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Kevin allein im House

09.01.2023

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Synthetische Stimme
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Sehr geehrte Dame
Sehr geehrter Herr
– and everybody beyond!

Gestern stürmten Anhänger des abgewählten Präsidenten das Parlament. Und heute Morgen lief ein Frachter im Suez­kanal auf Grund.

Hat der Teufel keine neuen Ideen mehr?

Zum Glück scheint es diesmal in beiden Fällen einiger­massen glimpflich ausgegangen zu sein. Die Bilder aus der brasilianischen Haupt­stadt erinnern zwar unheimlich an den Sturm auf das US-Capitol vor zwei Jahren. Aber diesmal waren die Gebäude verlassen – und Ex-Präsident Jair Bolsonaro distanzierte sich schnell und klar von der Aktion. Und der gestrandete Frachter im Suez­kanal schwimmt bereits wieder.

Und manchmal braucht das Karma einfach eine Weile.

Und selten war ein Fall so klar wie der von Kevin McCarthy. Vier volle Tage wurde der neue republikanische Sprecher des US-Repräsentanten­hauses von den eigenen Leuten sabotiert, ausgetrickst, verspottet.

Vor dem ersten Wahlgang sagte er noch: «Ich habe diesen Job verdient!»

Worauf ihm die Abgeordnete Lauren Boebert erwiderte: «Bullshit!»

Und ihr Kollege Matt Gaetz kommentierte: «Jeder republikanische Abgeordnete weiss, dass Kevin McCarthy an gar nichts glaubt.»

Und als vor dem 14. Wahlgang endlich ein Deal stand, McCarthys Familie bereits feierlich und erleichtert auf der Zuschauer­tribüne Platz genommen hatte, verhinderten seine Gegnerinnen mit der allerletzten abgegebenen Stimme noch einmal seine Wahl.

Es kam beinahe zur Schlägerei: Republikaner gegen Republikaner.

Und trotzdem gab es niemanden, der fand, dass McCarthy so eine Demütigung nicht verdient hätte. Nicht einmal seine Unter­stützerinnen.

Weil jeder wusste, dass McCarthy sich seine Hölle selbst gebaut hatte. Er hatte unter und nach Trump nie etwas gegen die Extremisten, Kriminellen und Wahnsinnigen in seiner Partei unternommen – mit dem Ziel, eines Tages der Sprecher zu werden.

Exakt zwei Jahre vor seiner Demütigung hätte dieser Mann eine Abzweigung nehmen können. Am 6. Januar 2021, als Trumps Mob das Capitol stürmte, schrie er den Präsidenten an, er solle etwas unternehmen. Man renne im Capitol um sein Leben. Worauf Trump ihm kühl erwiderte: «Die Leute scheinen ärgerlicher über die Wahl zu sein als du, Kevin.»

Danach sagte McCarthy: «Das wars für mich mit dem Kerl.»

Aber das war nur eine kurze Verirrung. Wenige Wochen später war McCarthy der erste prominente Republikaner, der nach Florida reiste, um in Mar-a-Lago wieder den Ring seines Präsidenten zu küssen.

Das taten danach beinahe alle anderen Republikanerinnen auch. Es gibt keinen Menschen von Ehre mehr unter den Abgeordneten dieser Partei. Insofern hatten am ersten Tag der Sprecher­wahl sowohl McCarthy als auch Boebert wie auch Gaetz recht: Er ist unter den Gesichts­losen der Gesichts­loseste.

Und McCarthy blieb seinem Ruf nichts schuldig. Er machte seinen Feinden jedes Zugeständnis: mächtige Posten, keine Unter­stützung für gemässigte Gegner im Vorwahl­kampf, Budget­erhöhungen nur bei brutalen Schnitten im Sozial­staat und im Gesundheits­wesen und das Recht, dass im Fall der Wahl nun ein einziger Abgeordneter McCarthys Absetzung verlangen kann.

Gaetz – gegen den ein Verfahren wegen Sex mit einer Minder­jährigen läuft – betitelte ihn zum Dank als: «Cavin’ McCarthy» – «einknickender McCarthy».

Im 15. Wahlgang wurde Kevin McCarthys Lebens­traum dann Tatsache. Auf dem Papier ist er nun der dritt­mächtigste Amerikaner.

