Russland ist stolz auf seine Atomsprengköpfe: An der Parade zum Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs am 9. Mai 2022 auf dem Roten Platz wird eine Jars-Interkontinental­rakete mitgeführt. Nanna Heitmann/Magnum

Sprengpotenzial

Putin droht nun offen mit einem Nuklear­schlag. Wie real ist die Gefahr?

Eine Analyse von Lawrence Freedman (Text) und Oliver Fuchs, Daniel Graf, Marie-José Kolly sowie Karen Merkel (Übersetzung), 23.09.2022

Synthetische Stimme
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Oberste Führer erlangen ihre Position und halten sie, indem sie die Ereignisse zu ihrem Vorteil steuern. Daher ist es nur natürlich, anzunehmen, dass sie selbst dann, wenn sie die Kontrolle verloren zu haben scheinen, einen Weg finden werden, sie wieder­zuerlangen. Diese Annahme steht hinter dem allgemeinen Tenor dieser Tage, der selbst von Leuten zu hören ist, die Wladimir Putin sehr gerne scheitern sähen: die Annahme, dass er einen Kontroll­verlust nicht zulassen werde; dass er selbst in diesem fortgeschrittenen Stadium des Krieges irgendein Mittel finden werde, das Blatt zu wenden.

Dieses Mittel muss mehr bewirken, als den bereits verursachten Schmerz und das angerichtete Elend noch zu verstärken, von dem wir bereits wissen, dass er es in Kauf nimmt. Es muss die Nieder­lage Russlands abwenden, und das ist eine ganz andere Sache. Anstatt nur darüber zu spekulieren, was Putin als Nächstes tun könnte, müssen wir uns also auch fragen, was ihm ein nächster Schritt nützen wird.

Russlands Weg nach vorn

Am Freitag, den 16. September, sprach Putin auf einer Presse­konferenz zum Abschluss einer Konferenz in Usbekistan. Diese Konferenz war vor allem ein Indiz für die zunehmende Isolation Russlands, selbst unter Ländern, bei denen man von einer grösseren Nähe hätte ausgehen können. Wegen sichtbarer Anzeichen, dass sich die zentral­asiatischen Staaten weiter von Russland distanzieren, sah Putin sich anzuerkennen gezwungen, dass sowohl der chinesische Präsident Xi Jinping als auch der indische Premier­minister Narendra Modi «Bedenken» hinsichtlich des Krieges hatten.

Putin versuchte darzulegen, wie er den Krieg gewinnen würde. Auf die ukrainische Gegen­offensive angesprochen, sagte er: «Schauen wir doch, was passiert und wie die Sache ausgeht.» Auf die Frage, ob der Kriegs­plan angepasst werden müsse, betonte er statt Russlands Maximal- eher die Minimal­ziele: «Das Haupt­ziel ist die Befreiung der gesamten Donbass-Region.» Dies ist ein engerer Fokus als jener, mit dem er den Krieg begonnen hatte und mit dem er noch vor einigen Wochen spielte.

Zum Autor

Der Brite Lawrence Freedman ist Politik­wissenschaftler und Militär­historiker. Der Beitrag erschien am 20. September unter dem Titel «Going Nuclear» auf dem Kommentar­tool Substack, wo Lawrence mit seinem Sohn Sam regelmässig Texte unter «Comment Is Freed» veröffentlicht. Lawrence Freedman ist der Verfasser mehrerer Bücher, zuletzt «Command. The Politics of Military Operations from Korea to Ukraine», das Anfang September erschienen ist.

Putin gab weiter zu Protokoll, dass die Arbeit, um dieses Ziel zu erreichen, «trotz dieser Gegen­offensiven der ukrainischen Armee» weitergehe: «Der General­stab hält manches für wichtig und manches für zweitrangig, aber die Haupt­aufgabe bleibt unverändert, und sie wird umgesetzt.» Vielleicht geht er davon aus, dass Charkiw im Norden verloren ist und im Süden Cherson bald fallen könnte. Die russische Offensive in Donezk, die trotz der Rückschläge andernorts nach wie vor im Gange ist, ist ganz sicher von den aktuellen Entwicklungen beeinflusst.

Während der Westen fürchtet, Russland könnte als Reaktion auf die ukrainischen Gelände­gewinne auf Eskalation setzen, behauptete Putin das Gegenteil. Er sprach von (ukrainischen) «Versuchen, Terror­anschläge zu verüben und unsere zivile Infra­struktur zu beschädigen». Dabei bezog er sich vermutlich auf gelegentliche ukrainische Angriffe auf das Territorium der benachbarten russischen Oblast Belgorod und der annektierten Krim.

