Eine entscheidende Schlacht

Die Ukraine will im Kampf um Cherson Boden gewinnen. Nicht nur, um Russland in die Defensive zu drängen. Die Ukraine braucht den Erfolg auch aus einem anderen Grund.

Eine Analyse von Lawrence Freedman (Text), Stephan Pörtner (Übersetzung) und Antoine d’Agata/Magnum (Bilder), 09.08.2022

Synthetische Stimme
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Der Krieg fordert seine Opfer: Der Fotograf Antoine d’Agata war für die Agentur Magnum in den vergangenen Wochen in der Ukraine unterwegs. Dabei entstanden die Bilder in diesem Beitrag.

Der Krieg mit Russland hat sich zugunsten der Ukraine verschoben. Denn Russland hat Schwierigkeiten, verlorene Ausrüstung zu ersetzen und mehr Männer für die Front zu rekrutieren, während die Ukraine von einem Zustrom moderner westlicher Waffen profitiert. Der ukrainische Verteidigungs­minister Oleksij Resnikow hat seine «Kanoniere» dafür gelobt, dass sie die gelieferten Himars-Mehrfach­raketenwerfer «sehr präzise einsetzen – sie arbeiten wie Chirurgen mit dem Skalpell».

In den letzten Wochen haben diese Kanoniere mehr als hundert «wichtige» Ziele erfolgreich angegriffen, nach Angaben eines Mitarbeiters des amerikanischen Pentagons sind darunter russische Kommando­posten, Munitions­depots, Luftverteidigungs­anlagen, Radar- und Kommunikations­posten sowie Positionen von Artillerie­waffen mit grosser Reichweite.

Als Reaktion darauf hat das russische Militär der Vernichtung der Himars und anderer Langstrecken-Artillerie­systeme hohe Priorität eingeräumt. Trotz gelegentlicher gegenteiliger Behauptungen Moskaus hat die russische Armee dieses Ziel aber noch nicht erreicht. Es wurde, zumindest bisher, durch die «Shoot and scoot»-Fähigkeit dieser Systeme vereitelt. (Das heisst, sie können sich nach dem Abschuss ihrer Raketen innerhalb von Minuten aus der Feuer­position zurück­ziehen und so Gegen­schlägen ausweichen.)

Derselbe Pentagon-Mitarbeiter sagte auch, dass Russland fast 85 Prozent seines Militärs für den Krieg in der Ukraine einsetze. Das hat zur Folge, dass die Streitkräfte des Landes nach und nach nicht mehr in der Lage sein werden, ihre anderen Aufgaben zu erfüllen – den Schutz ihrer Grenzen und die Unter­stützung der aussen­politischen Ziele Russlands im Rest der Welt. Die russischen Truppen haben einen Grossteil ihrer «intelligenten» Munition aufgebraucht und setzen daher einfachere Technologien ein. Deshalb können sie weniger punkt­genaue Angriffe durchführen, selbst wenn sie über die entsprechenden Aufklärungs­daten verfügen, um die Raketen zu steuern. Auch wenn es immer noch sehr schwierig ist, das Ausmass der bisherigen russischen Verluste abzuschätzen, so waren sie doch zweifellos sehr hoch und betrafen Offiziere aller Ebenen, sodass die Befehls­struktur mit der Situation überfordert sein dürfte.

Die Intensität der russischen Operationen hat abgenommen. Die Artillerie ist das Arbeits­pferd des russischen Angriffs, aber das Sperrfeuer, das auf dem Höhepunkt der Kämpfe im Osten um Sjewjerodonezk in Luhansk 20’000 Schuss pro Tag erreichte, ist nun stark reduziert worden. Ein ukrainischer Bataillons­kommandant erklärte einer Journalistin, dass der Beschuss nach dem Angriff auf ein Munitions­depot in Isjum in der Nähe von Charkiw «zehnmal geringer» gewesen sei als zuvor.

