaille.»

Sehr ähnlich argumentierte Anfang Jahr eine von Seiler angeführte Arbeits­gruppe, die in Cassis’ Auftrag eine «Aussenpolitische Vision 2028» erstellt hat. Ihr gehörten die beiden Spitzenmanager Peter Voser (ABB) und Thomas Wellauer (Swiss Re) an, aber keine einzige Vertreterin einer Nichtregierungs­organisation. Mit entsprechendem Ergebnis: Ein Kernsatz im fünfzigseitigen Strategiepapier lautet, das Schweizer Engagement für Menschen­rechte, Demokratie und Rechts­staatlichkeit dürfe sich «nicht so auswirken, dass Menschen­rechte und Wirtschaft zu Gegensätzen werden».

Seilers Einfluss beschränkt sich nach Ansicht von Diplomaten und Beamten aus anderen Departementen nicht auf das EDA. Seit Walter Thurnherr dem Infrastruktur­departement den Rücken kehrte und zum Bundes­kanzler aufstieg und Stefan Brupbacher das Wirtschafts­departement verliess, könne es kein anderer General­sekretär mehr mit Seiler aufnehmen. Weil er zudem nach wie vor einen direkten Draht zu seinem früheren Chef und heutigen Finanz­minister Ueli Maurer habe sowie aus seiner Zeit an der Spitze des Nachrichten­diensts gute Verbindungen in das Verteidigungs­departement von Viola Amherd, könne er auf die Regierungs­politik als Ganzes einwirken. So erzählen es mehrere Insider aus der Bundes­verwaltung.

Im EDA befürchtet man, dass sich die Machtfülle Seilers weiter vergrössern wird, wenn die noch von Burkhalter ernannte Staats­sekretärin Pascale Baeriswyl Ende Jahr abtritt. Sie sei eine der wenigen gewesen, die Seiler ab und zu widersprachen. Die meisten anderen hochrangigen Diplomaten gingen Cassis’ engstem Mitarbeiter lieber aus dem Weg.

5. Switzerland first

Das Jahr 2019 beginnt für Cassis, wie er es aus dem Vorjahr gewohnt ist: mit dem Tritt in einen Fettnapf, gefolgt von öffentlicher Kritik.

In Sambia besucht der Aussenminister eine Kupfermine des Schweizer Rohstoff­händlers Glencore und jubelt danach auf Twitter: «Beeindruckt von den Bemühungen für die Modernisierung der Anlagen und die Ausbildung der Jungen.» Garniert ist der Tweet mit Bildern, die ihn und seine Entourage mit Helmen und gelben Westen auf dem Gelände der Mine zeigen. Glencore freut sich über die Gratis-PR – und verbreitet sie umgehend als bezahlten Werbetweet.

Kritiker werfen Cassis vor, er betreibe Abstimmungs­propaganda gegen die Konzern­verantwortungs­initiative, die kurz darauf im Parlament diskutiert wird. Der Tessiner aber ist sich keines Fehlers bewusst. Noch drei Wochen nach seiner Afrikareise stellt er sich auf den Standpunkt, er habe mit seinem Tweet bloss seiner positiven Überraschung Ausdruck verliehen. «Den Rest haben die Medien gemacht.» Kurz darauf macht der «Blick» bekannt, dass mehrere Anwohner der Mine vor und nach Cassis’ Besuch wegen Vergiftungen hospitalisiert werden mussten. Glencore muss die Mine für Sanierungen schliessen.

Im Sommer gerät das Aussen­departement erneut in Verruf – diesmal wegen Kooperationen mit dem Zigaretten­hersteller Philip Morris. Es hat für die Eröffnung der neuen Botschaft in Moskau 45’000 Franken kassiert und will für den Schweizer Pavillon an der Weltausstellung in Dubai 1,8 Millionen Franken entgegennehmen. Recherchen der Republik zeigen, dass Diplomaten in der Republik Moldau intervenierten, um eine Verschärfung der Anti-Tabak-Gesetzgebung zu verhindern – ein Freundschafts­dienst, der den Zielen der Schweizer Gesundheits- und Entwicklungs­politik zuwiderläuft.

In einem Interview behauptet General­sekretär Seiler Ende Juli, das EDA habe mit Philip Morris lediglich «explorative Gespräche» geführt, um Möglichkeiten einer Zusammenarbeit auszuloten. Eine Behauptung, die dreieinhalb Monate später durch departements­interne Dokumente widerlegt wird – die Kooperation mit dem Zigarettenmulti war beschlossene Sache.

In der Innerschweiz sorgt das EDA derweil für Empörung, weil es den Stanser Flugzeug­werken Pilatus befiehlt, sich innert dreier Monate aus Saudiarabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten zurückzuziehen. Für Pilatus wäre das ein Vertrags­bruch: Das Unternehmen hat sich 2017 verpflichtet, während fünf Jahren technischen Support zu leisten und die gelieferten PC-21-Flugzeuge zu warten. Im September erteilt das Bundes­verwaltungs­gericht einem Pilatus-Rekurs aufschiebende Wirkung, weshalb die Flugzeug­techniker zurzeit noch immer in den Golfstaaten tätig sind – eine Niederlage für das Aussendepartement.

