Zerstörung: In der ukrainischen Stadt Irpin, nahe der Hauptstadt Kiew gelegen (7. April 2022). Paolo Pellegrin/Magnum Photos/Keystone

Wie lange dauert dieser Krieg noch?

Endet das Töten erst, wenn die Krim wieder ukrainisch ist? Oder erhalten die Russen den Donbass am Verhandlungs­tisch? Eine Auslegeordnung der möglichen Exit-Strategien.

Von Lawrence Freedman (Text) und Andreas Bredenfeld (Übersetzung), 08.06.2022

Synthetische Stimme
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Keine Frage wird mir so oft gestellt wie diese: «Wie lange wird dieser Krieg dauern?» Ich höre sie noch häufiger als die Frage: «Wer wird gewinnen?» In der Praxis sind beide Fragen nicht voneinander zu trennen. Beide stellen sich umso dringlicher, seit die Ukraine einräumt, dass sie sich im Donbass heftiger Angriffe zu erwehren hat. Das ist angesichts des Aufwands, den Russland in diese Kriegsphase investiert, zwar nicht überraschend. Aber es dämpft die aufgekommene Erwartung, Russland würde einen Rückschlag nach dem anderen erleiden und früher oder später – möglicherweise sogar recht bald – ganz aus der Ukraine hinaus­gedrängt.

Dies zeigt einmal mehr: Die Kriegs­analysten laufen stets Gefahr, dem Geschehen vor Ort zu weit vorauszueilen und aus der aktuellen Gefechtslage allzu weitreichende Schlüsse zu ziehen. Damit greifen sie dem Ausgang von Schlachten vor, die noch gar nicht geschlagen sind. Und sie leiten daraus Empfehlungen ab, wie auf Szenarien reagiert werden sollte, von denen keineswegs feststeht, ob sie überhaupt eintreten.

Zum Autor

Der Brite Lawrence Freedman ist Politik­wissenschaftler und Militär­historiker. Der Beitrag erschien am 27. Mai unter dem Titel «How Long Will the War Last?» zuerst auf dem Kommentar­tool Substack, wo Lawrence mit seinem Sohn Sam regelmässig Texte unter «Comment is Freed» veröffentlicht. Lawrence Freedman ist der Verfasser einiger Bücher, zuletzt erschien «The Future of War. A History».

Ein Beispiel: In der optimistischen Erwartung baldiger ukrainischer Siege beruhigten sich viele mit dem Gedanken, die zahlreichen von der Ukraine gebrachten Opfer seien nicht vergebens gewesen und Russland werde schon bald die gerechte Strafe für seinen ungerecht­fertigten Angriff erhalten.

Dieser Optimismus hat allerdings auch eine sonderbar bange Frage aufgeworfen: Welche Gefahren drohen eigentlich, wenn die Ukraine allzu deutlich gewinnt? In diesem Fall, so die Befürchtung, könnte Putin sich in die Ecke gedrängt fühlen und noch rücksichts­loser agieren als bisher oder gar zu Atom­waffen greifen, um das eigene Regime zu retten und sein Gesicht zu wahren.

Dieses höchst spekulative Szenario basiert auf einer Reihe von Annahmen darüber, wie sich das Kriegs­geschehen entwickeln und welche Auswirkungen dies auf Putins Gemütslage haben wird. Mit diesem Szenario vor Augen fordern manche Beobachterinnen, die Ukraine solle mit weitreichenden territorialen Zugeständnissen beruhigend auf den russischen Präsidenten einwirken – im Sinne einer Art Präventions­therapie.

Manche kommen auf anderem Wege zu demselben Fazit: Sie trauen der Ukraine nicht zu, dass es ihr gelingt, die Russen zurück­zudrängen, weil deren Feuerkraft übermächtig sei. Deshalb meinen sie, die Ukraine solle es als Erfolg für sich verbuchen, dass sie Russland daran gehindert hat, das ganze Land zu erobern, und sich im Gegenzug mit der Abtretung des Donbass abfinden. Dann könnten alle Beteiligten einen Schluss­strich unter diese hässliche Angelegenheit ziehen; das Leiden würde ebenso ein Ende haben wie die massive Störung der inter­nationalen Ordnung.

Wie auch immer man zu diesem Fazit gelangt: Es läuft auf die Forderung hinaus, die Ukrainerinnen sollten froh sein, dass Russland sein zu Kriegs­beginn gestecktes Ziel – die Unter­jochung der Ukraine – nicht erreicht hat und nach Kriegsende viele Wunden wird lecken müssen.