Nur, der Preis ist: Er (und mit ihm sein Land) ist ab sofort eine Geisel. Der schlimmst­möglichen Leute: von Radikalen, deren Geschäfts­modell nicht der politische Deal, sondern Extremismus in Talk­shows ist. Und die ihn persönlich verachten.

Was die Zukunft bringt, ist klar – noch mehr Demütigung, noch mehr Chaos. Es hat bereits angefangen.

Die zweithöchste Strafe für diesen Opportunisten wäre gewesen: Du verkaufst dich – und bekommst nicht einmal etwas dafür.

Aber Kevin McCarthy erhielt die Höchst­strafe: Du verkaufst dich – und du hast Erfolg damit.

Und damit zu den anderen Themen, zu welchen wir Ihnen heute zum Sonnen­untergang ein paar Antworten liefern: +++ Was ist in China los? +++ Was heisst das für den Rest der Welt? +++ Sollte die Schweiz nun an den Flug­häfen testen? +++ Der Hals kratzt und Neo Citran ist vergriffen, was tun? +++ Was ist der Stand der Dinge in der Ukraine? +++ Plus: der Club der dicken Männer +++

Was ist in China los?

Wenn man sich nach den offiziellen Verlautbarungen aus dem Land richtet, dann bleibt eigentlich nur ein Fazit: In China grassiert gerade eine ganz besondere Variante von Sars-CoV-2.

Eine Variante, die fast nur prominente Menschen erwischt: Opern­sängerinnen, Politiker, Akademike­rinnen, Industrie­kapitäne.

Anders passt es nicht zusammen, dass einerseits gemäss offiziellen Angaben seit dem Ende der Zero-Covid-Strategie vor gut einem Monat nur 25 Menschen an Covid-19 gestorben sind – und sich andererseits auf den Websites von Firmen, Universitäten und Kultur­einrichtungen die Nachrufe häufen.

Niemand weiss genau, wie viele Menschen sich in China seit Anfang Dezember mit Sars-CoV-2 angesteckt haben. Auch die Zentral­regierung, die hinter verschlossenen Türen mit Hunderten Millionen Ansteckungen rechnet, dürfte nur ein recht verschwommenes Bild von der Lage haben – denn viele Fälle werden nicht mehr gezählt. Und niemand kann mit Sicherheit voraus­sagen, wie viele Menschen in diesem Winter an Covid-19 sterben müssen. Pessimistische Szenarien gehen von 1 bis 2 Millionen Todes­opfern aus – deutlich über 10’000 Menschen pro Tag.

Zwar hat China offiziell mit 92 Prozent eine vergleichs­weise hohe Durchimpfungs­rate. Doch erst etwas über 50 Prozent haben eine dritte Dosis bekommen. Diese ist bei den chinesischen Impfstoffen wichtig, um schwere Krankheits­verläufe zu verhindern. Und ausgerechnet für alte – und damit besonders gefährdete – Menschen liegt die Impfrate ausgesprochen tief. Dazu kommt, dass sich in den drei Jahren von Zero Covid fast niemand auf natürliche Weise immunisiert hat.

In China treffen in diesen Tagen hoch­ansteckende Virus­varianten auf eine schlecht immunisierte Bevölkerung und ein unter­entwickeltes Gesundheits­system – besonders auf dem Land.

Und die Regierung appelliert derweil an ein Pandemie­konzept, das in der Schweiz vielen in unguter Erinnerung sein dürfte:

Eigenverantwortung.

Was heisst das für den Rest der Welt?

China war jahrelang fast komplett isoliert und hat Sars-CoV-2 mit harten Lockdowns, Massen­quarantänen und digitaler Kontakt­verfolgung in Schach gehalten. Jetzt holt das Land die letzten drei Jahre Pandemie im extremen Schnell­durchlauf nach.

Was die politischen Verwerfungen im Reich der Mitte sein werden, jetzt, da Xi Jinpings Prestige­projekt Zero Covid krachend gescheitert ist: Wer kann das, Stand heute, seriös voraussagen?

Was das mit der chinesischen – und damit auch mit der globalen – Wirtschaft macht: Wer weiss?

Etwas verlässlicher ist die Prognose, dass die chinesische Katastrophe am globalen Pandemie­verlauf nicht viel ändern wird.