Das Vorgehen des Aussenministers sorgt auch in seiner Partei für Verärgerung. «Bei der politischen Beurteilung von Geschäften besteht Verbesserungs­bedarf», kritisiert ein FDP-Insider. «Welcher normale Mensch schlägt sich auf die Seiten der Multis Glencore und Philip Morris, haut aber das Schweizer Traditions­unternehmen Pilatus in die Pfanne?» Cassis’ Handeln schade der Partei, die im letzten Jahrzehnt alles dafür getan habe, um nicht länger als Handlangerin von Gross­konzernen zu gelten.

Offenkundig wird die Agenda des Aussen­ministers bei der Botschaft zur Internationalen Zusammenarbeit der Jahre 2021 bis 2024, die der Bundesrat im Mai in die Vernehmlassung schickt: Cassis stellt – wiederum sekundiert von Generalsekretär Seiler – Schweizer Interessen in den Vordergrund. Die Entwicklungs­zusammenarbeit soll nicht mehr primär dazu dienen, Not und Armut zu lindern, sondern vor allem Arbeits­plätze schaffen und der Wirtschaft Schub verleihen – sowie die Migration eindämmen. Auffällig ist, dass das Thema Migration in der Botschaft fast doppelt so viel Raum einnimmt wie die anderen drei Hauptthemen Arbeits­plätze, Klima­wandel und Rechts­staat zusammen.

«Switzerland first»: Das Motto passt von Anfang an perfekt zu Cassis. Als ihn die Tessiner FDP am 1. August 2017 offiziell zu ihrem einzigen Bundesrats­kandidaten kürt, trägt er ein rotes T-Shirt mit Schweizer Kreuz. Ein Jahr später würde er es am liebsten wieder aus dem Schrank holen, doch seine Mitarbeiter raten ab. Als Bundesrat sei er damit nicht adäquat gekleidet. Auf die Frage der «Schweizer Familie», ob ein Schweizer Leibchen am National­feiertag nicht der Aussage «Switzerland first» gleichkäme, antwortet Cassis: «Eben. Ich versuche immer noch, mein Team davon zu überzeugen. Wer weiss, vielleicht gelingt es mir ja noch.»

Ein Jahr später hat der Wind gedreht.

Im Wahlkampf schiessen sich Grüne und Linke auf ihn ein, der in der Bevölkerung unbeliebte Cassis beginnt um seine Wiederwahl zu fürchten. Und deshalb behauptet er auf einmal, «Switzerland first» werde man von ihm nie hören.

6. Die Gegenspieler

Als Cassis im Herbst 2017 in den Bundesrat gewählt wird, verändert er die Balance der Regierung: War Vorgänger Burkhalter das Zünglein an der Waage, das mal Mitte-rechts, mal Mitte-links zur Mehrheit verhalf, schlägt sich Cassis verlässlich auf die rechte Seite. Im Grunde bräuchte sich der Bundesrat im Jahr 2018 gar nicht zu Sitzungen zu treffen, verständigen sich die beiden FDP- und die beiden SVP-Vertreter in aller Regel doch schon im Vorfeld auf eine gemeinsame Position. In jener Zeit sind wirtschaftliche Interessen für sämtliche Regierungs­entscheide ausschlaggebend. Aussen­politik ist nichts anderes als Aussenwirtschafts­politik.

Eindrücklich zeigt sich die Verschiebung bei den seit Jahren umstrittenen Kriegsmaterial­exporten. Im Juni 2018 lockert der Bundesrat die Bestimmungen: Unter gewissen Umständen sollen Schweizer Waffen künftig auch in Länder exportiert werden können, in denen Bürgerkrieg herrscht. Humanist Burkhalter hat sich stets dagegen gewehrt – und begründet seinen Rücktritt später unter anderem damit, er habe den Druck in dieser Frage nicht mehr ausgehalten; seine Grundwerte hätten sich nicht mehr mit denjenigen des Kollegiums gedeckt.

Solche Probleme kennt Cassis nicht.

Doch im Herbst 2018 verschlechtert sich seine Position. Karin Keller-Sutter, die für Johann Schneider-Ammann nachrückt, ist weniger dogmatisch als ihr Vorgänger: Der ehemaligen FDP-Ständerätin ist es wichtig, Wirtschafts­interessen möglichst mit der humanitären Tradition der Schweiz in Einklang zu bringen. Zudem ist sie um Harmonie bemüht, wie bundesrats­nahe Quellen berichten. Keller-Sutter versucht, auch die beiden SP-Bundesräte Alain Berset und Simonetta Sommaruga und die gleichzeitig mit ihr gewählte CVP-Bundesrätin Viola Amherd in Entscheidungen einzubeziehen.

Vor allem aber ist das Verhältnis zwischen Cassis und Keller-Sutter von Beginn an unterkühlt und bald einmal zerrüttet.