Zum Autor

Der Brite Lawrence Freedman ist Politik­wissenschaftler und Militär­historiker. Der Beitrag erschien am 27. Juli unter dem Titel «The Battle for Kherson and Why it Matters» zuerst auf dem Kommentar­tool Substack, wo Lawrence mit seinem Sohn Sam regelmässig Texte unter «Comment is Freed» veröffentlicht. Lawrence Freedman ist der Verfasser mehrerer Bücher, zuletzt «The Future of War. A History», im September erscheint sein neues Buch «Command».

Das Problem, mit dem Russland jetzt konfrontiert ist, ist nicht ein Mangel an Artillerie­geschützen oder Munitions­vorräten, es sind die Versorgungs­linien zwischen den beiden, die durch den Verlust oder die offensichtliche Verwundbarkeit der vorgelagerten Munitions­depots beeinträchtigt sind. Jetzt, da präzisere ukrainische Systeme die Front erreichen, müssen sich die russischen Kanoniere Sorgen machen, wenn sie nicht schnell genug schiessen und zurück­weichen können.

Unter diesen neuen Bedingungen hat sich die Zahl der ukrainischen Verluste entsprechend verringert. Während Präsident Selenski auf dem Höhepunkt der Kämpfe im Osten von 100 bis 200 ukrainischen Opfern pro Tag sprach, spricht er nun von etwa 30 Opfern täglich. Dies ist, wohlgemerkt, immer noch eine hohe Zahl. Das bedeutet, dass die Ukraine in einer Woche mehr Truppen verliert, als die Briten in sechs Jahren im Irak verloren haben – und in zwei Wochen mehr als die Briten während zwanzig Jahren in Afghanistan.

Das wichtige Gebiet im Süden

Die Bühne ist nun bereitet für eine umfassende Gegen­offensive zur Rück­eroberung von Cherson, die seit langem als oberste Priorität der Ukraine gilt. Dieses Gebiet im Süden, das für die ukrainische Wirtschaft wegen seiner Kraftwerke und Häfen von entscheidender Bedeutung ist, wurde in den ersten Tagen des Krieges unter Umständen eingenommen, die vielen Ukrainerinnen suspekt erschienen. Obwohl Verstärkung eingetroffen ist, ist die Region nicht so gut verteidigt wie die besser gesicherten Gebiete unter russischer Besatzung. Ausserdem gibt es dort eine aktive Widerstands­bewegung, die Truppen und lokale Kollaborateure angreift.

Wie immer gibt es Gründe, vorsichtig zu sein. Beobachter wie etwa der Analyst Jack Watling befürchten, dass die besten ukrainischen Streit­kräfte während der jüngsten Kämpfe schwer angeschlagen wurden und daher Zeit brauchen, um sich zu sammeln und zu erholen, während die Reservisten noch nicht ausreichend ausgebildet sind. Die Ukraine ist auf die kontinuierliche Lieferung der immer schneller verschossenen Munition durch ihre Partner angewiesen. Sie braucht mehr unbemannte Fluggeräte (UAVs oder Drohnen) zur Ortung von Zielen und die Mittel zur Abwehr der elektronischen Kriegs­führung Russlands.

Ein zweiter Grund zur Vorsicht liegt darin, dass die Ukraine sich darauf einstellen muss, dass die Russen mit ihrer angeblichen Priorität – der Besetzung des restlichen Donezk, um die Kontrolle über den Donbass abzuschliessen – fortfahren werden. Das Tempo der russischen Offensiven mag nachgelassen haben, und die ukrainische Seite behauptet jeden Tag, dass sie Sondierungs­angriffe abgewehrt habe, aber es könnte riskant sein, sich zu sehr im Süden auf Cherson zu konzentrieren, wenn es bedeutet, in Donezk zu verlieren. Die russischen Streitkräfte haben in der Ostukraine einige kleinere Gebiets­gewinne erzielt, darunter das Kraftwerk Vuhledar am Nordrand von Nowoluhansk. Diese Region haben sie seit zwei Monaten zu erobern versucht, es taugt aber nicht als Basis, um weitere Offensiven zu starten, sodass die Fortschritte an dieser Front immer noch bescheiden aussehen. Bei der Entscheidung über das weitere Vorgehen müssen die Russen ein ähnliches Kalkül wie die Ukrainer anstellen, nur in der umgekehrten Richtung – können sie es wagen, Schwach­stellen in Cherson entstehen zu lassen, während sie in Donezk vorrücken?