«Terror­anschläge sind eine ernste Angelegenheit», fügte er hinzu. «Tatsächlich geht es hier um den Einsatz terroristischer Methoden. Wir sehen diese am Werk bei der Ermordung von Beamten in den befreiten Gebieten, wir sehen sogar Versuche, Terror­anschläge in der Russischen Föderation zu verüben, einschliesslich von – ich bin mir nicht sicher, ob dies öffentlich gemacht wurde – Versuchen, Terror­anschläge in der Nähe unserer nuklearen Anlagen und Kern­kraftwerke in der Russischen Föderation durchzuführen. Ich spreche hier nicht einmal vom Kern­kraftwerk Saporischschja. Wir beobachten die Situation sehr genau und werden unser Bestes tun, um zu verhindern, dass sich ein Negativ­szenario entfaltet. Wir werden eine Reaktion folgen lassen, wenn sie nicht erkennen, dass ihr Vorgehen inakzeptabel ist. Dieses unterscheidet sich tatsächlich in keiner Weise von Terror­anschlägen.»

Etwas bizarr für das Oberhaupt eines Landes, das die Menschen in den besetzten Gebieten systematisch terrorisiert und regelmässig Raketen auf die zivile Infra­struktur der Ukraine abschiesst, bestand Putin auf der Behauptung, Russland habe «eher zurück­haltend reagiert, aber das ist nur für den Moment». Er stellte fest, es seien «ein paar empfindliche Schläge» gegen die Ukraine geführt worden, und fügte hinzu: «Nun, was hat es damit auf sich? Gehen wir davon aus, dass es sich um Warnschläge handelt. Wenn sich die Situation weiter so entwickelt wie zuletzt, wird die Antwort ernster ausfallen.» Dies war offenbar eine Anspielung auf die Angriffe, die auf die erfolgreiche Offensive der Ukraine in Charkiw folgten – und die zu weitreichenden Strom­ausfällen sowie zur Beschädigung eines Stau­damms in der südlichen Stadt Krywyi Rih führten.

Der Hinweis, dass noch weitere Angriffe folgen würden, sollte wohl die Ängste wachhalten, dass irgendwann entlang dieser Linie Atom­waffen eingesetzt werden könnten. Dies sagte er dann allerdings nicht ausdrücklich, und Russland verfügt immer noch über Mittel, um auch ohne den Einsatz dieser Waffen derartigen Schaden anzurichten.

Atomwaffen­einsatz

Die Frage nach einem Atomschlag kommt jetzt jedenfalls regelmässig auf. Sie ist derzeit wohl der Haupt­anlass für Spekulationen, auch in Kiew und Washington, wo Beamte und Kommenta­torinnen fragen, was Putin als Nächstes tun könnte. Rose Gotte­moeller, eine ehemals hochrangige US-Atom­politikerin und bis 2019 stellvertretende Nato-General­sekretärin, äusserte gegenüber der BBC ihre Befürchtung, dass «Putin und sein Clan (...) jetzt auf eine wirklich unvorhersehbare Weise zurück­schlagen werden, was sogar Massen­vernichtungs­waffen einschliessen könnte». Sie rechnete weniger mit einem Einsatz von Interkontinental­raketen, aber möglicher­weise einer anderen Form des nuklearen Säbel­rasselns: «ein Einzelschlag über dem Schwarzen Meer oder vielleicht ein Angriff auf eine ukrainische Militär­einrichtung», um «nicht nur in den Herzen der Ukrainer» und ihrer Verbündeten «Angst und Schrecken» zu verbreiten.

Dieses Szenario sollte als Möglichkeit nicht leichtfertig abgetan werden. Russland verfügt über einen grossen Vorrat an Atom­waffen in verschiedenen Formen und Grössen, und Putin könnte verzweifelt genug sein, sie einzusetzen. Da er bereits einige echte Dummheiten begangen hat: Wer kann mit Sicherheit sagen, dass er nicht noch Dümmeres tun wird?

Das mögliche Szenario muss in Betracht gezogen werden, was an sich schon beunruhigend genug ist. Aber es reicht nicht aus, die Frage, ob er womöglich einen Nuklear­schlag befehlen wird, mit Verweisen auf seinen Geistes­zustand zu beantworten – oder mit der Annahme, dass er, weil er eine Demütigung erfährt, vielleicht mit einem Wut­anfall reagiert, der allen Wut­anfällen ein Ende bereitet. Wir müssen vielmehr darüber nachdenken, welche militärischen und/oder politischen Probleme Putin mit einem solchen Mittel lösen könnte.

