Russische Wehrpflichtige warten auf den Segen eines Priesters. Alle Bilder in diesem Beitrag wurden am 11. Oktober 2022 vor einem Rekrutierungsbüro in Russland aufgenommen. Nanna Heitmann/Magnum Photos/Keystone

Verliert Russland?

Und wenn ja, wann wird es sich geschlagen geben?

Eine Analyse von Lawrence Freedman (Text) und Stephan Pörtner (Übersetzung), 02.12.2022

Vorgelesen von Jonas Gygax
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Einer der verwirrendsten Aspekte der US-Wahlen ist, wie viel Zeit in vielen Bundes­staaten benötigt wird, um die Gewinner zu ermitteln. Die Ergebnisse für die verschiedenen Kandidatinnen gehen rauf und runter, weil einzelne Bezirke die Ergebnisse der letzten Auszählung jeweils wieder hinfällig machen. Irgendwann beschliesst eine kühne Expertin, dass sie, obwohl noch viele Stimmen ausgezählt werden müssen, über eine ausreichende Kenntnis der Trends, Präzedenz­fälle und lokalen demografischen Gegebenheiten verfügt, um die Siegerin zu verkünden.

Die mutmasslichen Verliererinnen geben sich natürlich selten geschlagen, bevor nicht alle Erfolgs­aussichten endgültig versiegt sind, und auch die gekürten Siegerinnen sind vorsichtig aus Angst, das Schicksal heraus­zufordern.

Wahlen sind ein gutes Beispiel für Vorhersagen aufgrund unvollständiger Informationen und für die natürliche Verzögerung zwischen dem, was für einen informierten Beobachter offensichtlich ist, und dem, was von den direkt Beteiligten anerkannt wird.

Zum Autor

Der Brite Lawrence Freedman ist Politik­wissenschaftler und Militär­historiker. Der Beitrag erschien am 23. November unter dem Titel «Is Russia Losing?» auf dem Kommentar­tool Substack, wo Lawrence mit seinem Sohn Sam regel­mässig Texte unter «Comment Is Freed» veröffentlicht. Lawrence Freedman ist der Verfasser mehrerer Bücher, zuletzt «Command. The Politics of Military Operations from Korea to Ukraine», das Anfang September erschienen ist.

Den Ausgang eines Krieges voraus­zusagen, ist ungleich schwieriger als den einer Wahl. Bei Wahl­vorhersagen geht es darum, ein Ergebnis zu verkünden, das feststeht, sobald alle Stimmen abgegeben sind. Bei der Prognose eines Kriegs­verlaufs geht es darum, Ereignisse zu berücksichtigen, die noch nicht eingetreten sind, sowie Entscheidungen, die erst noch getroffen werden.

Selbst wer über eine fundierte Kenntnis der gegnerischen Streit­kräfte und des umkämpften Geländes verfügt, kann von zufälligen Entwicklungen wie einem Wetter­umschwung oder einer wirksamen taktischen Innovation überrumpelt werden. Im Laufe eines Krieges verschieben sich die Erwartungen.

Im aktuellen Fall hielten die frühen Prognosen, dass die russischen Streit­kräfte den ukrainischen Widerstand überrollen würden, nicht lange stand. Spätere Einschätzungen der ukrainischen Erfolgs­aussichten waren optimistischer, um dann wieder gedämpft zu werden, als Warnungen vor einer längeren Patt­situation die brutalen, zermürbenden Kämpfe des Sommers begleiteten.

Als Kiew die Vorteile des Himars und anderer hochleistungs­fähiger westlicher Ausrüstung nutzte, um das russische Logistik- und Kommando­system zu schwächen, wuchs die Hoffnung auf einen möglichen ukrainischen Sieg, ehe mit einer Reihe von Gegen­offensiven weite Teile der besetzten Gebiete befreit wurden.