Das ist einer der Gründe, warum die Ukrainer vorwärts­machen wollen. Nach Monaten in der Defensive sind sie darauf erpicht, den Russen ihre Initiative aufzuzwingen. Dies vor allem, während der russische Generalstab noch mit den Schäden an seinen Nachschub- und Kommando­ketten beschäftigt ist. Richard Moore, der Leiter des britischen Geheim­dienstes MI6, ist der Ansicht, dass Russland in der Ukraine «die Luft ausgehen» könnte, da es in den nächsten Wochen immer «schwieriger werde, militärisches Personal zu rekrutieren. Sie werden eine Art Pause einlegen müssen, und das wird den Ukrainern Gelegenheit geben, zurück­zuschlagen». Moore kommt zu dem Schluss, dass «die Ukrainer möglicher­weise ein Zeitfenster haben, in dem sie eine vielleicht nur vorüber­gehende russische Schwäche ausnutzen können».

Weil dieses Zeitfenster nur kurz währen könnte, hat die Ukraine die Gegen­offensive nun offenbar eingeleitet. Ein örtlicher Regierungs­vertreter erklärte, dass Cherson bis Ende September befreit sein werde, wobei sich Präsident Wolodimir Selenski vorsichtiger äusserte und nur schrittweise Fortschritte versprach. Ein weiterer Militär­vertreter verglich den ukrainischen Vormarsch mit Wellen: «Im Moment machen wir kleine Wellen und schaffen so die Voraus­setzungen für grössere.»

Wie könnte das aussehen? Der einzige gangbare Weg, die russischen Truppen aus ihren Stellungen zu vertreiben, ist eine gross angelegte Gegen­offensive, bei der auf Artillerie­beschuss Angriffe mit Panzern und Infanterie folgen. Dies könnte sich als notwendig erweisen, auch wenn die Ukrainer im Moment nicht über genügend voll ausgerüstete und gewappnete Brigaden verfügen, um einen solchen Angriff zu wagen. Doch während es schwierig werden könnte, die Russen mit (massiver) Gewalt zu vertreiben, ist das nicht unbedingt die einzige ukrainische Strategie. Alternativ wäre es möglich, die russischen Stellungen so zu schwächen, dass die Truppen zurück­gezogen werden müssen, wenn sie erhalten bleiben sollen. Illia Ponomarenko vom «Kyiv Independent» hat einen möglichen ukrainischen Plan skizziert: «Im Zuge einer Gegen­offensive könnte die Ukraine versuchen, die besetzte Stadt zu blockieren, die russische Garnison von Nachschub und Verstärkung abzuschneiden und die Blockade so lange aufrecht­zuerhalten, bis Russland kapituliert.»

Er verwies darauf, dass die Front­­linie in der Region mit über 200 Kilometern zu lang ist, um von den Russen vollständig gesichert werden zu können, selbst wenn sie Verstärkung erhalten. Vielmehr haben die Russen «starke Stützpunkte in bestimmten bewohnten Gebieten oder an Strassen­kreuzungen». Ihre Fähigkeit, angeschlagene Einheiten rechtzeitig zu verstärken, wird durch die ständigen Angriffe auf logistische Systeme und Kommando­posten erschwert. Fähige Kommandeure sind die rarste militärische Ressource, und in einem hierarchischen System wie dem russischen sind sie noch wichtiger als sowieso schon. Vor allem müssen die Russen befürchten, dass ihre Streitkräfte eingekesselt werden. So wie die grosse Heraus­forderung für die Ukraine in der Schlacht um Luhansk darin bestand, die Truppen zu evakuieren, bevor sie eingekesselt wurden, könnte dies nun eine Heraus­forderung für die Russen werden. Die Angriffe auf die Schlüssel­routen in die Region rein und aus ihr hinaus – die Antoniwka-Brücke und eine Brücke am Kachowska-Staudamm – schränken die Möglichkeiten der Russen ein, schweres Gerät zu verlegen, und die Angriffe verdeutlichen ihnen, dass die Ukrainer ihre Flucht­wege abschneiden können.

