Sehr geehrte Dame
Sehr geehrter Herr
– and everybody beyond!
Heute vor einem Jahr griff Joe Biden im Weissen Haus zum Telefonhörer – und liess sich mit Moskau verbinden. Er und Wladimir Putin redeten eine ganze Stunde über Krieg und Frieden.
Kurz darauf sagte Bidens Nationaler Sicherheitsberater im Fernsehen, ein russischer Angriff könne «jetzt jeden Tag losgehen».
Auf der anderen Seite des Atlantiks sagte am selben Tag der britische Verteidigungsminister, es sei gerade «ein Hauch von München in der Luft», eine Anspielung auf die berüchtigte Konferenz von 1938, an der Frankreich, Italien und Grossbritannien der Annexion des Sudetenlandes durch Nazideutschland zustimmten.
Gegen Abend telefonierte Biden wieder. Diesmal mit Kiew. Präsident Selenski lud ihn ein, bald sein Land zu besuchen. Biden blieb unverbindlich. Während die beiden redeten, war die Evakuierung der US-Botschaft bereits in vollem Gang.
Keine zwei Wochen später, in den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022, macht der Fotograf Lesha Berezovskiy in seiner Wohnung in Kiew ein Bild von seiner Frau Agata. Sie schläft noch. Er hingegen weiss bereits, dass im ganzen Land russische Marschflugkörper auf Städte fallen. Lesha lässt Agata noch eine Stunde weiterschlafen – dann weckt er sie auf, um den Rucksack zu packen.
Im vorletzten Winter-is-coming-Newsletter blicken wir auf die grösste, grausamste, furchteinflössendste Krise unserer Tage: den Krieg in der Ukraine.
Das abrupte Ende vieler vermeintlicher Sicherheiten – und der Anfang von … ja, von was?
Die Lage
Die meisten Leute, die sich mit solchen Dingen auskennen, hätten wohl freudlos aufgelacht, wenn man ihnen im Februar 2022 vorausgesagt hätte,
dass die Ukraine ein Jahr nach der Invasion immer noch ein unabhängiger, funktionierender Staat sein würde und ihr Präsident so etwas wie ein moderner Churchill;
dass Russland je nach Quelle zwischen hundert- und zweihunderttausend Soldaten verlieren würde, sicher weit über tausend Panzer, dass das Flaggschiff seiner Schwarzmeerflotte heute am Meeresboden vor sich hin rosten würde;
dass die EU heute kein russisches Öl mehr kauft, die neuen Gaspipelines in der Nordsee auf lange Zeit nicht in Betrieb gehen werden und Russland schon Monate nach der Invasion bei geopolitischen Schwergewichten wie dem Iran oder Nordkorea um materielle Unterstützung würde betteln müssen;
dass Deutschland nicht nur ein paar Helme, sondern auch schwere Panzer in die Ukraine schicken würde, die Schweiz vielleicht bald zumindest indirekt Munition – und Schweden und Finnland so schnell wie möglich der Nato beitreten wollten.
Strategisch hat Putin seinen Krieg bis jetzt fast auf ganzer Linie verloren. Und sogar im Kreml denken viele unterdessen, dass er ihn nicht mehr gewinnen kann. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Damit ist der Krieg noch lange nicht vorbei.
Und er wird gerade grausamer.
Am deutlichsten sieht man das rund um das Städtchen Bachmut, im Osten. Vor dem Krieg war es ungefähr so gross wie St. Gallen, es war bekannt für seine Sektindustrie und seine Salzminen. Bachmut hat sich nach monatelangem Kampf in eine Hölle aus Betonruinen, Schlamm und Frost verwandelt.
Hier setzt Russland auf eine Taktik, die Ukrainer als «Fleischwelle» beschrieben haben: Durch den Tag werden in Gefängnissen rekrutierte Söldner und Zwangsmobilisierte in den Häuser- und Grabenkampf geschickt. Wer sich weigert, wird erschossen. Dann am Abend, wenn die Verteidiger erschöpft sind, rücken besser ausgerüstete und trainierte Soldaten nach.
Schätzungen über die Verluste in Bachmut gehen inzwischen in die 10’000. Auf beiden Seiten.
Hier ein Eingeständnis unsererseits: Wahrscheinlich haben wir uns von den ukrainischen Erfolgen vom Herbst etwas zu sehr mitreissen lassen.
Nach der Schlacht um Charkiw schrieben wir über den Kollaps der unbesiegbaren, ruhmreichen, vaterländischen Armee.
Im November schrieben wir, dass der Wintereinbruch der Ukraine helfen könnte, weil die viel besser ausgerüstet sei.
Und im Januar glaubten wir etwas vorschnell den Gerüchten, dass Putin bald schon eine neue Welle von Zwangsrekrutierungen ankündigen wird – noch deutlich grösser als die letzte.
Jetzt ist Februar, Russland scheint sich gefangen zu haben. Und im Osten wieder in die Offensive zu gehen.
Was ist passiert?