Muss Russland als Gross­macht respektiert werden?

Das ist allerdings ein schwacher Trost, denn Putin wird sich in diesem Szenario seinerseits damit trösten, dass er seine Sekundär­ziele erreichen konnte. Russland wird Donezk, Luhansk und vielleicht Cherson übernehmen und eine übel zugerichtete Restukraine zurück­lassen, die zusehen kann, wie sie mit den Verheerungen des Krieges fertig wird.

Diejenigen, die ein rasches Ende des Krieges herbei­wünschen, fänden diese Lösung zwar bedauerlich, aber letztlich akzeptabel. Sie würde ein neues Gleich­gewicht und damit die Voraus­setzung schaffen, dass der Handel mit Russland irgendwann wieder anlaufen könnte – möglicherweise zurück­haltender als früher, aber in Anerkennung der Tatsache, dass Russland eine Grossmacht ist, die trotz ihrer verbrecherischen Machenschaften respektiert werden muss.

In diesem Sinne äusserte sich Henry Kissinger beim Weltwirtschafts­forum in Davos, und ähnliche Gedanken machen sich auch europäische Regierungen und amerikanische Thinktanks. Die ukrainische Regierung lehnt solche Überlegungen entschieden ab. Die Gründe für diese Ablehnung helfen zu verstehen, warum die Ukraine die ihr nahegelegten Zugeständnisse nicht machen wird und dass der Krieg daher noch einige Zeit andauern dürfte.

Erstens ist die Ukraine nach wie vor zuversichtlich, dass sie letztlich den Sieg davon­tragen wird. Wenn es in den kommenden Wochen und Monaten für die Ukraine ausgesprochen schlecht läuft, wird diese Zuversicht nachlassen, aber bislang besteht sie trotz der jüngsten russischen Gelände­gewinne weiter. Gemessen an dem, was zu Beginn dieser wichtigen Phase des Krieges befürchtet wurde, sind die russischen Gelände­gewinne strategisch noch immer von begrenzter Bedeutung.

Zweitens hält die Ukraine ungeachtet aller militärischen Erfolge der Russen an ihrem Kriegsziel fest, die russischen Streit­kräfte aus ihrem Hoheits­gebiet zu vertreiben. Für Kiew ist eine dauerhafte Gebiets­abtretung an Russland nicht hinnehmbar. Nachdem die Ukraine erlebt hat, wie die Russen sich in den bereits besetzten Gebieten aufführen, wird sie nicht zulassen, dass noch mehr ukrainische Bürgerinnen eine solche Behandlung erleiden müssen. Die Ukraine sammelt bereits Beweise, die belegen sollen, dass Russland einen Völkermord­krieg führt – nicht unbedingt in dem landläufigen Sinne, dass ein ganzes Volk ausgelöscht werden soll, aber im Sinne der Völkermord­konvention von 1948: «Handlungen, die in der Absicht begangen [werden], eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe […] ganz oder teilweise zu zerstören».

Ein Volk mit Erfahrungen im Leiden

Putin, seine Hand­langer und die russischen Staats­medien leugnen unverhohlen die Existenz eines eigen­ständigen ukrainischen Volkes. Und sie lassen dieser Leugnung Taten folgen, wenn sie dazu die Möglichkeit bekommen. Dies beinhaltet, dass Kinder von ihren Eltern getrennt werden (damit sie als richtige Russinnen aufwachsen können), und schliesst Massen­vergewaltigungen, Deportationen, die Verschleppung von Kommunal­politikern und die Ausradierung der ukrainischen Sprache und von Symbolen der nationalen Identität der Ukraine mit ein.

Vor diesem Hintergrund glauben die Ukrainerinnen nicht, dass die dauerhafte Besetzung ihres Territoriums dem Leid ein Ende setzen würde. Eine solche Okkupation würde Russland vielmehr die Möglichkeit geben, sein Vorhaben bis zum bitteren Ende zu realisieren.

Wenn man der ukrainischen Bevölkerung vermitteln will, dass ihr Widerstand ihr Leiden verlängert, verweisen sie darauf, dass sie als Volk – tragischerweise – Erfahrung im Leiden haben. Sie waren Opfer der schlimmsten Verbrechen der Stalinzeit. Der Holodomor, die bewusst herbeigeführte Hungersnot der frühen 1930er-Jahre, forderte 5 Millionen Menschen­leben. Zehn Jahre später fielen den schlimmsten Verbrechen der Nazis rund 7 Millionen Ukrainer zum Opfer. (Manche halten diese Zahlen für zu niedrig angesetzt.)