Sind Verhandlungen überhaupt möglich?

Neben den militärischen Aspekten, die die Ukraine zu Gegen­offensiven veranlassen, gibt es auch starke politische und humanitäre Beweg­gründe. Die Lebens­bedingungen der Einwohnerinnen von Cherson werden unerträglich, ein aktueller Report dokumentiert schwer­wiegende Menschenrechts­verletzungen, darunter Inhaftierungen, Folter und Verschleppungen. Darüber hinaus laufen Vorbereitungen für ein manipuliertes Referendum, das die russische Annexion der Provinz und des Donbass im September rechtfertigen soll. Das wollen die Ukrainerinnen um jeden Preis verhindern.

Ausserdem muss die Ukraine unbedingt beweisen, dass die Waffen, die sie vom Westen erhalten hat, etwas bewirken. Der Krieg hat die Probleme der Welt­wirtschaft noch verschärft, und es werden bereits ausser­ordentliche Massnahmen zur Bewältigung der Gasknappheit im kommenden Winter eingeleitet. Vorläufig wird Russland stärker für die Krise verantwortlich gemacht als die Ukraine, und die meisten Politikerinnen sind sich darüber im Klaren, dass jeder Anschein eines russischen Sieges langfristig katastrophale Folgen für die Stabilität in Europa hätte. Andererseits wollen sie keine wirtschaftlichen und politischen Opfer für eine aussichtslose Sache erbringen, und die Aussicht auf einen festgefahrenen Zermürbungs­krieg bleibt besorgnis­erregend. Kurz gesagt: Die Ukraine braucht in den nächsten Monaten einen Durchbruch.

Das Risiko für Kiew besteht nicht darin, dass die westlichen Regierungen ihre finanzielle und militärische Unter­stützung plötzlich einstellen, sondern dass sie beginnen, mit Moskau Friedens­bedingungen zu sondieren, die den Zielen der Ukraine bei weitem nicht gerecht würden. Bereits finden sich Kommentare von «Realisten», die davor warnen, dass hehre Absichten die Logik des militärischen Kräfte­verhältnisses nicht überwinden können. So argumentiert etwa Barry Posen ausgehend von der Annahme, dass ein Sieg der Ukraine illusorisch sei, die USA täten besser daran, eine Friedens­lösung zu finden.

Ungeachtet der Frage, ob Posens militärische Analyse heute weniger zutreffend ist – sie wurde verfasst, bevor sich die Lage zugunsten der Ukraine verbesserte –, lohnt es sich, die von ihm vorgeschlagene politische Lösung zu untersuchen.

Eine Verhandlungslösung des Krieges wäre zweifellos schwer zu erreichen, aber die Umrisse einer Einigung sind bereits erkennbar. Beide Seiten müssten schmerzhafte Zugeständnisse machen. Die Ukraine müsste beträchtliche Gebiete abtreten und dem vertraglich zustimmen. Russland müsste einen Teil seiner eroberten Gebiete aufgeben und auf künftige territoriale Ansprüche verzichten. Um einen erneuten russischen Angriff zu verhindern, bräuchte die Ukraine die Zusicherung militärischer Unter­stützung durch die USA und Europa sowie die Fortsetzung der Militär­hilfe (die jedoch hauptsächlich aus defensiven und nicht aus offensiven Waffen bestehen sollte). Russland müsste die Legitimität einer solchen Vereinbarung anerkennen. Der Westen müsste sich bereit erklären, viele der gegen Russland verhängten Wirtschafts­sanktionen zu lockern. Die Nato und Russland müssten neue Verhandlungen aufnehmen, um die Intensität der militärischen Operationen und Inter­aktionen entlang ihrer jeweiligen Grenzen zu beschränken.

So könnte man ein Abkommen, das unter den derzeitigen Bedingungen ausgehandelt wird, wohl am besten umreissen. Leider ist es aber völlig unrealistisch.

