Die Rückkehr der Politik

Im Ukraine-Krieg stellt Europa Sicherheit über kurzfristigen Profit. Für Kinder der neoliberalen Ära ist das eine welt­verschiebende Erfahrung – und sie bringt schwierige Fragen.

Ein Essay von Olivia Kühni, 16.03.2022

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Es war an einem Abend letzte Woche, die Kinder schliefen, als ich wegen eines Videos aus der Ukraine nicht aufhören konnte zu weinen. Es zeigte, wie sich Ukrainerinnen vor russische Panzer stellten, Schulter an Schulter, und nichts anderes taten, als nicht zu weichen. Es rührte mich sehr. «Mut ist ansteckend», sagte mein Mann. «Es ist nicht das», sagte ich. «Ich kann nur einfach nicht glauben, dass man sie nicht im Stich gelassen hat.»

Ich war mir sicher gewesen, ohne den Schatten eines Zweifels, dass die europäischen Regierungen bei einer Invasion der Ukraine genau das tun würden: nichts.

Dies schlicht, weil ich noch nie, seit ich denken kann, etwas anderes gesehen hatte. Russland hat Geld, Gas, einen lukrativen Absatz­markt – natürlich würde man nichts tun. Denn ja, selbst­redend war man im vereinigten Europa für «Freiheit», so viel wie möglich – vor allem aber für die Freiheit, sich ohne Einschränkung den besten Deal zu sichern.

Doch diesmal hatte man etwas getan.

Die EU-Staats­chefs und die USA reagierten mit Sanktionen, die Russland ökonomisch tatsächlich massiv schaden, statt nur Tadel zu signalisieren. Mit Verzögerung zog sogar die Schweiz nach. Der deutsche Bundes­kanzler Olaf Scholz verkündete, dass Deutschland die Ukraine mit Waffen ausstatte und die Bundes­wehr mit zusätzlichen 100 Milliarden Euro. Er tat es mit den Worten: «Ja, wir wollen und wir werden unsere Freiheit, unsere Demokratie und unseren Wohlstand sichern.»

Sicherheit? Freiheit, Demokratie und Wohl­stand – wenn auf der anderen Seite der Waag­schale tonnen­weise Dollar, Rubel und Gas­pipelines lagen?

Es war mind-blowing. Und es hatte sich gleichzeitig abgezeichnet.

«Die Stunde der Ökonomen»

Ich wurde in dem Frühling gezeugt, in dem Margaret Thatcher an die Macht kam. Ich ging in die Primar­schule, als sie erklärte, so etwas wie eine Gesellschaft gäbe es nicht – im selben Jahr, in dem Gordon Gekko in «Wall Street» sagte: «Gier ist gut!» Ich war zehn Jahre alt, als die Mauer fiel.

In den folgenden Jahren bis zur Uni lernte ich, dass alle Dinge im Leben Verhandlungs­sache und Lebens­lauf wie Aussehen stets zu optimieren sind. Auch und gerade als Frau: Lean in! Stürz dich in die Karriere – keine Ausreden mehr. Volks­wirtschaften hatten ihr Human­kapital nicht zu verschwenden, sondern effizient zu nutzen, und zwar für Dinge, die sich zählen liessen.

Kurz: Ich bin ein Kind der neoliberalen Ära, wenn man sie denn so taufen will, der «Stunde der Ökonomen», wie sie der Autor Binyamin Appelbaum in seinem gleich­namigen Buch nennt, oder auch: des Zeitalters der unverhohlenen Gering­schätzung politischen Handelns.

Es begann in den frühen 1970ern. Die jungen Ökonominnen, die damals anfingen, den politischen Diskurs zu dominieren – erst in den USA, später überall –, gaben nicht vor, politische Antworten bereitzuhaben, schreibt Appelbaum. «Sie bestanden vielmehr darauf, sie nicht zu haben. Es war ihre tiefe Überzeugung, dass sich Politiker komplett raushalten sollten, statt zu versuchen, irgendwelche guten Entscheide zu fällen.» Die unsichtbare Hand des Marktes, Disruption und Evolution, der natürliche Lauf des Lebens würden, so der magische Glaube, die Dinge von sich aus ins Lot bringen. Und falls nicht: konnte man immer noch weiterschauen.

Es war die radikalste Form politischer Selbst­kastration. Aber auch die philosophisch einfachste Haltung: Im Zweifel tat man – nichts. So vermied man, Falsches zu tun.

Passivität ist eine Haltung, die einen in der Regel teuer zu stehen kommt – auch als Staat. Und es ist wohl kein Zufall, dass man sie genau dann zu hinterfragen begann, als es richtig teuer wurde.

Am heiligen Markt

Über Jahrzehnte verhielten sich die Staaten des vulgär­liberalen westlichen Zeitalters wie Business-Anfänger: Sie zahlten, ohne Fragen zu stellen.

Staaten investierten Milliarden in Rechts­sicherheit, Infrastruktur, Bildung und Technologien – und folgten danach brav der eisernen Doktrin, der Staat habe sich rauszuhalten. Sie gewährten, um nur ein Beispiel zu nennen, der Erdöl­industrie diskret die gewünschte Ruhe, wenn es um Abgaben gegangen wäre – und übernehmen seither diskret die Rechnung für Klima­schäden. Sie subventionierten Agrar­wirtschaft und Lebensmittel­industrie jährlich mit Milliarden – und liessen sich jedes Mal schüchtern des Raumes verweisen, wenn es um Umwelt­vorlagen oder Pestizide ging. Sie boten Unternehmen professionell ausgestattete Stand­orte mit Anschluss an Millionen­märkte – und verzichteten, diesen Zugang über Steuern angemessen zu verrechnen. Und so lief es jahrzehntelang: Sie zahlten und schwiegen – bis es eines Tages richtig teuer wurde.

