Briefing aus Bern

Was Blocher mit seiner neuen Organisation plant, wer alles in den Bundesrat will – und ein denk­würdiger Partei­austritt

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (208).

Von Dennis Bühler, Angelika Hardegger, Priscilla Imboden und Jana Schmid, 20.10.2022

Vorgelesen von Jonas Rüegg
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Als Christoph Blocher vor zwei Jahren 80 wurde, sprach er davon, dass seine Kräfte langsam nach­lassen. Trotzdem hat der SVP-Vordenker nochmals einen neuen Kampf­verein gegründet: Pro Schweiz. Am vergangenen Samstag führte Blocher in der Kaserne Bern persönlich durch die Gründungs­versammlung.

Der Verein ist mit seinen 25’000 Mit­gliedern eine Fusion von drei Anti-EU-Vereinen: der Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz, kurz Auns, dem Komitee Nein zum schleichenden EU-Beitritt und der Unternehmer­vereinigung gegen den EU-Beitritt. Der bekannteste davon, die Auns, war ebenfalls von Blocher gegründet worden, mit ihr errang er 1992 seinen grossen Sieg, das EWR-Nein. In diesen Erinnerungen schwelgte Blocher auch am Samstag in der Kaserne Bern. Er beschwor die «frrreie Schweiz», den Kampf für sie, er rief: «Es ist noch nicht fertig!» So ungefähr das Kurz­protokoll der Veranstaltung.

Am Ende blies die Blas­musik zum Marsch, und eine Frage blieb offen: Warum löst Blocher die Auns auf? Warum ersetzt er sie mit einem neuen Verein?

Blocher sagte in der NZZ einmal, der Auns sei passiert, was vielen Verbänden passiere: Sie könnten in der Routine nichts mehr erreichen. Am Samstag sagte er, man wolle die Organisation verjüngen, worauf ein Gründungs­mitglied vor versammelter Mannschaft feststellte: «Der Vorstand sieht aus wie ein Altersheim!»

Vieles an Pro Schweiz ist im Grunde alt und von der Auns über­nommen. Die Mitglieder sind noch da, die Statuten grössten­teils auch. Das Führungs­personal besteht hauptsächlich aus SVP-Schlacht­rössern wie Ulrich Schlüer, Christoph Mörgeli oder Adrian Amstutz. Neu hingegen ist der Präsident: Stephan Rietiker. Er wurde von Blocher nach Herrliberg und damit ins Amt bestellt.

Rietiker hat gemäss eigenen Aussagen «überhaupt keine politische Erfahrung» – er hatte noch nie ein Amt. Früher war er Arzt und zuerst in der Autopartei, dann in der FDP. Später wurde er Manager und Mitglied der SVP. Rietiker war auch einmal Präsident der Fussballer der Grasshoppers – 70 Tage lang. Es war eine turbulente Zeit. Heute besitzt der 65-Jährige einen Investment­fonds in Zug, Bereich «Digital Health». Und so, als Geschäfts­mann, wurde Rietiker von Blocher rekrutiert. So, als Geschäfts­mann, versteht Stephan Rietiker auch die Schweiz.

Kürzlich war Rietiker Gast in einer SRF-«Arena», Thema waren die Beziehungen zur EU. Rietiker war als designierter Präsident von Pro Schweiz geladen, und allen weiteren Ausführungen stellte er diese voran: «Ich schaue die Schweiz als Unter­nehmen an. Es hat eine Geschäfts­leitung, das ist der Bundesrat, es hat einen Verwaltungsrat und Aktionäre und Mitarbeiter.» Der Zweck jedes Unter­nehmens ist Gewinn. Der Zweck der Schweiz ist laut der Verfassung: der Schutz von Freiheit und Volks­rechten, die Wahrung der Unabhängigkeit und der Sicherheit des Landes.

Diese Schweiz, die freie, demo­kratische, unabhängige und sichere Schweiz, steht so auch in den Statuten von Pro Schweiz. Aber eben: An der Spitze des Vereins wollte Blocher einen, der sich auf das Geschäft versteht. Das erste Projekt von Pro Schweiz ist die Neutralitäts­initiative, die Blocher im Sommer angekündigt hat. Die Initiative will in der Verfassung fest­schreiben, dass die Schweiz keine Sanktionen gegen kriegs­führende Staaten ergreift. Welchem Zweck diese Neutralität dann dient – ob der freien, unabhängigen und sicheren Schweiz oder doch dem Geschäft?

Vielleicht hat Christoph Blocher die Antwort mit der Wahl von Stephan Rietiker gegeben.

Und damit zum Briefing aus Bern.