Selbst wenn dies ein wünschens­wertes Ergebnis wäre (meiner Meinung nach wäre es ein Rezept für anhaltende und chronische Instabilität in Europa), wird es nicht dazu kommen. Wie ich bereits in einem früheren Beitrag erklärt habe, werden die Ukrainerinnen keine Vereinbarung akzeptieren, die von ihnen verlangt, «beträchtliche Gebiete aufzugeben». Und obwohl ein solches Abkommen zumindest einen Teilsieg für Russland bedeuten würde, ist es auch nicht das, was Moskau vorschlägt.

Was merkwürdig ist in der gegenwärtigen Situation: Moskau zeigt keinerlei Interesse daran, sich jetzt handfeste Vorteile zu sichern. Dabei könnte genau diese Möglichkeit gefährdet sein, wenn die Ukraine militärische Fortschritte macht. Anstatt davon auszugehen, dass die Ukraine der alleinige unwillige Verhandlungs­partner ist und dass Russland nur darauf wartet, sich an einen Tisch zu setzen und zu reden, sollten wir uns anschauen, welche Vorschläge die russische Führung tatsächlich gemacht hat.

Russland erhöht den Einsatz

Die Demonstration der Ukraine, was sie mit ihrer neuen Artillerie anrichten kann, wurde vom russischen Aussen­minister Sergei Lawrow neulich als Grund genannt, weshalb Moskau seine Ziele ausweiten und nicht reduzieren werde. Er warf den westlichen Regierungen vor, die Ukraine dazu zu drängen, die Kämpfe fortzusetzen, anstatt zu verhandeln; und er erklärte anschliessend, dass Moskau seine militärischen «Aufgaben» in der Ukraine über die Region Donbass hinaus auf Cherson und Saporischschja werde ausdehnen müssen. «Die Geografie ist nun eine andere, es handelt sich bei weitem nicht mehr um die DPR und die LPR [die Volks­republiken Donezk und Luhansk], sondern um eine Reihe anderer Gebiete ... Dieser Prozess setzt sich logisch und beharrlich fort.» Durch die Lieferung von Langstrecken­systemen an die Ukraine habe der Westen – aus «ohnmächtiger Wut» oder dem Willen, die Situation zu verschlimmern – Russland gezwungen, so weit wie nötig zu gehen, um die Waffen zu orten. Russland könne es nicht zulassen, dass Selenski, «oder wer auch immer ihn ersetzt», ihr Territorium oder das der DPR und der LPR bedrohe.

In einer Rede Mitte Juli nannte Lawrow den Regime­wechsel erneut als klares Ziel. Moskau sei entschlossen, den Ukrainern zu helfen, «sich von der Last dieses absolut inakzeptablen Regimes zu befreien». Lawrow lieferte auch seine eigene Inter­pretation der Geschichte des Konflikts, in der er im Wesentlichen die Gesamt­schuld auf eine Reihe von Lügen­geschichten der Nato oder der Ukrainerinnen schob, so als hätten diese ihrem eigenen Volk eine Verletzung nach der anderen zugefügt (einschliesslich der Gräuel­taten in Butscha), nur um die unschuldigen Russen schlecht aussehen zu lassen. «Das ukrainische Regime und seine westlichen Unter­stützerinnen sind dazu übergegangen, blutige Zwischen­fälle zu inszenieren, um unser Land in den Augen der internationalen Gemeinschaft zu dämonisieren.»

Damit niemand auf die Idee kommt, dass Russland nachgeben könnte: Auf das Abkommen, das die Ausfuhr von ukrainischem Getreide ermöglichte, folgten umgehend Raketen­angriffe auf die Hafen­stadt Odessa. Diese wurden wie gewohnt als Schläge gegen militärische Ziele gerechtfertigt, obwohl keine solchen getroffen wurden. Schon bei den Getreide­verhandlungen hatte sich angedeutet, wie schwierig es sein würde, ein künftiges Friedens­abkommen zu erzielen (die russische und die ukrainische Delegation unterzeichneten separate Dokumente anstelle eines gemeinsamen). Danach bestätigten diese Angriffe, dass Moskau nicht will, dass irgend­jemand den Vertrags­abschluss als etwas Positives wertet, auf dem die Diplomatie aufbauen könnte.