Seither ist nichts geschehen, was darauf schliessen liesse, dass die Ukraine die militärische Initiative im Stellungs­krieg zu verlieren droht. Die Evakuierung von Cherson zeigt, dass Moskau noch keinen Weg gefunden hat, die Front­linien zu stabilisieren, um den demoralisierten und angeschlagenen Streit­kräften Zeit zu geben, sich zu erholen – obwohl das nach wie vor der Plan ist. Frühere Rückzüge wurden – wenn auch wenig überzeugend – als Gesten des «guten Willens» präsentiert, im Gegensatz dazu wurde der jetzige Rückzug von Anfang an als Reaktion auf militärische Zwänge bezeichnet.

Mit dem Wintereinbruch sind die Beurteilungen allerdings wieder zurück­haltender geworden. Der Vorsitzende des Vereinigten General­stabs der US-Streitkräfte, General Mark Milley, äusserte sich dahingehend, dass eine Verlangsamung der Kämpfe eine Gelegenheit für diplomatische Initiativen bedeuten könnte – eine Aussage, die von anderen US-Vertreterinnen umgehend herunter­gespielt wurde.

Die ukrainische Seite vertritt nach wie vor die Auffassung, dass der Winter kein Hindernis für weitere Offensiv­operationen darstellt. Der ukrainische Oberbefehls­haber, General Waleri Saluschni, hat versprochen, dass seine Streitkräfte «so lange kämpfen werden, wie sie die Kraft dazu haben. Unser Ziel ist es, das gesamte ukrainische Territorium von der russischen Besatzung zu befreien. Auf diesem Weg werden wir unter keinen Umständen innehalten.» Aus ukrainischer Sicht gibt es keine Basis für eine dauerhafte Lösung, solange Russland die Unumgänglichkeit des Rückzugs nicht akzeptiert.

Russland harrt aus

Russlands gegenwärtige Verhandlungs­position ist es, Ansprüche auf ukrainisches Gebiet zu erheben, das es nicht einmal kontrolliert. Wie ich in einem früheren Beitrag geschrieben habe, bemüht sich Putin nicht aktiv um eine Einigung, weil er kein Interesse an einer Lösung hat, die die Dummheit und Sinnlosigkeit dieses Krieges aufzeigen würde.

Stattdessen verstärkt er die Kriegs­bemühungen und tut so, als ob der Sieg eine reale Möglichkeit sei. Russland ist jetzt deutlich stärker im Kriegs­modus, die Rüstungs­industrie versucht, genügend Material zu produzieren, um die Streit­kräfte im Kampf zu behalten, und das Land rekrutiert trotz enormer Verluste noch verfügbare Männer für die Armee.

Nach dem Schlamassel der ersten Mobilisierung wurden Ende Oktober neue Strukturen geschaffen, um die Ressourcen effizienter zu nutzen. Ein Koordinations­rat unter der Leitung von Premier­minister Michail Mischustin überwacht zwei Aufgaben­bereiche, von denen sich der eine mit Finanz- und Regulierungs­fragen befasst und der andere mit der Lieferung von Waffen, Ausrüstung und Lebens­mitteln für die Truppen.

Militärisch ist von diesem zusätzlichen Aufwand wenig spürbar, abgesehen von einem noch rücksichts­loseren und effizienteren Angriff auf die ukrainische Infra­struktur. Falls sich hinter diesen Angriffen eine Strategie verbirgt, die nicht nur Ausdruck der Frustration über die ukrainische Widerstands­fähigkeit ist, so handelt es sich dabei um simple Nötigung. Der Sprecher des Kreml, Dmitri Peskow, rechtfertigte die Angriffe mit der Weigerung Kiews, zu verhandeln. (Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski erklärte, er werde nur mit einem russischen Macht­haber verhandeln, der nicht Putin sei.)