Bundesratswahl: Vogt macht Rösti Konkurrenz, die Grünen verzichten

Worum es geht: Nicht nur Albert Rösti und Werner Salzmann wollen für die SVP in den Bundesrat, sondern neu auch die Nidwaldner Regierungs­rätin Michèle Blöchliger, der Zuger Finanz­direktor Heinz Tännler und der vor einem Jahr aus dem Nationalrat zurück­getretene Zürcher Hans-Ueli Vogt. Hingegen hat die Grüne Partei beschlossen, auf eine Kandidatur zu verzichten. Sie wolle sich auf die eidgenössischen Wahlen vom kommenden Herbst konzentrieren, um nach einem neuerlichen Gewinn von Parlaments­sitzen dann das «Macht­kartell der Bundesrats­parteien zu knacken» und in die Landes­regierung einzu­ziehen, teilte sie mit.

Warum Sie das wissen müssen: Blöchliger, die sich bereits in Wider­sprüche um ihre britische Staats­bürgerschaft verstrickte, dürfte chancenlos bleiben, genauso wie Tännler, der für Linke wegen seiner Tiefsteuer­politik für Gutverdienende unwählbar ist. Vogts Chancen stehen besser. Zunächst muss der Rechts­professor nun aber seine Partei­kollegen über­zeugen. Ob ihm das gelingt, ist offen, schliesslich geizte er anlässlich seines Abgangs aus Bundes­bern nicht mit partei­interner Kritik. Wie die SP und die Grünen politisiere die SVP «oft programmatisch, nicht konstruktiv», sagte er im Herbst 2021 dem «Tages-Anzeiger». Diese Art entspreche nicht seinem Naturell. In einem Interview mit der Republik hatte er schon ein Jahr zuvor ausführlich begründet, was ihn am Polit­betrieb störe: unter anderem, dass man immer so tun müsse, als ob man alles wüsste. «Mein Wissen und Können zählen in der Politik nur beschränkt», sagte er. «Es ist wie eine fremde Währung, mit der man nicht zahlen kann.» Mit dieser Einstellung und Offenheit ist Vogt ein untypischer Bundesrats­kandidat. Möglich ist, dass ihn das zum Fremd­körper macht – oder für Parlamentarierinnen anderer Parteien umso wählbarer.

Wie es weitergeht: Noch bis zum Freitag können SVP-Kantonal­sektionen Kandidaturen bei der Findungs­kommission melden. Bis zum 11. November unter­breitet diese einen Antrag zuhanden der Fraktion, die am 18. November über die Zusammen­setzung des Wahl­tickets befinden wird. Die Bundes­versammlung wählt am 7. Dezember.

Zwei Volks­initiativen: Neuer Anlauf der Mitte gegen die Heiratsstrafe

Worum es geht: Die Mitte-Partei hat am Dienstag zwei Volks­initiativen lanciert. Ziel der Initiativen «Ja zu fairen Steuern» und «Ja zu fairen AHV-Renten» ist die Abschaffung der sogenannten Heirats­strafe. Finanzielle Benach­teiligungen von Ehepaaren gegen­über unverheirateten Personen bei Steuern und Renten sollen aufgehoben werden. Sie seien unfair und diskriminierend, sagte Mitte-Präsident Gerhard Pfister vor den Medien. Finanzielle und steuerliche Berechnungen dürften bei der Wahl des Lebens­modells eines Menschen niemals eine Rolle spielen.

Warum Sie das wissen müssen: Die Mitte greift zwei Forderungen auf, die sie bereits im Rahmen der Initiative «Für Ehe und Familie – gegen die Heirats­strafe» gestellt hatte. Diese wurde 2012 vom Volk knapp abgelehnt, das Bundes­gericht annullierte das Resultat 2019 jedoch, weil der Bund im Vorfeld falsche Zahlen publiziert hatte. Bei der Berechnung der direkten Bundes­steuer werden heute verheiratete Paare gegen­über unverheirateten teil­weise benach­teiligt. Das Parlament will die Ungleich­behandlung mit der Individual­besteuerung beseitigen. Die Mitte-Partei will mit ihrer Initiative jedoch die Individual­besteuerung verhindern, indem die gemein­same Besteuerung von Ehepaaren in der Verfassung verankert wird. Sie fordert eine Wahl­möglichkeit zwischen gemein­samer und individueller Besteuerung. Mit der zweiten Initiative will sie die Ungleich­behandlung bei der AHV aufheben: Heute erhalten Ehepaare zusammen höchstens 150 Prozent der Maximal­rente, unverheiratete Paare hingegen zwei Voll­renten. Bundesrat und Parlament lehnten die Forderung bisher mit der Begründung ab, dass Ehepaare gegen­über unverheirateten Paaren dank Witwen­renten und Verwitweten­zuschlägen unter dem Strich bei der AHV sogar besser­gestellt seien.

