Brian Keller: Der Prozess
Musste er im Gefängnis Folter erdulden? Hat er im Notstand aufbegehrt? Oder ist er gefährlich und unbelehrbar? Darüber wird ab heute am Bezirksgericht Dielsdorf verhandelt – eine wichtige Etappe im Justizdrama um den berühmtesten Häftling der Schweiz.
Von Brigitte Hürlimann (Text) und Florian Kalotay (Bild), 30.10.2023
Journalismus, der Ihnen hilft, Entscheidungen zu treffen. Und der das Gemeinsame stärkt: die Freiheit, den Rechtsstaat, die Demokratie. Lernen Sie uns jetzt 21 Tage lang kostenlos und unverbindlich kennen:
Alle sind sie da. Die Familie, Freunde und Unterstützerinnen, das Verteidigertrio, Staatsanwalt Ulrich Krättli, zwei Gutachter, eine Schar von Medienvertretern und noch manche mehr. Der mehrtägige Prozess am Bezirksgericht Dielsdorf nimmt vier Räume in Anspruch: Im Gerichtssaal 1 treffen die Hauptakteure aufeinander, das restliche Publikum muss sich damit begnügen, die Verhandlung per Videoübertragung mitzuverfolgen.
Alle Hauptakteure? Nein, der wichtigste Mann fehlt vor Ort.
Brian Keller, 28 Jahre alt, dem Beschuldigten und schweizweit bekanntesten Langzeitinsassen, werden von der Staatsanwaltschaft nicht weniger als 32 strafbare Handlungen vorgeworfen. Er hat entschieden, am Strafprozess gegen ihn nicht teilzunehmen. Das ist aus zwei Gründen möglich: erstens, weil er sich als Inhaftierter weigern kann, zur Hauptverhandlung vorgeführt zu werden, und zweitens aufgrund eines Dispensationsgesuchs.
Das Bezirksgericht Dielsdorf teilte letzten Mittwoch mit, das Dispensationsgesuch des Beschuldigten für die Verhandlung und die Urteilseröffnung sei bewilligt worden. Angaben über die Gründe gibt es nicht.
Brian Keller befindet sich seit mehr als siebeneinhalb Jahren ohne Unterbruch im Gefängnis – mit wechselnden Hafttiteln: Untersuchungshaft, Sicherheitshaft, Vollzug der Freiheitsstrafe – und dann fängts wieder von vorn an. Seit dem Januar 2022 lebt Keller in einem Zürcher Untersuchungsgefängnis. Dass er nicht längst in die Freiheit entlassen wurde, liegt an der jüngsten Anklageerhebung von Staatsanwalt Krättli.
Mit dieser Anklageschrift, 27 Seiten dick, befasst sich ab heute Montag ein dreiköpfiges Gerichtsgremium in Dielsdorf ZH.
Ein ungewöhnlich rigides Haftregime
Was den 32 Vorwürfen gemeinsam ist: Alles hat sich in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies im zürcherischen Regensdorf ereignet. Also im grössten Männerknast der Schweiz und unter einem Haftregime, das von internationalen und nationalen Gremien als unhaltbar, ja gar als Folter, bezeichnet worden ist. Über das sich auch das Bundesgericht mehrfach und mit zunehmenden Bedenken geäussert hat.
Diesem Haftregime war Keller vom August 2018 bis im Januar 2022 ausgesetzt. Um nur einige Stichworte dazu zu nennen: Der Insasse befand sich in strikter Einzelhaft, war von den Mithäftlingen völlig isoliert, hatte keinen Zugang zu Arbeit, Weiterbildungs-, Sport- oder Freizeitangeboten. Mitarbeiter kommunizierten über eine Türklappe mit ihm, Besuche fanden in einer Kabine hinter einer dicken Trennscheibe statt, Hofgang gab es die meiste Zeit nur unter der Woche, immer allein – und stets an Händen und Füssen gefesselt. Medizinische Untersuchungen wurden, wenn überhaupt, durch die Türklappe vorgenommen.
Die letzte empathische Berührung mit einem Menschen für fast vier Jahre erlebte der junge Schweizer im Mai 2018. Es war im Regionalgefängnis Burgdorf – eine Umarmung des Vaters. Solche Gesten erlaubte die Pöschwies nicht mehr. Auch keinen Besuch der hochbetagten Grossmutter ohne Trennscheibe. Hinter der man, notabene, kaum das Wort des Gegenübers versteht.