Matthew Kroenig warnt in einem Text für den Atlantic Council, ein russischer Atom­schlag könnte «eine humanitäre Katastrophe auslösen, dem ukrainischen Militär einen lähmenden Schlag versetzen, das westliche Bündnis spalten und Kiew zwingen, um Frieden zu bitten». Aber würde er das?

Am Mittwoch machten Putin und sein Verteidigungs­minister Schoigu die Drohung schliesslich so explizit wie noch nie davor. «Sollte die territoriale Integrität unseres Landes bedroht werden, dann werden wir mit Sicherheit alle uns zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um Russland und unser Volk zu schützen.» Und weiter: «All jene, die versuchen, uns mit dem Einsatz nuklearer Waffen zu erpressen, sollten wissen, dass die Windrose auch in ihre Richtung drehen kann.»

Ein solches Vorgehen würde ein Tabu um den Einsatz von Atom­waffen brechen, entstanden, nachdem sie nur einmal – in zwei Einsätzen im August 1945 – im Krieg eingesetzt worden waren. Ein Tabu, das Putin selbst im Juni 2021 zusammen mit Biden bekräftigte, als die beiden Präsidenten eine Losung ihrer Vorgänger wiederholten. 1985 sagten Gorbatschow und Reagan: «Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf niemals geführt werden.»

Es wäre auch eine extreme Version jenes Verhaltens, das Putins Streit­kräfte in der Ukraine bereits an den Tag gelegt haben. Russland mangelt es nicht an Möglichkeiten, anderen Schmerz und Leid zuzufügen – und es hat keinerlei Zurück­haltung gezeigt, dies zu tun. Auf ukrainische Städte hat es russische Granaten, Raketen und Flug­körper geregnet, die sich gegen Wohnhäuser, Fabriken, Verkehrs­knoten­punkte, Kraftwerke und vieles mehr richteten. Am vergangenen Wochenende wurde das Kern­kraftwerk Piwdennoukrainsk in der Oblast Mykolajiw getroffen. Glücklicherweise wurde der Reaktor nicht getroffen, obwohl es nur 300 Meter davon entfernt zu Explosionen kam.

Im russischen Feldzug werden die Grenzen der Gewalt mit beunruhigender Regel­mässigkeit überschritten. Zu den Angriffen aus der Ferne kommen jene intimeren Verbrechen, die nach dem Rückzug der Besatzungs­truppen aufgedeckt wurden: Folterungen, Morde, Vergewaltigungen, Entführungen und Plünderungen. Wenn diese Verbrechen einen strategischen Zweck verfolgen und nicht nur willkürliche Akte der Grausamkeit und Böswilligkeit sind (einige davon fallen eindeutig in letztere Kategorie), dann würde man dahinter die Absicht vermuten, die Ukrainer so zu Zugeständnissen zu bewegen. In der Praxis hat Russland damit das Gegenteil erreicht. Es hat die Entschlossenheit der Ukrainerinnen noch verstärkt, die Russen aus dem Land zu vertreiben.

Trotz allem, was sie durchgemacht haben, zeigen die Ukrainer ein ausser­gewöhnliches Mass an Widerstands­fähigkeit, von Einigkeit und Entschlossenheit. Wenn jemand sie danach fragt, dann erklärt die ukrainische Regierung, dass selbst der Einsatz von Atom­waffen die Entschlossenheit weiter stärken würde.

Ausgesprochen wichtig ist es, festzuhalten, dass der Verzicht auf den Einsatz von Atomwaffen nicht bedeutet, dass diese keinen Einfluss auf den bisherigen Verlauf dieses Konflikts gehabt hätten. Sie haben eine wichtige abschreckende Rolle gespielt. Kurz vor Beginn der Invasion nahm Putin an einer jährlichen Militär­übung teil, in die auch russische Atom­sprengkopf-Raketen eingebunden waren. In seiner Ankündigung der «Spezial­operation» am 24. Februar erklärte Putin, dass «alle, die uns zu behindern versuchen», mit Konsequenzen rechnen müssten, «die sie in ihrer Geschichte noch nie erlebt haben».

Drei Tage später wies er seinen Verteidigungs­minister Schoigu und den Generalstabs­chef Gerassimow öffentlich an, «die Abschreckungs­kräfte der Armee in einen besonderen Modus der Einsatz­bereitschaft zu versetzen». In der Praxis bedeutete das nicht viel: Es ging ihm darum, die nukleare Abschreckung zu unterstreichen.