Kompromissbereitschaft ist bei diesem Verhalten weit entfernt. Derselbe Peskow bestreitet, dass Cherson für Russland endgültig verloren ist. Es ist ein Teil der Russischen Föderation – das ist rechtlich so festgeschrieben und definiert. Daran hat sich nichts geändert, und daran kann sich auch nichts ändern. Seinem vermeintlichen Zugeständnis, dass Moskau nicht auf einen Regime­wechsel in Kiew aus ist, wird zu viel Bedeutung beigemessen.

Das Versprechen ist auch nicht neu, und selbst für Moskau wäre es merkwürdig, Selenski zu bezichtigen, er würde sich weigern, über seine Absetzung durch ein russland­freundliches Regime zu verhandeln. Russland verlangt nach wie vor die Teilung der Ukraine. Ausserdem hat der stellvertretende Sprecher des russischen Föderationsrates, Konstantin Kossatschow, erklärt, dass «die Normalisierung der Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine nur nach einem Macht­wechsel in Kiew möglich ist, da das jetzige Regime keinen Handlungs­spielraum hat und durch seine eigenen früheren Taten und seine Ideologie gefangen ist».

Es bestand schon seit langem eine Diskrepanz zwischen den erklärten Kriegs­zielen Russlands und seiner Fähigkeit, diesen Krieg zur Durch­setzung derselben zu führen. Die Veränderung dieser Ziele stand in einem nur geringen Zusammen­hang mit der Entwicklung der Kampf­handlungen, und es fehlte an Kohärenz.

Ein russischer Soldat verabschiedet sich von seiner Partnerin. Nanna Heitmann/Magnum Photos/Keystone

Vor dem Krieg behauptete Putin, er sorge sich um eine mögliche Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato (die damals noch nicht absehbar war) und um die Behandlung der russisch unterstützten Enklaven in Donezk und Luhansk (deren Gefährdung er übertrieb). Zu Beginn des Krieges sprach Putin von der Notwendigkeit der «Entmilitarisierung und Entnazifizierung» der Ukraine, was nur einen Regime­wechsel bedeuten konnte. Als seine Truppen aus Kiew zurück­gedrängt wurden, wich dieses Ziel dem festen Willen, wenigstens ganz Donezk und Luhansk einzunehmen.

Im September, nach überschaubaren Erfolgen beim Erreichen dieses Ziels und angesichts zunehmender ukrainischer Stärke, erhöhte Putin den Einsatz drastisch, indem er die Annexion von Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk zusammen mit der bereits eroberten Krim ankündigte.

Abgesehen von der Krim ist keine dieser Provinzen vollständig erobert, und seit Putins Verkündung haben die Russen in Cherson deutlich und in Luhansk in geringerem Masse an Boden verloren, während ihr verzweifelter Versuch, ein weiteres Teilstück von Donezk einzunehmen, bisher gescheitert ist. Der Verlust der Stadt Cherson war ein schwerer Schlag, und die enthusiastische Menge, die Selenski empfing, entkräftete in gewisser Weise die russischen Behauptungen, dass 90 Prozent für die Annexion gestimmt hätten. Nach neun Monaten Krieg hat Russland kein einziges Kriegs­ziel mit Waffen­gewalt erreicht.

Der Rückzug aus Cherson wurde als umsichtige Militär­aktion dargestellt, die nicht von Putin angeordnet wurde. Laut offizieller russischer Darstellung empfahl der Oberbefehls­haber General Sergei Surowikin dem Verteidigungs­minister Sergei Schoigu den Rückzug der Truppen aufgrund der schwierigen Lage und des Risikos für die Zivil­bevölkerung. Diese Entscheidung wurde in einem inszenierten und auf Video veröffentlichten Gespräch zwischen den beiden mürrischen Sergeis verkündet.