Denn so brutal es klingt: Dass sich in China bis vor ein paar Wochen fast niemand mit den weltweit dominanten Omikron-Varianten von Sars-CoV angesteckt hat, ist für den Rest der Welt eher ein Hoffnungs­schimmer.

Denn es bedeutet, «dass es weniger Evolutions­druck auf das Virus gibt, die bestehende Immun­antwort auszutricksen», sagt die Molekular-Epidemiologin Emma Hodcroft von der Universität Bern. Was wiederum bedeutet: Dass in China neue Varianten entstehen, welche die bestehenden Impf­stoffe und den Immun­schutz in der Schweiz und anderswo aushebeln können, ist wenig wahrscheinlich.

Oder zumindest nicht wahrscheinlicher, als dass solche Varianten irgendwo sonst auf der Welt aufploppen.

Trotzdem: Sicher ist sicher, also …

Sollte die Schweiz nun an den Flug­häfen testen?

Wenn es nach der Gruppe mit dem klingenden Namen «Integrierte Regelung für die politische Reaktion auf Krisen» geht: Ja. Das ist jene Gruppe, die sich für die Europäische Union mit den dornigen Fragen der Pandemie­politik beschäftigt.

Sie hat sich Mitte letzte Woche in Brüssel getroffen – und den EU-Mitglieds­ländern eine Reihe von Empfehlungen gemacht, wie diese am besten auf den nun erwarteten Anstieg von Reisenden aus China zu reagieren hätten.

Etwa so: dass Flug­passagiere aus China vor der Abreise einen PCR-Test machen müssen. Dass am Ankunftsort nochmal Stichproben­tests gemacht werden sollen. Und dass man das Abwasser aus den Flugzeug­tanks untersuchen soll.

Allerdings: Das sind alles nur Empfehlungen. Und diese hatten bekanntlich in dieser Pandemie eine ähnlich hohe Erfolgs­bilanz wie die bereits erwähnte Eigen­verantwortung.

Einige Länder setzen sie mehr oder weniger strikt um, andere warten ab. Einmal mehr herrscht in Europa ein ziemliches Durcheinander.

An diesem Treffen war auch die Schweiz dabei. Derzeit prüfe man, was man mit diesen Empfehlungen genau machen werde, sagt der Medien­sprecher des Bundes­amtes für Gesundheit, Simon Ming.

Man gehe aber derzeit nicht davon aus, dass vom aktuellen Infektions­geschehen in China eine erhöhte Gefahr für das Schweizer Gesundheits­system ausgehe, denn, so Ming: «Bei den Varianten, die derzeit in China zirkulieren, handelt es sich gemäss heutigen Erkenntnissen um Omikron-Subvarianten, einschliesslich einer neuen Subvariante BF.7. Wir haben keine Hinweise darauf, dass diese Variante einen schwereren Krankheits­verlauf verursacht als die bisher bekannten Omikron-Varianten.»

Am Mittwoch werde auch der Bundesrat an seiner Sitzung über mögliche Massnahmen reden.

Nun zu einer Empfehlung aus der Republik-Hausapotheke.

Der Hals kratzt und Neo Citran ist vergriffen, was tun?

Wenn Sie in letzter Zeit krank waren, erkältet oder grippig, haben vielleicht auch Sie Ihren Neo-Citran-Vorrat aufgebraucht. Haben sich in die Apotheke geschleppt, um ihn aufzufüllen. Sind gescheitert: ausverkauft und gerade nicht lieferbar. (Damit wären wir eigentlich schon bei der nächsten Krise – verschiedenste Medikamente sind knapp oder fehlen ganz.)

Sie wollen also ein heisses Getränk, das Ihnen auf die Nacht hin die Schmerzen nimmt und die Atemwege abschwellen lässt. Lassen Sie sich in der Apotheke, wenn Sie schon da sind, Schmerz­mittel geben und Nasen­spray. Und kaufen Sie auf dem Heimweg Ingwer. Daheim schneiden Sie ihn in Scheiben, köcheln ihn rund 10 Minuten in Wasser, trinken das Ganze heiss. Denn Ingwer wärmt Sie nachhaltig, das zeigt ein Experiment mit Probandinnen, die unter kalten Händen und Füssen leiden. Die Temperatur ihrer Hände stieg nach einem Ingwer­getränk, und sie blieben für bedeutend längere Zeit warm, als wenn sie ein Placebo bekamen. Denn die im Ingwer enthaltenen Stoffe regen die Blut­zirkulation an und – zumindest weiss man das aus Forschung an Ratten – auch die Adrenalin­produktion. Ingwer kann noch viel mehr – aber davon dann ein andermal.