Die Drohung richtete sich gegen alle Überlegungen in den Nato-Ländern, zur Unterstützung der Ukraine direkt einzugreifen. Drohungen dieser Art wurden bereits 2014 ausgesprochen, nach der russischen Annexion der Krim. Damals erklärte Putin, dass andere Länder «verstehen sollten, dass sie sich am besten nicht mit uns anlegen sollten», und er fügte unnötiger­weise an, dass «Russland eine der führenden Atom­mächte ist».

Damals wie heute verbreiteten russische Medien regelmässig reisserische Beschreibungen all der schrecklichen Dinge, die Russland allen Ländern antun würde, sollten diese sich direkt einmischen. Unerwähnt blieb und bleibt, was diese Länder dann im Gegenzug tun könnten. All das zielt darauf ab, Russland als ein Land mit unbegrenzter Macht darzustellen, mit dem Willen, diese auszuüben – und mit wenig Sinn für Proportionen. Als ob jede noch so kleine Provokation dazu führen könnte, dass Terror auf die Übeltäter regnen würde.

Diese Drohungen waren darauf ausgerichtet, Putins initiale Botschaft zu verstärken. Man nehme zum Beispiel Andrei Guruljow, General­leutnant, Mitglied des russischen Parlaments und 2014 und 2015 direkt beteiligt an den russischen Aktionen im Donbass. Er ist unterdessen regelmässig präsent in den Medien, verfügt über einen gewissen Charme. Die ukrainischen Behörden haben ein abgefangenes Gespräch von Guruljow publik gemacht, datiert auf den 28. Februar 2022, also kurz nach Beginn der Invasion. Darin gab er den Befehl, die Häuser von Ukrainern in Brand zu stecken. Er wies eine der einrückenden Einheiten an: «Verbrennt sie, verdammt noch mal, verbrennt sie! Sobald ihr sie rausgeworfen habt, vernichtet das Haus, brennt es nieder! Spuckt auf diesen verfickten Humanismus!»

Guruljow ist auch fixiert darauf, Gross­britannien zu vernichten. Als er im August im staatlichen Fernsehen gefragt wurde, ob Gross­britannien sich auf einen Krieg mit Russland vorbereite, antwortete er, dass dieser bereits Tatsache sei. Russland kämpfe in der Ukraine sowohl gegen Gross­britannien als auch gegen die USA. «Machen wir es uns ganz einfach. Zwei Schiffe, 50 Abschüsse von Zirkon[-Raketen] – und es gibt kein einziges Kraftwerk mehr im Vereinigten Königreich. 50 weitere Zirkons – und die gesamte Hafen­infra­struktur ist weg. Noch eine [Salve] – und wir können die britischen Inseln vergessen. Ein Drittweltland, zerstört und zerfallen, weil sich Schottland und Wales abwenden würden. Es wäre das Ende der britischen Krone. Und davor haben sie Angst.»

Kürzlich stellte Guruljow fest, dass Biden Russland vor dem Einsatz von Atom­waffen in der Ukraine gewarnt hatte. Und meinte dann, dass «wir diese vielleicht einsetzen, aber nicht in der Ukraine». Als Optionen nannte er insbesondere Nuklear­schläge gegen politische Knoten­punkte in Berlin – und drohte Deutschland mit dem totalen Chaos (zusammen mit seinem alten Refrain, die Britischen Inseln innerhalb von drei Minuten in eine «Mars-Wüste» zu verwandeln). Dann schob er seltsamer­weise nach, dass dies mit «taktischen Atom­waffen, nicht mit strategischen» geschehen könne und dass die USA darauf nicht reagieren würden. All diese Drohungen verband er damit, dass man eine direkte Beteiligung der Nato in der Ukraine verhindern müsse. «Wir sollten davor nicht zurück­schrecken und uns davor fürchten. (...) Sie sollten ihren Schwanz einziehen und weiterquasseln.»

Ignoriert man diese absurde Rhetorik und Prahlerei, dann wird deutlich, dass der russische Fokus weiterhin darauf liegt, die Nato-Länder abzuschrecken. Dazu gehört auch, sie davon abzuhalten, der Ukraine jenes Kriegs­material zu liefern, welches Luft­schläge tief in russischem Territorium ermöglicht.