Abwehrmechanismus: In Saporischschja im Südosten der Ukraine werden Fahrzeugsperren ausgelegt. Paolo Pellegrin/Magnum Photos/Keystone

Momentan erlebt die ukrainische Bevölkerung, dass in einem Krieg, den sie nicht provoziert hat, Zehntausende getötet werden, pulsierende Städte in Schutt und Asche gelegt und lebens­wichtige Infrastruktur­einrichtungen zerstört werden. Schon jetzt sind 40 Prozent des diesjährigen Brutto­inland­produkts verloren. Alle denkbaren Zukunfts­szenarien sind mit Leid verbunden. Deshalb entscheiden sich die Ukrainerinnen für das Szenario, von dem sie sich die beste Zukunft für ihr Land versprechen.

Drittens gibt es keinen Grund zu der Annahme, durch territoriale Zugeständnisse liesse sich ein neues Gleich­gewicht herbeiführen. Dieser Hoffnung hatte man sich 2014 hingegeben, als Russland die Krim annektierte und im Donbass seine Separatisten installierte. Damals gab diese Hoffnung den Europäern die Möglichkeit, weiterhin «normale» Beziehungen zu Putin zu pflegen und die Öl- und Gasimporte beizubehalten – bis Putin erneut in den Kampf zog, um sich noch mehr zu holen.

Abschreckende Beispiele für eine Aufteilung des Landes

Was würden diejenigen tun, die die Ukraine drängen, «realistisch» zu sein und sich «in ihrem eigenen Interesse» auf Kompromisse einzulassen? Der in diesem Fall verbleibenden Rumpf­ukraine wasserdichte Sicherheits­garantien geben und auf diese Weise gewähr­leisten, dass sich das Geschehen nicht wiederholt? Oder würden sie sich Putins ebenso «realistischer» Forderung nach einer echten Neutralität der Ukraine beugen? Wer meint, eine Aufteilung des Landes würde zu Stabilität führen, sollte sich die beiden prominenten Aufteilungs­beispiele der späten 1940er-Jahre anschauen: Arabien/Israel und Indien/Pakistan.

Die ukrainische Sicht der Dinge – über die sich die Bevölkerung nach neuesten Umfragen einig ist – lautet: Dieser Krieg wird erst enden, wenn die Grenzen vom 23. Februar wieder­hergestellt sind. Falls eine solche Einigung nicht auf diplomatischem Weg zu erzielen ist, wird die Ukraine so lange weiterkämpfen, bis Donezk und Luhansk und vielleicht sogar die Krim vollständig zurück­erobert sind. Ganz gleich, ob die nüchternen Geopolitiker, die nur die internationale Ordnung im Blick haben, dies für töricht oder aussichtslos halten – das ist der Weg, für den die Ukraine sich entschieden hat.

Präsident Wolodimir Selenski hat versprochen, über jede Vereinbarung mit Russland per Referendum abstimmen zu lassen. Nach aktuellen Erhebungen würde die Bevölkerung jedes Zugeständnis an Putin ablehnen.

In einem sind sich die Unter­stützerinnen Kiews in Nordamerika und Europa vorerst einig: Alles, was sich als russischer Sieg verkaufen lässt, hätte geopolitisch schlimme Folgen, denn es wäre eine Vorlage für Instabilität und würde nicht den Boden für eine neue Normalität bereiten, sondern für dauerhaft anhaltende Spannungen. Nachdem die Nord­amerikaner und Europäerinnen der Ukraine ihre Unterstützung zugesagt haben, sind sie jetzt an dieses Versprechen gebunden – denn Kiew jetzt im Stich zu lassen, wäre ein Verrat, mit dem obendrein nichts gewonnen wäre.

Würde man der Ukraine eine Teilung des Landes aufnötigen, würde dies die Kämpfe nicht beenden, sondern nur zur Folge haben, dass die Kämpfe unter für Russland günstigeren Bedingungen weitergingen.

Die Lehren der russischen Armee

Dieser Krieg wird schon seit acht Jahren geführt. In diesen acht Jahren gab es bessere und schlechtere Zeiten. In jüngsten Kommentaren aus Moskau und aus Kiew wird die Möglichkeit in Kauf genommen, dass der Krieg sich womöglich noch lange hinziehen wird. Damit stellt sich die Frage, ob der aktuelle Waffengang mit einer längeren Pattsituation enden wird.