Zum Abschluss:

Was ist der Stand der Dinge in der Ukraine?

Wenn man sich eine Karte des Front­verlaufs ansieht, dann kann man auf die Idee kommen, dass – jetzt, da sich der Winter über das Land gelegt hat – der Krieg an Intensität verloren hat. Seit Wochen bewegt sich auf dem Papier praktisch nichts.

Aber dieser Eindruck ist falsch.

Nach ihren dramatischen Gelände­gewinnen im Herbst setzt die Ukraine nun wieder auf ihre Strategie der Zermürbung. Sie bombardiert Munitions­lager und Unterkünfte, kappt Versorgungs­linien und lässt Welle um Welle von schlecht ausgebildeten und noch schlechter ausgerüsteten Soldaten an ihren Verteidigungs­linien auflaufen.

Der amerikanische Militär­stratege Phillips O’Brien schrieb kürzlich, die Russen schienen «besessen davon, Orte auf einer Landkarte zu erobern», egal ob diese strategisch wichtig seien und die Verluste verkraftbar. Die Ukrainer hingegen hätten «von Anfang an realisiert, dass sie nicht gewinnen werden, wenn sie diese oder jene Stadt erobern», sondern indem sie die russische Kriegs­maschine systematisch aufrieben.

Und einmal mehr scheint das ganz gut zu funktionieren. Es mehren sich jedenfalls die Gerüchte, dass Putin bald eine zweite Welle von Zwangs­rekrutierungen ankündigen wird – noch deutlich grösser als die letzte. Ein politisches Risiko, das er nur in Kauf nehmen dürfte, wenn die erste Welle nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat.

O’Briens Prognose: Es könnte noch eine ganze Weile dauern, bis sich auf den Karten wieder etwas Wesentliches verschiebt. Aber wenn die Ukraine ihre Strategie durchhalte – und der Westen weiter Waffen liefere –, könnte die nächste Verschiebung dann umso dramatischer ausfallen.

Damit genug von der Welt.

Wussten Sie, dass der erste Club für dicke Männer im Jahr 1869 in New York gegründet wurde? Und dass er eine Art Geheim­bund war, dass man einen geheimen Hand­schlag und ein Passwort lernen musste – und dass man unter 200 Pfund (ungefähr 90 Kilo) nicht Mitglied werden durfte?

Oder dass Forscher der Uni Leiden im Jahr 2014 in der niederländischen Wildnis Hamster­räder aufgestellt haben und Feldmäuse darin fröhlich rumgerannt sind, obwohl sie niemand dazu gezwungen hat?

Hier ein wenig Winter­sehnsucht.

Und falls Sie ein Fan von M. C. Escher sind, dürfte Ihnen dieser Cartoon gefallen.

Damit: bis zum nächsten Montag.

Bleiben Sie freundlich, bleiben Sie wach, bleiben Sie gesund.

Oliver Fuchs, Marie-José Kolly, Constantin Seibt und Ihre Crew der Republik

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PPPPS: Nachdem unser Nachbar­land Frankreich letzte Woche beschlossen hatte, dass Flug­passagiere aus China in Frankreich einen negativen Covid-Test vorweisen müssen, hat China diese «exzessive Massnahme» scharf kritisiert und mit Vergeltungs­massnahmen gedroht.

PPPPPS: Das ist ziemlich lustig. Zumindest wenn Sie einen Sinn für Ironie haben. Zu dem Zeitpunkt galt nämlich umgekehrt: 1. Für die Einreise nach China ist ein negativer PCR-Test nötig. 2. Nach der Ankunft in China sind 5 Tage in einem Quarantäne­hotel obligatorisch, danach 3 weitere Tage ohne Kontakte zu Hause oder in einem weiteren Hotel. 3. Als Touristin können Sie nicht nach China reisen, dafür werden keine Visa ausgestellt. (Punkt 2 ist gestern Sonntag weggefallen. Die anderen beiden absolut nicht exzessiven Massnahmen bleiben auf unbestimmte Zeit bestehen.)

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