Ein weiteres Beispiel aus jüngster Zeit: Die russische Fernseh­moderatorin Olga Skabejewa (die den Russland-Ukraine-Konflikt regelmässig als Dritten Welt­krieg bezeichnet) sprach konkrete Drohungen aus, sollten die USA der Ukraine Langstrecken­raketen mit einer Reich­weite von 300 Kilometern liefern: «Russland hat jedes Recht, sich zu verteidigen. Das bedeutet, möglicher­weise Polen oder den amerikanischen Stütz­punkt Ramstein in Deutschland anzugreifen, zum Beispiel.» In Moskau wird derzeit behauptet, dass Russland jetzt nicht wegen der Anstrengungen der Ukraine in Schwierigkeiten stecke, sondern weil diese auf die besten aller westlichen Waffen­systeme zurückgreifen könne.

Immer wieder lautet der Refrain in Russland: Wir sind im Krieg mit der Nato.

Die Nato hat diese Droh­kulisse nicht ignoriert. Von Anfang an stand fest, dass es kein direktes Eingreifen der Mitglieds­staaten geben würde. Das war auch der Grund dafür, dass sie die Bitten Kiews um eine Flugverbots­zone, die die russische Flotte vom ukrainischen Himmel fernhielte, abgeschlagen hat. Präsident Biden hat deutlich gemacht, dass er Putin keinen Vorwand für eine Eskalation liefern will. Einer der Gründe, weshalb er zögert, den Einsatz von ATACMS zu autorisieren, den erwähnten ballistischen Kurzstrecken­raketen. Ein weiterer Grund ist, dass das Pentagon nicht davon überzeugt ist, dass dies auf die militärischen Erfolge der Ukraine grosse Auswirkungen haben würde.

In der Praxis bedeutete das nicht viel: Putin hat Verteidigungsminister Sergei Schoigu angewiesen «die Abschreckungs­kräfte der Armee in einen besonderen Modus der Einsatz­bereitschaft zu versetzen». Kremlin Pool Photo/Sputnik/AP/Keystone

Die Amerikaner haben andererseits auch versucht, die Russen vor Risiken zu warnen, die mit einer nuklearen Eskalation verbunden wären. In einem Interview mit dem Fernseh­sender CBS erklärte der amerikanische Präsident, dass der Einsatz von Atom­waffen oder anderen unkonventionellen Waffen «das Gesicht des Krieges verändern würde, wie es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr der Fall war. (...) Sie [die Russen] würden in der Welt stärker zum Paria werden, als sie es jemals waren.» Er fügte hinzu: «Das Ausmass dessen, was sie tun, wird darüber entscheiden, welche Reaktion folgen wird.»

In eine Ecke gedrängt

Auch wenn sich die nuklearen Drohungen eher an Nato-Länder als an die Ukraine richten, so ist doch die Ukraine der Grund, warum Russland in Schwierigkeiten steckt. Und die Ukraine ist auch jener Gegner, dem nun das beunruhigendste Szenario droht. Der amerikanische stellvertretende Staats­sekretär für Verteidigungs­politik, Colin H. Kahl, sagte gegenüber der «New York Times»: «Durch den Erfolg der Ukraine auf dem Schlacht­feld könnte sich Russland in die Ecke gedrängt fühlen, und das müssen wir bedenken.» Der stellvertretende Direktor der CIA, David S. Cohen, bekräftigte dies und mahnte, man solle «Putins Festhalten an seinem ursprünglichen Ziel, die Ukraine zu kontrollieren, nicht unterschätzen». Ebenso wenig wie «seine Risiko­bereitschaft».

Russland wurde aber nicht wirklich in eine Ecke gedrängt. Im Moment gibt es keine existenzielle Bedrohung für den russischen Staat, auch wenn sich eine solche für Putins persönliche Position entwickeln könnte. Der Weg, um sich aus jeder möglichen Sackgasse zu manövrieren, läge darin, die Grenze zurück nach Hause zu überqueren. Wenn Putin eskalieren will, hat er andere Möglichkeiten als Nuklear­waffen.

Um noch einmal die «New York Times» zu zitieren: «Mehr wahllose Bombardierungen ukrainischer Städte, eine Kampagne zur Ermordung hochrangiger ukrainischer Führungs­personen oder ein Angriff auf Versorgungs­hubs ausserhalb der Ukraine – also in Nato-Ländern wie Polen und Rumänien –, welche enorme Mengen an Waffen, Munition und militärischer Ausrüstung ins Land bringen.»

Angriffe könnten sich auch vermehrt auf kritische Infra­struktur oder ukrainische Regierungs­gebäude richten.