Insbesondere der tschetschenische Staatschef Ramsan Kadyrow und Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldner­gruppe Wagner, unterstützten den Entscheid. Beide hatten in der Vergangenheit das russische Militär kritisiert. Ihre Zustimmung in diesem Fall liegt wohl auch daran, dass sie die Ernennung von Surowikin zum Oberbefehls­haber befürworteten. Womöglich hat es auch damit zu tun, dass sie in militärischer Hinsicht keine grossen Durch­brüche zu verbuchen haben. Die Wagner-Gruppe hat eine grosse Zahl von Soldaten auf die Stadt Bachmut in Donezk angesetzt und dabei schwere Verluste erlitten, ohne viel zu erreichen.

Selbst wenn wir aufgrund unserer Kenntnisse über die rivalisierenden Streit­kräfte zu dem Schluss kommen, dass Russland diesen Krieg verliert, sind wir von einem russischen Zugeständnis weiter entfernt denn je. Möglicher­weise wird es nie dazu kommen. Die russischen Truppen mögen weiter zurück­gedrängt werden. Doch solange Moskau hofft, dass die neu formierten Einheiten für eine weitere Offensive ausreichen oder die Angriffe auf die ukrainische Bevölkerung die Moral in Kiew katastrophal schwächen, wird es keine Niederlage eingestehen. Die Ukraine kann ebenfalls nicht von einem Sieg sprechen, denn es gibt noch viel mehr Territorium zu befreien und der Bevölkerung steht ein harter Winter bevor, in dem es kaum eine Chance auf Erholung gibt.

Wie können wir wissen, ob Russland verloren hat?

Die Blamage auf dem Schlacht­feld hat bisher also nicht zu einer entsprechenden Anpassung der Kriegs­ziele geführt. Zu einem bestimmten Zeitpunkt könnten weitere Rückschläge neue Ziele erforderlich machen, die eine gewisse Glaub­würdigkeit besitzen und nicht als propagandistischer Bombast erscheinen. Möglicher­weise werden die Ziele auch zunehmend defensiver formuliert. Bereits heute wird der Konflikt routine­mässig als ein Krieg mit der Nato dargestellt (was eine gute Ausrede für die mangelnden Erfolge liefert).

Die grösste Gefahr für Putin, die eine Niederlage unmissverständlich machen würde, wäre eine entschlossene ukrainische Offensive zur Rück­eroberung der Krim, der russischen Beute von 2014. Putin spricht regelmässig von einer ukrainischen Bedrohung der Krim, einschliesslich der Möglichkeit der Ukraine, die Wasser­versorgung der Halbinsel zu blockieren. Im Oktober entrüstete er sich über die Sabotage der Kertsch-Brücke, die die Halbinsel mit dem Festland verbindet. Dies legt den Gedanken nahe, dass Putin nur dann zu ernsthaften Verhandlungen zu bewegen ist, wenn die Krim in Gefahr gerät. Im Westen haben viele die Ukraine davor gewarnt, die Krim zu einer militärischen Priorität zu machen, gerade weil sie für Putin so wichtig ist, dass ihre Einnahme eine der wenigen Eventualitäten darstellt, die zu einer nuklearen Eskalation führen könnten.

Wenn die Krim für Putin oberste Priorität hat, kann er sich kaum noch weitere Rückschläge in anderen Gebieten leisten. Die Hoffnung hinter der Mobilisierung war, den Druck zu verringern, indem die russischen Streitkräfte in die Lage versetzt würden, neue Offensiven zu starten. Wird es gelingen, aus den neu ausgehobenen Einheiten eine schlag­kräftige, gut ausgebildete und ausgerüstete Kampf­truppe zu formen?

Im Laufe der Zeit könnte Russland durchaus in der Lage sein, die Streitkräfte wieder aufzubauen. Obwohl es zu bedenken gilt, dass die Armee, die in diesem Jahr so stark geschwächt und dezimiert wurde, noch unter günstigen wirtschaftlichen Bedingungen aufgebaut worden ist. Auf kurze Sicht sind dem, was erreicht werden kann, praktische Grenzen gesetzt, doch werden wir darüber erst dann Gewissheit haben, wenn die neu ausgehobenen Einheiten im Frühjahr in den Krieg ziehen.