Nach der Dynamik der ersten Kriegsphase, in der die Russen zügig in Positionen vorrückten, die sie dann nicht halten konnten, sodass sie sich wieder zurück­ziehen mussten, sind die Kämpfe mittlerweile erbitterter geworden. Die Russinnen läuteten diese zweite und angeblich zielgerichtetere Phase des Krieges mit Vorstössen in vielen Teilen des Donbass ein. Nachdem das Militär zu Putins Siegesparade am 9. Mai nichts Vorzeig­bares abgeliefert hat, geht es jetzt offenbar professioneller und effizienter zu Werk. Zudem hat die Armee das ein oder andere Logistik- und Taktik­problem in den Griff bekommen, das frühere Operationen erschwerte. Das russische Militär zerstört mit der Feuerkraft seiner Luftwaffe und Artillerie die ukrainischen Verteidigungs­stellungen und rückt anschliessend mit Panzern und Infanterie nach.

Nach der Maxime «Ehrlich währt am längsten» spricht es für die ukrainische Regierung, dass sie ihre massiven Gebiets­verluste eingeräumt hat und auch keinen Hehl daraus macht, dass bei der Schlacht in und um Sjewjerodonezk und Lyssytschansk unweigerlich mit weiteren Verlusten zu rechnen ist. Die ukrainischen Kommandeure stehen vor Entscheidungen, um die sie niemand beneidet. In den Kämpfen werden einige der erfahrensten Soldaten der Ukraine eingesetzt. Wäre nicht ein Rückzug die sinnvollste Option, statt für strategisch eher unbedeutende Gebiete und für weitgehend evakuierte und von den Russen sturmreif geschossene Städte heroische Opfer zu bringen? Oder ist es möglich, diese Städte zu verteidigen und dafür zu sorgen, dass die russischen Streit­kräfte für ihre Rückeroberungs­versuche Verluste in Kauf nehmen müssen, die sie sich nicht leisten können?

Anderswo – im Norden rund um Charkiw und im Süden in der Region Cherson – verhält Russland sich derzeit eher defensiv, hebt Schützen­gräben aus und bringt seine unterstützende Artillerie in Stellung. Die russische Armee sondiert mit gelegentlichen Offensiven die ukrainische Gegenwehr, aber vor allem will sie die ukrainischen Streit­kräfte an Ort und Stelle binden, damit sie keine Gegen­angriffe im Donbass starten können.

Die russische Strategie lässt sich aktuell am ehesten so beschreiben: Russland versucht, aus der aktuellen Kriegs­phase das Maximum heraus­zuholen, die Ukraine dann zu Rückeroberungs­versuchen zu verleiten und in der Zwischen­zeit die eigene geschwächte Armee wieder zu stärken für den Fall, dass sich neue Angriffs­möglichkeiten ergeben.

Das heisst nicht, dass der Krieg auf eine Pattsituation zusteuert. Der Krieg nimmt vielmehr einen anderen Charakter an. Die Ukraine kann, um Gelände­gewinne zu erzielen, nicht die russischen Methoden anwenden. Das würde bedeuten, dass sie mit ihrer Artillerie und Luftwaffe alles angreift, was sich ihr in den Weg stellt, und dafür ihre eigenen Städte und Dörfer in Schutt und Asche legt. Sie kann den Gegner auch nicht mit schierer Übermacht bezwingen und dafür schwere Verluste in Kauf nehmen.

Worauf setzt die Ukraine?

Zwei Faktoren werden deshalb die ukrainische Offensive prägen. Erstens legen die ukrainischen Soldaten die stärkere Moral und das grössere Durchhalte­vermögen an den Tag. Diese asymmetrische Motivations­lage, die sich vom ersten Kriegstag an deutlich gezeigt hat, macht nach wie vor einen Unterschied. Zweitens verstärkt die Ukraine die Front derzeit mit neuen westlichen Waffen und wird Möglichkeiten finden, diese in ihre Operations­pläne einzubinden.

Dadurch ist der Zeitplan vorgegeben. Waffen­lieferungen dauern. Nachdem in den USA das 40-Milliarden-Dollar-Hilfspaket beschlossen wurde und damit klar wurde, welche Probleme den Ukrainerinnen drohen, wenn sie waffen­technisch unterlegen sind, hofft Kiew auf bessere Waffen, die schneller geliefert werden. Die westlichen Einschränkungen für diese Waffen­lieferungen wurden in mehreren Bereichen gelockert, namentlich was moderne Artillerie­technik betrifft, die besonders wichtig ist.