Ich war noch nicht ganz dreissig, als der Geist Gordon Gekkos das weltweite Banken­system über Nacht an den Rand des Abgrunds brachte. Die Banken hatten in den Jahren ab 2002 rücksichtslos Kredite an Private und Unternehmen vergeben, die sich diese eigentlich nicht hätten leisten können. In den USA stieg die Schulden­masse innert weniger Jahre von 1000 auf fast 2500 Milliarden Dollar, in Europa von 50 auf 200 Milliarden Euro – und als die Gläubiger ihr Geld wollten, krachte das ganze System in sich zusammen.

Es war der Privat­sektor, der sich am heiligen Markt masslos überschuldet hatte. Trotzdem löste man in Teilen Europas die Krise nach dem gewohnten Rezept: Die Politik reichte die Rechnung kühl weiter an die Bürgerinnen – und bescherte so den Steuer­zahlern von Italien bis Irland eine riesige Staats­verschuldung, die Eurokrise und knallharte Sparprogramme.

Es war dasselbe Muster wie seit langem – nur diesmal so drastisch, dreist und teuer, dass man es als Ökonomin nicht länger ignorieren konnte. Die Finanz­krise entwickelte eine dramatische philosophische Wucht – sie war, so stellen Appelbaum und andere Autoren inzwischen fest, wohl der Anfang vom Ende der neoliberalen Ära.

Die Wirtschafts­wissenschaft als Disziplin änderte fast schlagartig ihren Kurs – wenn auch lange von der Öffentlichkeit erstaunlich unbemerkt: Milliarden flossen in damals neu gegründete Forschungs­stätten wie das Institute for New Economic Thinking in Oxford. Themen wie ökonomische Ungleichheit oder System­stabilität stiegen zu den prominentesten Forschungs­feldern überhaupt auf. Die Arbeiten und politischen Perspektiven der Ökonominnen sind vielfältiger denn je zuvor. 2019 ging der Nobel­preis an drei Armuts­forscher, die von jenen mathematischen Schön­rechnungen, die mit zur Krise führten, wenig halten.

Die Politik allerdings brauchte noch eine weitere Krise, um das lange verinnerlichte Dogma der eigenen Bedeutungs­losigkeit abzuschütteln: Sie brauchte eine globale Pandemie.

Politik hat wirklich Macht

Im November 2021 zog der britische «Economist» sein Fazit: «Die Welt tritt ein in eine Epoche des ausgebauten Staates». In den zwei Jahren seit Beginn der Pandemie setzten die Regierungen Hilfs­programme mit insgesamt über 17 Billionen Dollar weltweit ein. Und überall zeichnete sich wegen der Dringlichkeit gleich mehrerer Krisen – Klima, Energie, eine alternde Bevölkerung – ein massiver Ausbau der öffentlichen Investitionen ab. Vor allem aber hatten sich die Politikerinnen auch mental wieder an den lange Zeit undenkbaren Gedanken gewöhnt:

Sie, die Politik, hatte wirklich Macht.

Gut möglich, dass ohne die Pandemie Deutschland und die anderen europäischen Staats­chefs auf den Einmarsch in die Ukraine viel zurück­haltender, viel zu kleinmütig und viel zu spät reagiert hätten.

So aber entschieden sie sich – zum ersten Mal, wie gesagt, seit ich denken kann – dafür, dass sie sich Freiheit etwas kosten lassen würden. Nicht einfach eine Geste. Sondern sehr, sehr viel Geld. «Europas schlafender Riese wacht auf», kommentierte der «Atlantic». Und die Ukrainerinnen stehen deswegen etwas weniger allein vor den Rohren der russischen Panzer.

Die gute Nachricht ist also: Es gibt Hoffnung auch inmitten des Grauens. Die schlechte ist: Es wird alles andere als einfach werden. Weil sie sich wieder Handlungs­macht erlaubt, kann die Politik ihren Job richtig machen – oder auch sehr, sehr falsch.

Wir werden uns in den nächsten Monaten und Jahren entscheiden müssen: Bauen wir jetzt, endlich, die Energie­versorgung radikal und entschlossen um – mit allem, was es uns kosten wird? Wie sorgen wir vor für den Fall der nächsten Pandemie – ein Ereignis, das unter anderem wegen der weltweiten Massen­tierhaltung wahrscheinlich ist? Wie stellt sich die Schweiz neu zu einem Europa, das sich allenfalls endlich entschieden hat, mehr zu sein als nur ein grosser Markt? Wie und wann reformieren wir unsere Sozial­werke und unser Steuer­system so, dass sich Arbeit tatsächlich lohnt, wie es die Gründungs­mythen der antifeudalistischen westlichen Demokratien behaupten? Sind wir bereit, unsere Antworten zu verteidigen, falls es nötig wird – und wie reagieren wir auf jene, die in dieser allfälligen Verteidigungs­bereitschaft keine abgeleitete Notwendigkeit, sondern politischen Haupt­zweck sehen?

Wer glaubt, bei Klima­schutz oder Pandemie­bewältigung gehe es um regenbogen­farbene Wohlfühl­diskussionen, wie vielerorts gerade wieder gerne behauptet wird, der hat die Weltlage nicht im Geringsten verstanden: Es sind absolut existenzielle Fragen – und von höchster ökonomischer und sicherheits­politischer Relevanz.

Seien wir mutig. Denn es stimmt schon: Mut steckt an.

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