Die russische Rüstungs­industrie hat die Aufgabe, ihre (durch die Mobilisierung beeinträchtigte) Produktivität zu steigern und mehr Waffen für die Front zu liefern. Ihre Möglichkeiten sind allerdings beschränkt. Die Lage ist nicht einfach zu beurteilen. So wurde beispiels­weise angenommen, dass Russland seine regel­mässigen Raketen­angriffe auf ukrainische Städte und Einrichtungen nur schwer fortsetzen könne, weil die ballistischen Iskander- und Kalibr-Marschflug­körper zur Neige gingen.

Die Angriffe dauern jedoch an. Das mag daran liegen, dass die anfänglichen Bestände unterschätzt wurden, oder daran, dass die Schätzungen richtig waren und Russland im Moment alles gegen die Ukraine einsetzt, was es hat, um eine maximale Wirkung zu erzielen – oder daran, dass mehr Raketen hergestellt werden können, sei es aufgrund von Bauteilen, die noch aus der Zeit vor dem Krieg stammen, oder weil im Ausland mehr erworben werden kann. So konnten im Iran Marschflug­körper gekauft werden, und möglicher­weise werden auch ballistische Raketen aus Teheran beschafft, ebenso wie aus Nordkorea, von wo man eventuell bereits Artillerie­granaten bezieht.

Weniger klar ist, ob sich diese Nach­rüstung auch auf die für Land­offensiven benötigten Rüstungs­güter übertragen lässt. Es besteht Grund zur Annahme, dass die Ressourcen, einschliesslich der Arbeits­kräfte, nicht ausreichen, um die Produktivität im gesamten Verteidigungs­sektor zu steigern, sodass in bestimmten Bereichen allenfalls veraltete Rüstungs­güter modernisiert werden können, zum Beispiel die 1961 eingeführten T-62-Kampfpanzer. Berichte über die Behandlung der jüngst mobilisierten Männer an der Front lassen vermuten, dass die Bezeichnung «Kanonen­futter» in diesem Fall mehr als zutreffend ist.

All dies stärkt die Ansicht, dass Russland bei den Kämpfen an Land weiterhin Probleme haben wird, während es bei Angriffen auf die ukrainische Gesellschaft und Wirtschaft viel mehr Möglichkeiten hat. Russlands neue Front­linie in der Südukraine (die für die Verteidigung der Krim entscheidend ist) dürfte leichter zu verteidigen sein, während die Ukraine weiterhin kontinuierliche Angriffe auf Bachmut in Donezk abwehren muss. Es bleibt der Front­abschnitt Svatove–Kreminna in Luhansk, wo die ukrainischen Truppen langsam, aber stetig Fortschritte in einem Gebiet machen, in dem sie auf einen Durchbruch gehofft haben. Vielleicht sollte auch die Front in Saporischschja im Auge behalten werden, wo Berichte über eine Verstärkung der ukrainischen Streit­kräfte kursieren.

Wie schon seit Kriegs­beginn hängt die Entscheidung darüber, wer gewinnt und wer verliert, weiterhin vom Verlauf der Kämpfe an Land ab. Im Moment hat Russland jedoch kein überzeugendes Konzept für einen Sieg, während die Ukraine sich zumindest so weit durchsetzen könnte, dass Russland nur minimale und unzusammen­hängende Gebiete besetzen kann und selbst die Krim verwundbar bleibt.

Ein Szenario für einen Kurswechsel Russlands ist auf jeden Fall, dass die Krim «verloren» wird. Nach meiner Ansicht gibt es aber zumindest eine weitere Möglichkeit: dass General Surowikin zum Schluss käme, dass seine Streitkräfte nicht in der Lage sind, den Krieg fortzusetzen, und er daher versuchen würde, eine Art Waffen­stillstand oder Rückzug zu vereinbaren. Er hat nach wie vor das gleiche Problem wie seine Vorgänger: Für einen Rückzug auf besser zu verteidigende Linien braucht er die Zustimmung Putins, auch wenn dadurch der Eindruck verstärkt würde, dass Russland verliert.