Es beginnt damit, dass sich Cassis bei der Departements­verteilung nicht auf die Seite Keller-Sutters schlägt, sondern Guy Parmelin unterstützt, als beide Interesse am Wirtschafts- und Bildungsdepartement anmelden. Ein harter Schlag für die Neugewählte, die fest mit der Solidarität ihres Partei­kollegen gerechnet hat und nun mit dem Justiz­departement vorliebnehmen muss, das sie schon als St. Galler Regierungsrätin betreute und in das sie auf keinen Fall zurückwollte. Die Fetzen fliegen derart, dass Bundes­präsident Berset die Bekanntgabe der Rochaden um drei Tage hinauszögert, um doch noch eine einvernehmliche Lösung zu ermöglichen. Vergeblich.

Keller-Sutter rächt sich an Cassis, indem sie ihm die Führung im EU-Dossier streitig macht. Innert weniger Monate gelingt es ihr, die verhärteten Fronten aufzuweichen und die Gewerkschaften zurück an den Verhandlungstisch zu bringen. Die Erfolgs­chancen des Rahmen­abkommens steigert sie damit mehr, als es Cassis und sein Europa-Staatssekretär Roberto Balzaretti vermögen – obwohl sie während des gesamten Jahres 2019 landauf, landab dafür werben.

An der Rollenverteilung dürfte sich in den nächsten Monaten wenig ändern. Dies unter anderem, weil Justiz­ministerin Keller-Sutter den Kampf gegen die SVP-Volksinitiative zur Kündigung der Personen­freizügigkeit anführen wird, die wohl im Mai 2020 an die Urne kommt. Kurz: Keller-Sutter stiehlt Cassis seit einem Jahr die Show.

Der zweite grosse Gegenspieler von Cassis in der Regierung ist Innen­minister Alain Berset. Wie Keller-Sutter macht er im kleinen Kreis keinen Hehl daraus, nicht besonders viel von seinem Bundesrats­kollegen zu halten, wie mehrere regierungsnahe Quellen übereinstimmend berichten.

Offensichtlich wird die Abneigung im August 2018, als Berset eine Rede an Cassis’ erster Botschafter­konferenz hält. Kriege, Klimawandel und globale Ungleichheit verlangten «nach einem kraftvollen Einsatz internationaler Institutionen für Frieden, Menschen­rechte und Demokratie», sagt der Bundespräsident. «Aber andererseits erleben wir gleichzeitig in manchen Ländern einen Rückzug auf das Nationale, eine Verengung des politischen Horizontes – und damit einhergehend ein Misstrauen gegenüber Multi­lateralismus.» Die meisten anwesenden Botschafter verstehen die Rede als Seitenhieb gegen Cassis. Schliesslich hat der Tessiner die multilateralen Organisationen seit Amtsantritt immer wieder kritisiert.

7. Die Reiseunlust

Weil es zum Pflichtprogramm eines Aussen­ministers gehört, nimmt Cassis jeweils im September an der Uno-General­versammlung in New York teil. Auf Reisen hingegen, die nicht zwingend nötig sind, verzichtet er – bescheidene 8-mal verlässt er die Schweiz im Jahr 2018. Zum Vergleich: Burkhalter reiste in seinem ersten Jahr als Aussenminister 29-mal ins Ausland.

Cassis setze sein Motto «Aussenpolitik ist Innenpolitik» konsequent um, begründet das EDA auf Anfrage. Deshalb umfasse sein Terminplan neben Auslands­reisen zahlreiche Auftritte in der Schweiz. Zudem hätten auch Besuche in Genf die «Qualität einer Auslandreise», werde er dort doch oft vom Uno-Generalsekretär empfangen oder nehme an internationalen Konferenzen teil, zu denen Regierungs­vertreter aus dem Ausland anreisten. Dasselbe gelte für Aufenthalte am WEF in Davos.

Ehemalige und aktuelle Diplomaten hingegen kritisieren unisono, wegen seiner Reiseunlust habe sich Cassis auch nach mehr als zwei Jahren im Amt noch kein persönliches Netzwerk aufgebaut – ein Versäumnis, das in der Welt der internationalen Beziehungen mittel- und langfristig verheerend sei.

Nicht nur für ihn, sondern für das Land.

Ein Beispiel: Anfang August 2019 verzichtet Cassis auf die Teilnahme an einer Konferenz des Verbands Südostasiatischer Nationen. Es ist die bedeutendste Partner­organisation der Schweiz in Südostasien – einer Region, in der 650 Millionen Menschen leben und in der Schweizer Unternehmen 37 Milliarden US-Dollar investiert haben. Unter anderem reisen die Aussenminister der USA, Kanadas, Chinas, Japans, Indiens, Südkoreas, Russlands und Australiens sowie die Aussenbeauftragte der Europäischen Union nach Bangkok.

Durch seine Absenz vergibt Cassis gleich zwei Chancen: Er vertieft die Bande nach Südostasien nicht – und er führt keine bilateralen Gespräche mit seinen hochkarätigen Amtskollegen.

Warum Cassis die Konferenz auslässt? Er hat Besseres zu tun. Vom 31. Juli bis zum 2. August hält er in Krauchthal, in L’Etivaz, in Chiasso und in Zuoz nicht weniger als vier Ansprachen zum Schweizer Nationalfeiertag.

Switzerland first halt.

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