In dieser Periode, während des ungewöhnlich rigiden Haftregimes, geschahen all die Vorfälle, über die am Bezirksgericht Dielsdorf nun verhandelt wird. Das älteste der Delikte ist fünf Jahre alt – die Staatsanwaltschaft hat sich Zeit gelassen mit der Anklageerhebung und wurde deshalb vom Bundesgericht auch gerügt.
Die Sache mit der Glasscherbe
Staatsanwalt Krättli wirft Brian Keller versuchte schwere Körperverletzung, einfache Körperverletzung, Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte, Sachbeschädigung und Drohung vor. Mit Ausnahme der versuchten schweren Körperverletzung soll der Häftling alle Delikte mehrfach begangen haben.
Doch wie hat Keller nach Auffassung des Staatsanwalts drei Aufseher beinahe schwer verletzt? Und damit den schlimmsten aller 32 Vorwürfe provoziert?
Der Ankläger schildert einen Vorfall von Ende Januar 2019.
Brian Keller war zu dieser Zeit in einer Spezialsicherheitszelle in der Pöschwies untergebracht. Die Zelle verfügte über zwei Türen, eine innere und eine äussere. Dazwischen befand sich ein Vorraum. Drei Aufseher wollten das vom Insassen verschmutzte Fenster der äusseren Zellentüre reinigen. Dazu öffneten sie die äussere Zellentüre einen Spaltbreit und begannen mit einem Wischmopp, das Fenster zu putzen. Zu ihrer Sicherheit wollten sie den Vorraum nicht betreten, weil der Insasse die Sicherheitsscheibe der inneren Zellentüre – immer laut Anklageschrift – vollkommen beschädigt hatte. Während der Putzaktion behändigte Brian Keller eines der Glasbruchstücke und warf es gegen die äussere Zellentüre, die einen Spaltbreit geöffnet war.
Dahinter befanden sich die drei Aufseher. Das handflächengrosse Stück Glas traf die äussere Türe und verletzte einen der Mitarbeiter leicht; «entweder direkt oder als Abpraller», wie es in der Anklageschrift heisst. Ulrich Krättli wirft dem Beschuldigten vor, bei seinem Handeln eine schwere Körperverletzung in Kauf genommen zu haben. Keller habe gewusst, «dass er durch den Wurf eines solch grossen, schweren und scharfkantigen Glasstücks einen Aufseher allenfalls im Gesicht oder am Hals treffen und lebensgefährlich (...) verletzen konnte».
Ein wütendes und verzweifeltes Aufbegehren
Bei den übrigen Vorwürfen geht es vor allem um wüste Beschimpfungen, Flüche, Ausfälligkeiten, Drohungen und Beleidigungen. Der Insasse soll die Aufseher mehrfach gebissen und bespuckt haben. Er soll diverse Male gegen die Schutzschilde geschlagen haben, wenn er von sechs Mitarbeitern in Vollmontur zum Spazierhof oder zur Besucherkabine geführt wurde. Dazu kommen Sachbeschädigungen in der Zelle.
Alles in allem: ein heftiges, wütendes, aber auch verzweifeltes Aufbegehren gegen das Vollzugsregime in der Pöschwies. Ein Abreagieren an Mitarbeitern, denen Brian Keller physische Übergriffe, rassistische Bemerkungen, Hohn, Spott und Schikanen vorwirft. Sein Verteidigertrio, Thomas Häusermann, Bernard Rambert und Philip Stolkin, spricht von einer Notstandshandlung. Es sei dem Insassen darum gegangen, die Haft und die Isolation einigermassen unbeschadet zu überstehen.
Der Zürcher Psychiater Ralf Binswanger schreibt in einem Gutachten (das die Verteidiger in Auftrag gaben), die in der Pöschwies an Brian Keller angewandte Methode des Reizentzugs sei «in hohem Masse dazu geeignet», die psychische Identität des Häftlings zu zerstören. Das Verhalten des Insassen sei ethisch und rational begründet. Es sei nicht auszuschliessen, dass die kontinuierliche und konsequente Gegenwehr zu einer geringeren physischen und psychischen Schädigung geführt habe.