Die Ukrainer sind zwar dankbar für die Feldhaubitzen des Typs M777, aber enttäuscht vom Widerstand der Biden-Regierung gegen den Verkauf des leistungs­fähigeren Multiple Launch Rocket System (MLRS). Unterdessen haben die Amerikaner beschlossen, solche Systeme zu liefern. Diese Mehrfach­raketenwerfer ermöglichen zielgenaue Schläge aus weiter Entfernung. Bei der Luftwaffe hingegen geht nur wenig voran, abgesehen von der Lieferung von Ersatz­teilen, die benötigt werden, um 20 alte Kampf­flugzeuge wieder flugtauglich zu machen. Moderne Kampfjets würden einen Unterschied machen.

Diese Umstände verhindern derzeit schnelle Frontal­angriffe der Ukrainer. Wahrscheinlich werden sie sich dafür entscheiden, die russischen Front­streitkräfte durch gezielten Artillerie­beschuss und Partisanen­angriffe hinter den feindlichen Linien (wie sie aus Cherson bereits gemeldet wurden) kontinuierlich zu zermürben und die Kampfkraft und Moral der Russen dadurch zu schwächen, dass sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit die russischen Stellungen zurück­drängen und nach Möglichkeit überrennen.

Die Folgen eines zermürbenden Stellungs­kriegs

Russland hat inzwischen eine breite Front und ziemlich grosse eroberte Gebiete zu verteidigen. Seine Streitkräfte sind schon jetzt weit auseinander­gezogen, und Moskau sucht hände­ringend nach Reservistinnen. Die Ukrainer können nicht allzu lange warten, werden die russischen Stellungen aber nicht intensiv bekämpfen wollen, bevor sie dazu wirklich bereit sind. Die russische Armee hat mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen, nachdem sie für eher überschaubare Gelände­gewinne massenweise Ausrüstung und Vorräte verschlissen und viele Soldaten verloren hat. Der wirtschaftliche Druck wird nicht nachlassen.

Die Ukraine wird wohl am Ende siegen – aber schnell gehen wird das nicht.

Wenn ein Krieg nach raschen Vorstössen und gewagten Manövern in einen erbitterten und zermürbenden Stellungs­krieg übergeht, gewinnen Fragen der wirtschaftlichen und sozialen Belastbarkeit zunehmend an Bedeutung. Abgesehen von Belarus, das den Russen eine Operations­basis, aber keine Streit­kräfte bereitstellt, ist Russland isoliert. China greift zwar zustimmend das ein oder andere Propaganda­thema aus Moskau auf, leistet aber keine materielle Unter­stützung und enthält sich bei wichtigen Abstimmungen der Vereinten Nationen der Stimme. Ebenso wie Indien schenkt China den Sanktionen wenig Beachtung und treibt weiter Handel mit Russland.

Vorerst kann Russland seinen Krieg durch Energie- und Lebensmittel­exporte finanzieren, die wegen der rasant gestiegenen Preise sogar mehr Geld einbringen als je zuvor. Aber mittel- und langfristig wird seine Stellung als Energie­lieferant bröckeln, und die Sanktionen werden das normale Wirtschafts­leben einschliesslich der produzierenden Industrie lahmlegen.

Die EU hat vergangene Woche das sechste Sanktionspaket beschlossen, das unter anderem ein Embargo gegen russisches Öl vorsieht. Inzwischen wird auch darüber diskutiert, russisches Geldvermögen nicht nur einzufrieren, sondern zu konfiszieren und der Ukraine als Wiederaufbau­hilfe zur Verfügung zu stellen. Brauchen wird die Ukraine dieses Geld mit Sicherheit, aber angesichts der Sorge vor einem Verlust des Vertrauens in Dollar und Euro als Anlage­währungen wird diese Diskussion sehr schwierig werden.

Die Kriegsführung der Ukraine wird von deren zahlreichen Unter­stützerinnen am Laufen gehalten. Während Kiew sich einerseits noch mehr Engagement wünscht und betont, dass sich auf diesem Weg am ehesten ein schnelles Kriegsende herbei­führen lasse, gibt es andererseits die Befürchtung, dass das Engagement nachlässt, falls der Krieg nicht zu einem schnellen Ende kommen sollte. Das erhöht den Druck, sich um eine rasche diplomatische Lösung zu bemühen. Nach Kissingers Äusserungen gab es viele Medien­stimmen, die sich in diesem Sinne positionierten. Diese Stellung­nahmen sind aber gegenstandslos, weil letzten Endes nur die Ukraine ihre Kriegsziele festlegen kann.