Zoom-Anruf bei Lawrence Freedman, Politikwissenschaftler und Militärhistoriker im Ruhestand. Seit der Invasion veröffentlicht er auf der Plattform Substack immer wieder sehr detaillierte – und vor allem: nüchterne – Analysen zum Kriegsverlauf. Fünf davon haben wir übersetzt und veröffentlicht.
Zuletzt zur Frage: Verliert Russland diesen Krieg?
Freedman sitzt im beigen Hemd vor einer bildschirmfüllenden Bücherwand, meint auf unseren Dank für seine schnelle Interviewzusage, er habe ja sehr viel Zeit unterdessen.
Mister Freedman, im Herbst schien es zeitweise, als wäre die Ukraine kaum noch aufzuhalten. Sie gewann Schlacht um Schlacht. Und ging motivierter und besser ausgerüstet in den Winter. Was ist passiert?
Ich glaube, dass wir jetzt zwei Dinge sehen. Das eine ist die Konsequenz der russischen Mobilisierung vom Herbst. Am Anfang war das ein komplettes Chaos. Aber unterdessen haben sie das im Griff – die sind nicht komplett unfähig. Und jetzt haben sie Massen, die sie an die Front werfen können.
Und das zweite?
Die russische Strategie ist es, nach jeder Niederlage so hart wie möglich zurückzuschlagen. Und was für Leute wie mich sehr schwer nachzuvollziehen ist: Die Russen sind bereit, horrende Verluste in Kauf zu nehmen, auch für sehr begrenzte Geländegewinne. Es gibt diesen Stoizismus des einfachen russischen Soldaten, auch das grösste Leid zu erdulden. Für die Ukraine ist das alles sehr gefährlich, denn die Russen haben ausserdem eine enorme Fähigkeit, mit ihren eigenen Schwächen umzugehen. Das war schon in der Sowjetzeit so. Sie erkennen ihre Limiten und organisieren sich darum herum. Im Sommer hat die Ukraine die russischen Versorgungslinien systematisch kaputtgebombt, also haben sie einfach neue aufgezogen. Diese sind jetzt zwar viel weniger effizient, dafür sind sie viel weniger verwundbar.
Der Ausblick
Die grundlegende Linie dieses Kriegs hat sich aber wahrscheinlich nicht geändert. Während die Ukraine vom Westen immer effektiveres Kriegsgerät bekommt – zuletzt etwa Raketen mit grösseren Reichweiten und schwere Panzer –, geht Russland langsam, aber sicher das Material aus.
Früher oder später, da ist sich Freedman sicher, wird Russland diesen Krieg verlieren. Für ihn lautet die Frage vor allem: wie?
In den kommenden Wochen und Monaten könnten einige der bisher härtesten Kämpfe dieses Krieges anstehen. Freedman sagt: «Hinter der russischen Strategie steckt womöglich Wunschdenken. Aber die schiere Zahl der eingesetzten Truppen und die Bereitschaft Russlands, schwere Verluste hinzunehmen, bedeuten, dass die Ukrainer den nächsten Wochen wohl mit einer gewissen Beklemmung entgegensehen und sich fragen, ob sie bald mit dem Rücken zur Wand stehen werden.»
Für Russland ist das grösste Problem laut Freedman: «Putin weiss nicht, wie er diesen Krieg beenden soll.» Denn die Ukraine werde ihrerseits nicht aufgeben, bis sie die russischen Truppen aus dem ganzen Land vertrieben habe: «Es gibt einfach keinen offensichtlichen Kompromiss. Die Ukraine will ihr besetztes Gebiet zurück, Russland will mehr davon.»
Zeit also für eine Bilanz in Schwarz-Weiss. Wegen der Kürze. Aber auch, weil Schwarz-Weiss es in diesem Fall genau trifft.
Das Fazit – in 20 Gedanken
In friedlichen Zeiten gleicht Politik ein wenig dem Fussball: Mal gewinnt die eigene, mal die andere Mannschaft, man kann das Ganze auch ignorieren – man überlebt das. Das gilt nicht mehr, wenn es um Faschismus geht.
Das, weil Faschismus nicht mehr Politik ist, sondern ein Todeskult: Sein Ziel ist die Vernichtung – erst der Normen, dann der Institutionen, dann der Leute: erst der anderen, dann auch der eigenen.
Russland hat seinen Weg zum faschistischen Kriegsstaat restlos gemacht: Angriffskrieg, Dauerpropaganda, Bombenterror, Umerziehungslager, Vergewaltigung, Folter, Massenmord als Strategie – auch an den eigenen Soldaten.
Was tun? Bei Kriegsausbruch gab es zwei Antworten: Die «Realisten» verstanden die Invasion als klassische Machtpolitik. Und forderten den Dialog. Mit dem Ziel, den Status quo vor Kriegsbeginn wiederherzustellen.
Die anderen, die östlichen, die nördlichen, die baltischen Staaten, die USA begriffen schneller, dass hier ein Regime am Werk war, das nicht begrenzte finanzielle oder territoriale Ziele hatte – sondern eine neue autoritäre Weltordnung: die Vernichtung der Demokratien.