Ansonsten setzt Russland, um irgendetwas aus diesem Krieg zu gewinnen, weiterhin auf die Wirkung des Leids, das dem ukrainischen Volk und der internationalen Wirtschaft zugefügt wird, um einen gewissen Druck auf Kiew auszuüben, Zugeständnisse zu machen.

Das Leid wurde zweifellos verstärkt, doch gab es noch keinen Hinweis darauf, dass dies etwas anderes bewirkt, als die Entschlossenheit der Ukraine zur Befreiung ihres Territoriums zu stärken. Moskau mag ein gewisses sadistisches Vergnügen an dem verursachten Elend haben, einen politischen Nutzen hat es bisher nicht daraus gezogen.

Der internationale Kontext

Die US-Regierung um Präsident Biden hatte Zweifel an der Fähigkeit der Ukraine geäussert, die militärischen Anstrengungen aufrecht­zuerhalten und den schweren Schlag gegen die Wirtschaft des Landes zu verkraften. Nun räumt sie ein, dass es derzeit keine erkennbare diplomatische Lösung gibt. Die US-Regierung arbeitet jedoch daran, die Koalition, die Kiew unterstützt, zusammen­zuhalten und die skeptischeren Mitglieder des Globalen Südens einzubinden. Sie ist daher besorgt, dass Selenskis kämpferische Rhetorik ihn als unrealistisch und gleichgültig gegenüber den Anliegen anderer Staaten aussehen lässt.

In Anbetracht der Intensität der Angriffe, denen sein Land ausgesetzt ist, kann man von Selenski kaum erwarten, vernünftig aufzutreten. Auf Drängen Washingtons hat er jedoch zumindest so getan, als sei er an einer diplomatischen Lösung interessiert. Er hat in seiner virtuellen Rede vor dem G-20-Gipfel einen 10-Punkte-Plan vorgelegt.

Das Hauptmerkmal dieses Plans ist, dass er zunächst von Russland verlangt, seine eklatantesten Verstösse gegen das Völker­recht und sein schlimmstes Verhalten einzustellen, bevor eine langfristige Lösung skizziert wird. Die 10 Punkte lassen sich wie folgt zusammen­fassen:

  1. Die russischen Truppen müssen das Kernkraft­werk Saporischschja verlassen und der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEO die Möglichkeit geben, mit ukrainischem Betriebs­personal zusammen­zuarbeiten, um die Anlage so zu sichern, dass keine Strahlung freigesetzt wird.

  2. Die Getreideinitiative muss ausgeweitet werden, damit weitere Häfen Getreide exportieren können.

  3. Da 40 Prozent der ukrainischen Energie­infrastruktur durch russische Raketen- und Drohnen­angriffe zerstört wurden, ist eine Stärkung der Luftabwehr notwendig, damit die wichtigsten Anlagen stärker geschützt werden können. Zudem braucht es fachliche Beratung und Unter­stützung zum Wieder­aufbau dieser Infra­struktur. Vor allem aber könnte Russland als ersten Schritt sein Friedens­interesse bekunden, indem es diese Angriffe einstellt.

  4. Freilassung aller Gefangenen und Deportierten, den «Tausenden unserer Landsleute, Militärs und Zivilisten» in russischer Gefangenschaft. Selenski gab an, dass Kiew die Namen von «11’000 Kindern, die nach Russland zwangs­deportiert wurden, bekannt sind. Sie werden von ihren Eltern getrennt, obwohl klar ist, dass sie Familien haben.»

  5. Implementierung der Uno-Charta mittels Wieder­herstellung der territorialen Integrität der Ukraine. Da ein Angriffs­krieg nicht geduldet werden kann, ist dies «nicht verhandelbar».