Feuersbrunst: Nach einer Explosion in Saltivka, einem Vorort von Charkiw. Paolo Pellegrin/Magnum Photos/Keystone

Wenn sie diese Ziele nicht erreichen würde, hätte das verheerende Folgen für Europas Sicherheit und würde in einer langen Phase der Spannungen und der Ungewissheit resultieren. Sollte die Ukraine daran scheitern, dass ihr die Unter­stützung in dem Moment versagt wurde, in dem sie sie am dringendsten gebraucht hätte, müssten die Staaten des Westens mit den Konsequenzen leben. Sie stehen in der Ukraine in der Pflicht. Auch wenn die Regierungen befürchten, der Rückhalt in der Bevölkerung könnte unter dem Druck steigender Lebenshaltungs­kosten bröckeln, müssen die westlichen Staaten zu ihren Zusagen stehen.

Und wie lange dauert der Krieg jetzt noch?

Der Westen wünscht sich diplomatische Bemühungen herbei, aber es gibt momentan keinen Mechanismus, der beide Seiten zur Aufnahme von Gesprächen bewegen könnte. Vermittler wie das Rote Kreuz haben mitgewirkt, die Kampf­handlungen in Mariupol zu beenden. Unter Feder­führung der Vereinten Nationen laufen derzeit intensive diplomatische Bemühungen, bei denen die Türkei (die den Zugang zum Schwarzen Meer kontrolliert) eine Schlüssel­rolle spielt. Dabei wird verzweifelt nach Möglichkeiten gesucht, die Blockade des Schwarzen Meeres aufzuheben, damit die zur Linderung der weltweiten Nahrungsmittel­krise dringend benötigten Landwirtschafts­güter aus der Ukraine exportiert werden können.

Es besteht Hoffnung auf einen dauerhaften humanitären Korridor, durch den kontinuierliche Getreide­lieferungen möglich sind. Das wird einfacher, wenn Russland kooperiert, weil es kaum für Lebensmittel­knappheit im Mittleren Osten und in Afrika verantwortlich gemacht werden möchte. Als Gegen­leistung hat Russland allerdings bereits Zugeständnisse bei den Sanktionen gefordert.

In der Frage, wie man den Krieg beenden könnte, gibt es keine Fortschritte und auch keine Gesprächs­kontakte. An einem Waffen­stillstand, der den jetzigen Istzustand zementiert und den momentanen Front­verlauf zum völker­rechtlichen Grenz­verlauf macht, hat Selenski aus den oben genannten Gründen kein Interesse. Wenn es nach dem ukrainischen Präsidenten geht, kommt die Diplomatie nur ins Spiel, wenn sie darauf abzielt, den bis zum 23. Februar geltenden Grenzverlauf wieder­herzustellen.

Putin scheint sich nach wie vor mehr zu erhoffen und pocht auf Zugeständnisse, zu denen die Ukraine nicht bereit sein wird. Manche westlichen Beobachter fragen sich besorgt, was passiert, wenn die russische Kontrolle über die Krim ins Wanken gerät, und drängen deswegen Kiew zu Kompromissen. Diese Stimmen sollten zur Kenntnis nehmen, dass Moskau nach wie vor so agiert, als gäbe es noch mehr zu erobern. Je nachdem, wie die Kampf­handlungen verlaufen, können sich alle Berechnungen ändern.

Kriege verlaufen selten geradlinig. Auf Phasen intensiver Kampf­handlungen folgen mitunter Pausen oder sogar Waffen­ruhen, in denen beide Seiten sich neu sortieren, um sich dann wieder erbitterte Schlachten zu liefern. Frontverläufe können statisch erscheinen, bis es plötzlich zu einem Durch­bruch kommt. Armeen, die zunächst einen robusten Eindruck machen, können sich als anfällig erweisen. Rasche Vorstösse können die eigenen Truppen über­strapazieren und in der Folge zum Rückzug zwingen.

Es gibt keinen festgelegten Zeitplan. Deshalb lässt sich unmöglich vorher­sagen, wann dieser Krieg enden wird. Die plausibelste Annahme lautet im Augenblick: Dieser Krieg ist kein kurzfristiger Notstand, sondern nimmt die Länder, die die Ukraine unterstützen, langfristig in die Pflicht; es gibt keine einfache diplomatische Lösung – und: Die Ukraine wird so lange weiter­kämpfen, bis sie ihre verloren gegangenen Territorien zurück­erobert hat.

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