Wie es weitergeht: Mit Unter­stützung der EVP sammelt die Mitte-Partei Unterschriften für die beiden Volks­begehren. Kommen bis zur Frist im März 2024 je 100’000 gültige Unter­schriften zustande, wird die Stimm­bevölkerung über die Initiativen befinden.

Reform der zweiten Säule: 11 Milliarden für Kompensationen

Worum es geht: Die zweite Säule der Alters­vorsorge soll reformiert werden, weil die Menschen länger leben und ihr angespartes Geld im heutigen Modell nicht mehr ausreicht bis zum Lebens­ende. Nach einigem Hin und Her und mit Verspätung hat die Sozial­kommission des Ständerats nun am Freitag eine Reform verabschiedet. Dabei sollen die gesetzlichen Minimal­beträge gesenkt, dafür aber die Übergangs­jahrgänge entschädigt werden. Die ersten 15 Jahrgänge, die ab Inkraft­treten der Revision in die Pension gehen, sollen einen lebens­langen Renten­zuschlag erhalten. Dieser soll je nach angespartem Kapital und Jahrgang bis zu 2400 Franken im Jahr betragen. Die Hälfte der Versicherten der Übergangs­jahrgänge sollten damit einen Zuschlag erhalten, was insgesamt gut 11 Milliarden Franken kosten wird. Zudem soll die zweite Säule der Alters­vorsorge auf tiefere Einkommen ausgedehnt werden.

Warum Sie das wissen müssen: Die Reform der zweiten Säule sorgte kurz vor der AHV-Abstimmung Ende September für Aufregung. Denn die bürgerlichen Befür­worterinnen der AHV-Reform hatten auch damit argumentiert, die Renten­kürzungen für Frauen in der ersten Säule würden damit ausge­glichen, dass man ihre Situation in der zweiten Säule verbessern werde. Weil die Sozial­kommission des Ständerats die Reform der zweiten Säule kurz vor der AHV-Abstimmung zum zweiten Mal verschob, war aber unklar, ob sie ihr Versprechen halten würden. Die Reform der zweiten Säule hat aber noch viel weit­reichendere Folgen: Sofern Sie arbeits­tätig sind, sind Sie wahr­scheinlich betroffen. Die Renten­senkung soll über den Umwandlungs­satz erfolgen, der definiert, wie viel des Alters­kapitals jährlich als Rente ausbezahlt wird. Er wird von 6,8 auf 6 Prozent gesenkt. Das heisst: Wer 100’000 Franken in der beruflichen Vorsorge angespart hat, erhält neu pro Jahr nur 6000 statt wie bisher 6800 Franken ausbezahlt. Um die Renten­einkommen von Arbeit­nehmerinnen mit tiefen Löhnen oder mehreren Stellen zu verbessern, soll der Betrag, ab dem der Lohn versichert wird, von rund 25’000 auf rund 17’000 Franken gesenkt werden.

Wie es weitergeht: Die Reform kommt in der Dezember­session in den Ständerat und danach wieder in den Nationalrat. Der Gewerkschafts­bund hat bereits heftigen Widerstand angekündigt – ein Referendum ist wahrscheinlich.

Parteiaustritt der Woche

Der Walliser Bundes­richter Yves Donzallaz hat genug: Er tritt aus der SVP aus. Damit kommt es nach jahre­langem Streit zum Bruch. Denn die Bundeshaus­fraktion der SVP hatte vor zwei Jahren dazu aufgerufen, ihren eigenen Richter nicht mehr wiederzu­wählen. Dies, weil er Entscheide gefällt hatte, die der Volks­partei missfielen – unter anderem die Heraus­gabe von UBS-Kunden­daten an Frankreich. Zudem war er an einem Urteil beteiligt, in dem das Bundes­gericht fest­stellte, dass die SVP-Ausschaffungs­initiative nicht wirklich anwendbar sei. Der Angriff der SVP auf die Gewalten­teilung und die richterliche Unabhängigkeit wurde unter anderem von Martin Burger in der Republik kritisiert – der ehemalige Zürcher Obergerichts­präsident war wegen der Druck­versuche der Partei gegen ihre Richter ebenfalls aus der SVP ausgetreten. Mit seinem Austritt kann Donzallaz nun frei von Druck­versuchen im kommenden Jahr das Bundes­gericht präsidieren. Der Präsident der SVP Wallis bedauert den Austritt, sagt aber gleich­zeitig, «dass die Unabhängigkeit der Justiz dadurch gewinnt».

Illustration: Till Lauer

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