All diese Dinge hat er entweder bis zu einem gewissen Grad bereits getan, sie versucht und verbockt, oder er hat sie gar nicht erst versucht, weil sie zu schwierig sind. Hätte es etwa die Option gegeben, den Waffen­nachschub zu unterbrechen, der von den westlichen Grenzen her in die Ukraine kommt, so wäre es sinnlos gewesen, zuzuwarten – Russland vermochte es offenbar schlicht nicht. Ein Angriff auf Polen oder Rumänien würde den Artikel V der Nato aktivieren, und das ist der russischen Führung bewusst, denn sie beruft sich häufig darauf. So funktioniert die nukleare Abschreckung also auch in die andere Richtung und hält den Konflikt in Grenzen.

Wenn es also zu gefährlich ist, einen direkten Krieg mit der Nato zu beginnen, und der Wert der Abschreckung darin liegt, die Unterstützung einzuschränken, die die Ukraine anders­woher bekommt, wie ist es dann mit dem Einsatz von Atom­waffen gegen ukrainische Ziele?

Einige erwarten, dass die russischen Streit­kräfte bis zum Winter durchhalten könnten, um das Gefühl der Patt­situation und von gegenseitiger Zermürbung wieder­herzustellen, das letzten Sommer während der Schlacht um Luhansk spürbar war. Andere gehen davon aus, dass sich ihre russische Armee in einem chaotischen Zustand befindet, unfähig, die Situation wieder in den Griff zu bekommen. Sollten die Ukrainer gegen die russischen Stellungen im Donbass vorrücken oder die vielen russischen Truppen, die Cherson am Boden verteidigen, einkesseln und von ihrer Versorgung abschneiden, steht Putin vor einem Desaster. Angesichts dessen – würde der Einsatz von Atomwaffen überhaupt noch von Wert sein?

Zwei Ansätze sind denkbar: erstens, so die Kämpfe am Boden zu beeinflussen. Zweitens, damit zu drohen, den Einsatz in schwindel­erregende Höhen zu treiben – Angriffe auf Städte inbegriffen –, um so die Ukrainerinnen zum Aufgeben zu bewegen. Die zweite Herangehens­weise ist bis zu einem gewissen Grad in der ersten enthalten, denn ist die Limite eines Nuklear­schlags einmal überschritten, dann liegt die Schwelle für weitere Eskalationen niedriger.

Wie könnte das vor sich gehen? Die Möglichkeiten beginnen bei einem einzelnen Angriff zu Demonstrations­zwecken, vielleicht gegen einen bedeutenden, aber derzeit unbewohnten Ort (etwa die Schlangen­insel). So würde deutlich gemacht, dass ein Prozess in Gang gesetzt wurde, dessen Ende nicht vorhersehbar ist. Von mittlerer Schwere wäre ein Einsatz von Nuklear­waffen auf dem Schlacht­feld. Und am anderen Ende des Spektrums liegen direkte Angriffe gegen Kiew.

Das Problem bei einem Angriff zu Demonstrations­zwecken liegt darin, dass die Botschaft unklar sein könnte. Ein Einzel­schlag würde zeigen, dass Russland bereit ist, das strenge normative Verbot zu ignorieren, Nuklear­waffen überhaupt zu verwenden. Dass es aber dennoch vorsichtig bleibt dabei, die maximale Feuer­kraft einzusetzen.

Eine ähnliche Herangehens­weise wurde erörtert, bevor 1945 die Entscheidung fiel, Hiroshima zu bombardieren. Damals bestand eine Sorge darin, dass die USA damit zwar zeigen könnten, dass sie über eine neue Waffe von noch nie da gewesener Stärke verfügten, und dies täten, ohne eine grosse Zahl Menschen zu töten. Dass aber, wenn die Japaner die zerstörerische Wirkung nicht direkt sehen könnten, dies keinen Eindruck auf die japanische Führung machen würde.

Eine weitere Frage lautete, ob die Bombe funktionieren würde. Es wäre peinlich gewesen, die Japaner zum Zuschauen zu bewegen und das Spektakel stellte sich als Blind­gänger heraus. Möglich, dass dies bei den russischen Überlegungen eine nicht unbedeutende Rolle spielt: Während Raketen regelmässig getestet werden, ist dies bei ihren nuklearen Spreng­köpfen nicht der Fall. Der letzte derartige Test fand in der Sowjet­union in der Anfangszeit des Kalten Krieges statt. Wie wir bei anderen Waffen gesehen haben, die aus Lagern aufgekauft wurden, sind diese nicht immer gut gewartet und funktionieren nicht wie angekündigt.