Heute ist klar, wer den klareren Blick hatte: die Falken, nicht die Realpolitiker. Sowohl in der Analyse wie auch beim Rezept: Waffenlieferungen.
Sie hatten den klareren Blick, weil sie näher dran waren. Die Nord- und Osteuropäer historisch und geografisch. Die Biden-Regierung in den USA, weil sie den Faschismus im eigenen Land am Hals haben.
Der Konflikt schwelte seit langem: Seit dem Angriff auf die Ukraine liegt er nun offen. So schrecklich das ist: Es hat etwas Gutes – Klarheit.
Die erste Überraschung war, wie schlecht das beste Argument der Autokratie ist: dass nur ein starker Mann handeln kann. Die russische Armee strotzte vor Pfusch, Korruption, Bürokratie, Inkompetenz.
Die zweite Überraschung war, wie fähig Demokratien sind: Gegen alle Erwartung schlug die ukrainische Armee die Invasoren zurück. Sie tat es nicht zuletzt deshalb, weil sie nicht top-down organisiert ist, sondern Respekt vor den eigenen Soldaten hat: und diesen für eigene Entscheidungen Raum lässt.
Ebenso einigten sich die USA und EU auf scharfe Sanktionen, lieferten effizient Waffen, kappten die Abhängigkeit vom russischen Gas und zeigen bis heute keine Müdigkeit. Die Umfragen in der Ukraine, den USA, überall in Europa sprechen weiter von grosser Entschlossenheit.
Politisch bedeutet der Russland-Ukraine-Krieg nicht zuletzt das Aus für das neoliberale Zeitalter. Erstens, weil sich in Russland und China die Strategie vom «Wandel durch Handel» als Illusion entpuppt hat. Zweitens, weil Resilienz plötzlich weit wichtiger wird als Effizienz. Drittens, weil klar wird, dass Dinge wie Menschenrechte, Wahrheit und Würde kein Schönwetterluxus sind, sondern existenziell zu den Interessen einer Demokratie gehören: Ohne diese Dinge bringen ihre Feinde sie um.
Klar ist, dass dieser Kampf nicht entschieden ist. Das autoritäre Lager hat ebenfalls aufgerüstet. Ihre Trumpfkarte ist der offene Zynismus – der Verlust aller Grenzen der Zivilisation: In den USA setzen die Republikaner konsequent auf Chaos. Regimes wie jene im Iran oder in Weissrussland auf nackten Terror. Plus ein seit langem aufgebautes, komfortabel finanziertes Propagandanetzwerk.
So ist denn auch die einzige Strategie der russischen Invasionsarmee der nicht mehr bemäntelte Massenmord – das Hineinwerfen von Massen an schlecht ausgebildeten, chancenlosen eigenen Leuten: Strafgefangenen, Minderheiten, Ukrainern in den besetzten Gebieten, von Passanten, die auf der Strasse aufgegriffen und ins nächste Rekrutierungszentrum gekarrt werden.
Der Trumpf der Faschisten ist, dass ihnen alles egal ist. Der grosse Vorteil von Demokraten ist, dass ihnen nichts egal sein kann: Sie müssen die Wirtschaft, die Logistik, ein Leben in Würde von vielen hinbekommen.
Die realistischste Siegeschance Putins ist, dass die westlichen Demokratien dabei versagen. Und seine Verbündeten wählen. Wenn 2024 Trump erneut Präsident der USA wird.
Deshalb ist der Krieg in der Ukraine ein globaler Krieg: Er spielt sich weltweit in der Innenpolitik ab. Man sieht die Spaltung überall: Es gibt die offen Autoritären wie Trump, Bolsonaro, Orbán – oder in der Schweiz Roger Köppel. Und dann die Linken wie Lula, Wagenknecht und nicht wenige deutsche und amerikanische Intellektuelle: die ein Leben lang überall den Faschismus kommen sahen – und jetzt, da er da ist, ihn nicht sehen.
Das grosse Verdienst der Ukraine und ihres Präsidenten Selenski war nicht nur die Entschlossenheit im Überlebenskampf, sondern auch die klare Botschaft dabei: Es geht um alles – Faschismus oder Demokratie.
Dank der Ukraine gibt es wieder Politiker, die durch Wachheit bestechen: in den USA etwa Biden, in Deutschland Habeck und Baerbock, in der Schweiz etwa gerade der Mitte-Präsident Gerhard Pfister. Es kommt wieder darauf an, was man glaubt, was man tut, wen man wählt.
Es geht um alles. Sogar diesen Herbst in der Schweiz. Bei der Frage, was zu tun ist – Enteignen der Oligarchengelder, humanitäre Hilfe, Änderung des Waffenausfuhrgesetzes –, gibt es für wählbare Politikerinnen nur eine Antwort: alles.
Und nun: bis zum nächsten Montag, wenn Sie mögen.
Bleiben Sie freundlich, bleiben Sie wach, bleiben Sie gesund!
Oliver Fuchs und Constantin Seibt
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PS: Wie immer freuen wir uns über Ihre Rückmeldungen, Ihre Gedanken, Ihr Fazit. Am besten per Mail an: winter@republik.ch.