  6. Rückzug der russischen Truppen und Einstellung aller Feindseligkeiten.

  7. Durchsetzung des Rechts durch Einrichtung eines Sonder­tribunals über das Verbrechen des russischen Angriffs auf die Ukraine sowie Schaffung eines internationalen Mechanismus zur Wieder­gutmachung aller durch diesen Krieg verursachten Schäden.

  8. Massnahmen gegen die verheerenden Umwelt­schäden, unter anderem durch Beschuss abgebrannte Wälder. Gegen Landschäden durch nicht explodierte Minen und Granaten, geflutete Kohle­bergwerke, abgebrannte Öldepots und Chemie­werke, gesprengte Abwasser­anlagen und zahllose erlegte Tiere, die vergraben wurden.

  9. Verhinderung von Eskalation. Die Ukraine wurde angegriffen, weil es ihr an Sicherheits­garantien mangelte, und sie wird auch in Zukunft verwundbar sein, solange keine «wirksamen Sicherheits­garantien» bestehen. Selenski schlug eine «internationale Konferenz zur Festlegung der Kernelemente einer Nachkriegs-Sicherheits­architektur im euro-atlantischen Raum, einschliesslich Garantien für die Ukraine» vor.

  10. Wenn sämtliche Massnahmen zur Beendigung des Krieges umgesetzt sind, wenn Sicherheit und Gerechtigkeit wieder­hergestellt sind, sollten die Parteien ein Dokument unterzeichnen, in dem das Ende des Krieges besiegelt wird.

Selenski betonte, «dass keiner der oben genannten Schritte viel Zeit erfordern kann. Höchstens einen Monat pro Schritt. Für manche Schritte reichen ein paar Tage aus.»

Sein Zielpublikum war nicht Russland, sondern die internationale Gemeinschaft. Deshalb versuchte Selenski, das Leid seines Landes und jene Aspekte russischen Verhaltens hervor­zuheben, die thematisiert werden müssen – und gleichzeitig wollte er erklären, warum es unangemessen ist, von der Ukraine zu erwarten, mit einer Regierung zu verhandeln, die die Menschen in ihrem Land so umfassend terrorisiert. Sollte Russland ernsthaftes Interesse daran haben, Voraussetzungen für Verhandlungen zu schaffen, müsste der erste Schritt darin bestehen, den Terror zu beenden.

Abschiedsfoto mit der Familie und den Verwandten. Nanna Heitmann/Magnum Photos/Keystone

Auf dem G-20-Gipfel wurden Selenskis Forderungen zwar nicht uneingeschränkt unterstützt, doch wurde ein Trend deutlich, der Putin Sorgen bereiten dürfte. Allein die Tatsache, dass er auf die Teilnahme verzichtete und stattdessen seinen glücklosen Aussen­minister Sergei Lawrow schickte, zeigt, dass er das Risiko vermeiden wollte, vor der Welt­öffentlichkeit brüskiert zu werden. Lawrow musste sich schliesslich mit einer Erklärung abfinden, die in Moskau für Unbehagen sorgte.

Der Gastgeber, der indonesische Präsident Joko Widodo, fürchtete schon lange, dass sein Wunsch nach einem harmonischen Gipfel­treffen durch den Streit über die Ukraine bedroht war, die im Westen eine höhere Priorität geniesst als bei ihm selbst. Er wollte, dass Putin teilnimmt, doch letztlich machte die Abwesenheit des russischen Präsidenten eine Einigung einfacher.

Die Erklärung verbindet die westlichen Anliegen mit Widodos eigenen und unterstreicht den Schaden, den der Krieg für die internationale Wirtschaft und die ärmeren Länder bedeutet. Es ist bezeichnend, dass die grossen Länder, die am meisten getan hatten, um Russland vor internationaler Ächtung zu schützen – Brasilien, Südafrika, Indien und China –, nicht mehr bereit waren, politisches Kapital für Russland aufzuwenden, insbesondere dann nicht, wenn dies eine Spaltung der G-20 bedeuten würde.