Eine weitere Entscheidung, die 1945 getroffen wurde: Man beschloss, die Japaner nicht im Voraus zu warnen. Da es sich um ein einzelnes Flugzeug handelte, wollte man nicht, dass die Japaner Anstrengungen unternahmen, es abzuschiessen. Es war dann so, dass die Luftangriffs­sirenen über Hiroshima zwar ertönten, sie aber ausgeschaltet wurden, weil keine grosse Angriffs­truppe zu sehen war. Darum hielten sich viele Menschen im Freien auf, als die Atom­bombe explodierte.

Vermutlich würden auch die Russen den Schock­moment eines Angriffs verstärken und das Risiko verringern, dass er von der Luft­abwehr abgefangen wird, indem sie ihn überraschend ausführten. Dies würde bedeuten, dass jeder Schaden erst nach dem Angriff festgestellt werden könnte, gleichsam als Warnung vor allem, was noch kommen könnte.

Was für eine Art von Angriff? Man geht davon aus, aber wer kann das schon wissen, dass ein Atomschlag mit einer militärischen Attacke kombiniert würde. Darum liegt der Fokus auf den schwächeren «Gefechts»-Waffen mit geringer Reich­weite, die manchmal fälschlicher­weise als «taktisch» bezeichnet werden (jede nukleare Verwendung hat strategische Auswirkungen). An dieser Stelle wird die Analyse schwierig.

Die russischen Streit­kräfte haben lange und intensiv über ihre Nuklear­strategie nachgedacht. Eine detaillierte und scharfsinnige Analyse von Michael Kofman und Anya Loukianova Fink zeigt, dass die russischen Militärs zumindest in der Theorie nicht glauben, dass ein begrenzter Nuklear­einsatz zwangsläufig zu einer unkontrollierten Eskalation führt.

Die potenziellen Ziele für begrenzte Nuklear­schläge sind diejenigen, die bereits für konventionelle Angriffe identifiziert wurden – eher kritische Infra­strukturen als Städte. Wie weit man gehen würde, sobald die erste Schwelle überschritten wäre, hinge von der Reaktion des Gegners ab.

Das russische Denken ist in dieser Frage jedoch auf Grossmacht­konflikte ausgerichtet und nicht auf den Versuch, einen vermeintlich schwächeren und kleineren Nachbarn zu vernichten. Über diese Art der Eskalation hat Putin ja auf seiner Presse­konferenz in Usbekistan gesprochen. Hier braucht es keine Atom­waffen, um die gewünschte Wirkung zu erzielen.

Bleibt die Frage, ob derartige Waffen eingesetzt werden könnten, um die laufenden Kämpfe am Boden in der Ukraine zu beeinflussen. Hier ist wichtig, auf die Probleme hinzuweisen, die mit jedem Versuch verbunden sind, Nuklear­waffen wie normale Kriegs­waffen einzusetzen. Sie können verstanden werden als eine einzigartig leistungs­fähige Version konventioneller Munition – Bomben, Wasser­bomben, Granaten und Minen, verstärkt um das Element der Strahlung. Sie würden dann wohl am besten gegen grosse Ziele eingesetzt, zum Beispiel gegen eine Ansammlung von Truppen, die sich auf eine Offensive vorbereiten. Die Alternative wäre eine starke Verteidigungs­stellung. Im Idealfall wäre das Ziel in einiger Entfernung von den russischen Truppen gelegen. (Die Amerikaner haben bekanntlich eine Nuklear­kanone entwickelt – die «Davy Crockett» –, deren tödlicher Radius grösser war als ihre Reichweite.)

Angesichts der Art der Kämpfe in der Ukraine wäre dies alles andere als unkompliziert. Dort werden kaum grosse Truppen­formationen zur Verteidigung oder zum Angriff eingesetzt. Die Einheiten sind eher verstreut. Nehmen wir einen Bericht (aus einer russischen Quelle) über die Offensive in Cherson. Darin heisst es, dass die Ukrainer ihre Wirkung dadurch erzielten, dass sie die russischen Nachschub­linien durcheinander­brachten. Sie rückten dafür in kleinen Infanterie­gruppen vor und nicht mit Panzer­vorstössen (im Gegensatz zu Charkiw). Vielmehr kämpften sich die Trupps «kriechend» über feuchtes Gelände voran, denn das Gebiet ist von Bewässerungs­kanälen durchzogen. Unter diesen Umständen ein brauchbares Ziel für einen Nuklear­schlag zu finden, wäre schwierig und angesichts der geringen Erfolgs­aussichten ein seltsamer Weg, einen Atomkrieg zu beginnen. Moskau kümmert die Bevölkerung von Luhansk und Donezk nicht gross, aber da ihre Befreiung angeblich im Mittel­punkt der russischen Kriegs­ziele steht, wäre es auch seltsam, dies mit nuklearen Explosionen zu unterstreichen.