Zudem ist die russische Bevölkerung weit davon entfernt, zu Kompromissen bereit zu sein, die für erfolgreiche Verhandlungen notwendig wären. Der konstante Strom von Drohungen und Hetz­reden in den russischen Medien hält unvermindert an, darunter abenteuerliche Behauptungen, wonach Russland sich darauf vorbereite, Nato-Staaten direkt anzugreifen. Dmitri Medwedew, ehemaliger russischer Präsident, der Putin den Thron warmhielt, inzwischen aber in der Hackordnung nach unten gerutscht ist und jetzt stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrats ist, galt einst als gemässigt. Jetzt warnt er, dass die Ukraine «den Rest ihrer staatlichen Souveränität verlieren und von der Weltkarte verschwinden könnte».

Was geht hier vor? Die einfachste Erklärung ist, dass die Russen es nicht wagen, Schwäche oder Unsicherheit zu zeigen, dass sie den Schein wahren müssen, alles laufe wie geplant und werde mit einem überwältigenden Sieg enden. Es ist schwer zu sagen, ob sie nur so tun als ob, bis zu dem Moment, in dem sie ihren Kurs ändern müssen.

Verliert sich Putin «im Nebel des Krieges»?

Einschätzungen der gegenwärtigen Stimmung in Moskau zeichnen das Bild eines besorgten Putin, der nur mit den silowiki spricht, die den Sicherheits­apparat leiten und damit beschäftigt sind, jede noch so geringe Opposition zu unterbinden. Derweil schwelen die Rivalitäten innerhalb der Elite. Timothy Snyder hat die interessante Vermutung geäussert, dass Personen wie Lawrow und Medwedew ihre aggressiven Absichten jetzt kundtun, weil sie das Festhalten an der harten Linie als Mittel zur Sicherung ihrer zukünftigen Positionen nutzen wollen. Ihre «Untergangs­propaganda» demonstriert ihre Loyalität zu Putin und dient gleichzeitig als «rhetorische Vorbereitung auf einen Macht­kampf nach Putins Sturz».

Snyder sagt, er sei «nicht überzeugt, dass Medwedew, der jahrelang als liberale Alternative zu Putin galt, die anti­semitischen, anti­polnischen und anti­westlichen Hasstiraden glaubt, die er auf Telegram veröffentlicht. Er verschafft sich ein Profil, das später nützlich sein könnte (so wie ihm einst sein Technokraten­profil nützlich war).» Trotz des Getöses ist die Realität, dass das «Gleichgewicht, das Putin an der Macht hält – Herrschaft über Rivalen, Rückhalt in der Bevölkerung, Integrität der Armee –, durch die Realitäten eines unberechenbaren, kostspieligen Krieges infrage gestellt wird. Putin hat es verstanden, seine Absichten zu vernebeln. Doch nun scheint er sich selbst im Nebel des Krieges verloren zu haben.» Snyder kommt zum Schluss, dass «Putins Wette wie immer darin besteht, dass der Westen den Schmerz schneller spüren wird als er selbst. So funktioniert seine Aussen­politik: Er erzeugt Verluste für alle, auch für Russland, in der Hoffnung, dass die andere Seite zuerst nachgibt.»

Diese Hoffnung scheint tatsächlich der Kern der russischen Strategie zu sein – militärisch durchhalten und gleichzeitig versuchen, die Dinge politisch eskalieren zu lassen. Das wichtigste Druckmittel ist die Energie­abhängigkeit Europas. Vor dem Krieg importierte Europa etwa 40 Prozent seines Gases und 30 Prozent seines Öls aus Russland. Am 26. Juli teilte Gazprom unter dem Vorwand von Wartungs­problemen – anstelle politischer Erpressung – mit, dass die Gaslieferungen durch die Nord-Stream-1-Pipeline nach Deutschland auf ein Fünftel der Kapazität reduziert würden. Dieser zunehmende Druck hat dazu geführt, dass die europäischen Gaspreise heute etwa 450 Prozent höher sind als vor einem Jahr. Darüber hinaus meldete der staatliche ukrainische Pipeline­betreiber, dass Gazprom den Druck in der durch die Ukraine verlaufenden Pipeline stark erhöht hat, wodurch das Risiko von Unfällen einschliesslich eines Bruchs der Pipeline massiv erhöht wurde.