Für Putin besonders bedenklich war Chinas Bereitschaft, klarzustellen, dass Präsident Xi Jinping bezüglich der Ratsamkeit des Krieges konsultiert worden war. Ausserdem betonte China bei jeder Gelegenheit, dass es jegliche Andeutung missbillige, dass Atomwaffen für den Krieg eingesetzt werden könnten. Und vor allem gab es erste zaghafte Bemühungen um Verbesserungen der Beziehungen zu wichtigen westlichen Staaten. Noch im Februar anerkannte Xi Putin als seinen wichtigsten internationalen Partner. Inzwischen zögert er, sich allein an der Seite Russlands zu positionieren.

In der Abschluss­erklärung wurde auf das Votum der Uno-General­versammlung verwiesen, in dem die russische Aggression verurteilt und der Rückzug gefordert wurde. Ferner heisst es darin:

Die meisten Mitglieder verurteilen den Krieg in der Ukraine aufs Schärfste und betonen, dass er unermessliches menschliches Leid verursacht und bestehende Schwächen der Weltwirtschaft verschärft, indem er das Wachstum einschränkt, die Inflation antreibt, Liefer­ketten unterbricht, die Energie- und Ernährungs­unsicherheit verstärkt und die Risiken für die Finanzmarkt­stabilität erhöht.

Aus: Abschluss­erklärung G-20-Gipfel 2022.

In der Erklärung wird zwar eingeräumt, dass der Gipfel nicht der geeignete Ort ist, um «Sicherheits­fragen» zu lösen, dennoch wird festgehalten:

Es ist entscheidend, das Völkerrecht und das multilaterale System zur Sicherung von Frieden und Stabilität zu erhalten. Dazu gehören die Verteidigung aller in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Ziele und Grundsätze sowie die Einhaltung des humanitären Völker­rechts, einschliesslich des Schutzes von Zivilisten und Infra­strukturen in bewaffneten Konflikten. Der Einsatz oder die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen ist unzulässig. Die friedliche Beilegung von Konflikten, Bemühungen zur Bewältigung von Krisen sowie Diplomatie und Dialog sind unerlässlich. Unsere heutige Zeit darf nicht eine des Krieges sein.

Nichts von alledem richtete sich gegen die Ukraine. Russland hat auf diesen wie auf alle anderen Misserfolge mit einem weiteren Raketen­angriff auf die Ukraine reagiert. Putin weigert sich, eine Niederlage in der Ukraine einzugestehen, in der Praxis haben ihn seine Niederlagen jedoch weitgehend isoliert.

All das kann als Zeichen gewertet werden: dafür, dass selbst diejenigen, die bereit waren, Russland einen Vertrauens­vorschuss zu gewähren, und die auf die ihrer Ansicht nach bestehende Schuld und Heuchelei der Nato hinweisen, Putins Krieg als verlorene Sache betrachten. Sie erkennen mittlerweile, was Militär­analysten schon seit geraumer Zeit festgestellt haben. Putins Armee ist nicht in der Lage, ihr Problem in der Ukraine zu lösen, und all ihre Anstrengungen haben die Situation nur verschlimmert.

Gegenwärtig ist es unmöglich, die russisch-ukrainischen Beziehungen langfristig in einer Weise wieder­herzustellen, die Putins Interessen dient und einiger­massen stabil ist. Die Kluft zwischen seinen erklärten Zielen und den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln ist in den letzten neun Monaten immer grösser geworden.

Der Krieg ist schon lange verloren. Die Heraus­forderung besteht nun darin, Putin und sein Umfeld zu überzeugen, diese Einsicht zu akzeptieren. Damit dies gelingen kann, gibt es keine Alternative zur Aufrecht­erhaltung des militärischen Drucks.

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