Fazit

Im Moment gibt es keine Anzeichen dafür, dass Atom­waffen in Stellung gebracht oder nukleare Angriffe vorbereitet werden. Es ist davon auszugehen, dass die US-Geheim­dienste, die bisher ausser­ordentlich präzise gearbeitet haben, weiterhin alle Einzelheiten aufdecken (zumindest müssten die Russen damit rechnen).

Es wurden keine Anstrengungen unternommen, der russischen Öffentlichkeit zu erklären, warum Atom­schläge notwendig sein könnten. Putin beharrt nach wie vor darauf, dass es sich um eine «begrenzte Militär­operation» handelt, und hat abgelehnt, das Land in einen Krieg zu versetzen.

Wie wir wissen, sprechen russische Persönlichkeiten unverblümt über Szenarien für einen nuklearen Einsatz gegen Nato-Länder, nicht aber gegen die Ukraine. Wir können auch davon ausgehen, dass keiner von Putins jüngsten Gesprächs­partnern – Xi und Modi – davon begeistert wäre. Es handelt sich um ein Szenario, das weitgehend im Westen entwickelt wurde, um Eventualitäten vorweg­zunehmen, die noch nicht eingetreten sind.

Es stimmt, dass der mögliche Einsatz von Atom­waffen in der Ukraine und der Nato Panik auslösen kann. Es ist ebenso schwer vorstellbar, dass diese Nachricht in Russland mit Gelassenheit aufgenommen würde.

Sie könnte den Widerstand in Moskau gegen Putin verstärken. Er bräuchte natürlich eine gefügige Befehls­kette, um den Befehl zum Einsatz von Atom­waffen umzusetzen, insbesondere als Teil einer komplexen Militär­operation am Boden. Wenn der Wind radioaktiven Staub in Grenz­nähe aufwirbelt, könnte er auf russisches Gebiet fallen.

Selbst wenn der Atomwaffen­einsatz einen fundamentalen Unter­schied im Kriegs­verlauf ergeben würde, bliebe das grundsätzliche politische Problem bestehen: Wie soll eine feindliche Bevölkerung mit einer dezimierten Armee befriedet werden?

Nukleare Drohungen dagegen erfüllen für Putin einen wichtigen Zweck, indem sie ein konkretes Engagement der Nato verhindern. Auch wenn er Atom­waffen in begrenztem Umfang und möglicher­weise sogar vergeblich einsetzen würde, die Schwelle wäre dennoch überschritten. Die Nato könnte mit allen Mitteln reagieren, eben sehr wohl auch gerade mit all jenem, das Putin zu verhindern versuchte. Dies würde auch mögliche Schritte der Ukraine gegen Belgorod und die Krim betreffen.

Es gibt eine Einschränkung in dieser Analyse, und diese betrifft die Krim. Dieses Gebiet wurde der Ukraine 2014 entzogen, und die Ukraine will es zurück. Militärisch wäre dies eine noch grössere Heraus­forderung als die anderen Befreiungs­ziele, die die Ukraine erreichen will.

Es gibt Möglichkeiten, die russische Herrschaft über die Krim ohne einen militärischen Angriff zu erschweren, und Selenski hat dieses Problem als eines bezeichnet, das eine diplomatische Lösung erfordern könnte. Auch wenn seine Truppen weitermachen würden, sollte Russland kein Interesse an einer Verhandlungs­lösung zeigen.

Anstatt sich über mögliche künftige Verrücktheiten aufzuregen, mag es sinnvoller sein, sich auf den Moment vorzubereiten, in dem Putin merkt, dass er verloren hat, und Anstalten machen könnte, die Krim trotzdem zu behalten. Zu diesem Zeitpunkt müssten alle Fragen geklärt werden, die beantwortet werden müssen, um diesen Krieg zu beenden – Sanktionen, Reparationen, Kriegs­verbrechen, Gefangenen­austausch und Sicherheits­garantien.

Wir mögen uns schwer vorstellen können, dass Putin verlieren kann. Und wir mögen uns fragen, wie er mit seinem gescheiterten Angriff umgehen wird. Aber es ist sehr gut möglich, dass ihm irgendwann die Optionen ausgehen und er dem Scheitern ins Auge sehen muss.

In einer früheren Version hiess es, im August 1945 seien Atomwaffen «aus Zorn» eingesetzt worden. Die korrekte Übersetzung von in anger lautet, nach Rücksprache mit dem Autor, «im Krieg». Wir haben die Stelle angepasst und bedanken uns für die Hinweise im Dialog.

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