Was das bedeutet, erläuterte Medwedew: Den Staats- und Regierungs­chefs der EU, die Sanktionen gegen Russland verhängt haben, warf er vor, «den Bezug zur Realität völlig verloren» zu haben. Er sagte, dass sie «die unglücklichen Ukrainer zwingen, ihr Leben zu opfern, um der Europäischen Union beizutreten», während sie «gewöhnliche Europäer zwingen, in diesem Winter in ihren Häusern zu frieren» (die russischen Propagandisten können sich nie ganz entscheiden, ob die Ukraine eine Marionette des Westens ist oder ob der Westen von Kiew manipuliert wird).

Ausserdem hätten die EU und die USA «ihre milliarden­schweren Investitionen in die russische Wirtschaft verloren». Trotz der Sanktionen werde «Russland alle seine Ziele erreichen. Es wird Frieden geben – zu unseren Bedingungen.» Während er sich mit bevor­stehenden russischen Siegen brüstete, warnte er die Nato in noch bedrohlicherem Ton und wiederum mit wider­sprüchlichen Botschaften vor der Unter­stützung zukünftiger ukrainischer Offensiven, vor allem vor dem Versuch, die Krim zurück­zuerobern. Dies würde zu einem «Tag des Jüngsten Gerichts» führen, der «sehr schnell und heftig» kommen werde. Sollte die Ukraine Cherson zurück­erobern, hätte sie mehr Möglichkeiten, die Krim zu isolieren. Gelingt ihr diese Operation, wird sie die russische Sieges­geschichte auf eine Art und Weise entkräften, die für das heimische Publikum offenkundig sein wird. Deshalb sah sich Medwedew gezwungen, mit noch schrilleren Drohungen zu reagieren, um jeden Versuch einer Rück­eroberung der Krim zu unterbinden.

Russland setzt darauf, dass die wirtschaftliche Notlage zu politischen Umwälzungen in Europa führt, was die Unter­stützung für die Ukraine schwächen sollte. Dies ist eine Art Härtetest, denn auch Russlands Wirtschaft zeigt Stress­signale. Die Finanzen mögen dank der Energie­verkäufe in guter Verfassung sein, aber es gibt nicht viel zu kaufen, und die Industrie­produktion wird immer weiter herunter­gefahren. Gewiss leidet Europa, aber im Moment hat dies noch nicht zu einem Nachlassen der Unter­stützung für die Ukraine geführt. Als Signal, dass sie gewillt ist, die Krise zu bewältigen, hat sich die EU bereit erklärt, den Erdgas­verbrauch in diesem Winter freiwillig um 15 Prozent zu senken. Wie ein tschechischer Minister es ausdrückte: «Die heutige Entscheidung hat deutlich gezeigt, dass die Mitglieds­staaten jedem russischen Versuch, die EU zu spalten, indem sie Energie­lieferungen als Waffe einsetzen, entschlossen entgegen­treten werden.»

Genau deshalb ist die Schlacht um Cherson so wichtig. Die Ukraine ist bestrebt, ihr Territorium zurück­zuerobern und die Zuversicht ihrer Bevölkerung zu stärken, dass dieser Krieg gewonnen werden kann. Gleichzeitig will sie ihre westlichen Partner ermutigen, an ihrem Engagement festzuhalten.

In diesem Konflikt stellen die nächsten Wochen immer einen kritischen Moment dar, denn jede Phase legt die Bedingungen für die nächste fest. Dies gilt heute mehr denn je. Nach einer Zeit, in der es so aussah, als ob der Konflikt festgefahren sei und sich in einen langen Zermürbungs­kampf zu verwandeln drohte, könnte nun eine dynamische Phase beginnen.

Wenn dies nicht geschieht und sich kaum etwas bewegt, wird das harsche Winter­wetter mit schwierigen Entscheidungen über die Zukunft dieses Krieges einhergehen.

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