Staatsanwalt Krättli dürfte diese Auffassung nicht teilen. Und Binswanger ist nicht der einzige Gutachter, der sich mit der Causa Brian Keller auseinandergesetzt hat – seit seiner Kindheit hagelt es psychiatrische Expertisen. Die Einschätzungen gehen weit auseinander.
Das Bezirksgericht Dielsdorf wird sich am Strafprozess mit den neusten Gutachten auseinandersetzen und zwei Experten mündlich befragen. Der Berner Strafrechtsprofessor Jonas Weber wird sich dazu äussern, ob die Haftbedingungen in der Pöschwies den gesetzlichen Vorgaben und den Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention entsprachen oder nicht und ob der Insasse ausreichend medizinisch betreut wurde. Henning Hachtel, Psychiater an der Universitätsklinik Basel, gibt Auskunft über eine allfällige Gefährlichkeit des 28-Jährigen sowie darüber, ob eine Wiederholungsgefahr besteht – und falls ja, für welche Art von Delikten.
Seit 2013 im Scheinwerferlicht
Was wegfallen wird an dieser mehrtägigen Verhandlung mit einem grossen Medieninteresse: die Befragung des Beschuldigten zur Person und zur Sache.
Doch es gibt keinen anderen Gefängnisinsassen in der Schweiz, über den so viel berichtet und debattiert worden ist – und immer noch wird. Ein Ende ist nicht in Sicht. Der Langzeitinsasse äussert sich in letzter Zeit auch vermehrt direkt, er gibt Interviews oder meldet sich via Social Media zu Wort. Das öffentliche Interesse an ihm hat 2013 begonnen: mit der Ausstrahlung eines SRF-Dokumentarfilms über den inzwischen verstorbenen Jugendanwalt Hansueli Gürber.
Ein zentrales Thema in diesem Fernsehbeitrag war Gürbers Vorzeigeprojekt: das sowohl ungewöhnliche wie auch erfolgreiche Sondersetting für den damaligen Jugendstraftäter Brian Keller mit dem Aliasnamen Carlos.
Was nach der Ausstrahlung oder vielmehr nach der Empörungskampagne der Boulevardzeitung «Blick» begann, setzt sich bis heute fort. Seit mehr als zehn Jahren wird Brian Keller abwechslungsweise dämonisiert und wieder rehabilitiert. Er bewegt die Gemüter im ganzen Land, lässt niemanden kalt. Für die einen bleibt er ein gefährlicher und notorischer Straftäter, der sich endlich zusammenreissen und an die Gesetze halten soll – für die anderen zeigt sich an seinem Schicksal beispielhaft, was in der Strafjustiz alles schieflaufen kann. Und was die Folgen davon sind.
Doch von wegen «notorischer Täter»: Als Erwachsener, also ab 18 Jahren, ist Brian Keller zweimal rechtskräftig verurteilt worden. Von «notorisch» kann nicht die Rede sein. Ende August 2015 wurde er vom Bezirksgericht Dielsdorf wegen Sachbeschädigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Es ging um eine Zelle im Massnahmenzentrum Uitikon – und um eine Inhaftierung, die vom Bundesgericht als widerrechtlich qualifiziert worden ist.
Ein Jahr später musste sich der junge Erwachsene vor dem Bezirksgericht Zürich verantworten. Bei einer Auseinandersetzung mit einem Kickbox-Kollegen hatte Keller seinem Widersacher einen Faustschlag ins Gesicht versetzt, was zu einem Kieferbruch führte. Er wurde wegen versuchter schwerer Körperverletzung schuldig gesprochen und mit einer unbedingten Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten bestraft.
Die schlechten Erfahrungen wirken sich bis heute aus
Das sind, Stand heute, die zwei Einträge in seinem Vorstrafenregister. Noch nicht rechtskräftig entschieden ist ein Zwischenfall in der Pöschwies vom Juni 2017, bei dem Keller einen Aufseher bei einem Gerangel an den Kopf geschlagen und leicht verletzt haben soll. Staatsanwalt Krättli spricht auch hier von einer versuchten schweren Körperverletzung. Der Fall ist Ende 2021 vom Bundesgericht zurück ans Zürcher Obergericht spediert worden und dort noch hängig.
Auch bei diesem Vorfall steht zur Diskussion, wie sich die zahlreichen und frühen Erfahrungen Kellers mit der Strafjustiz bis heute auf sein Verhalten auswirken. Dass er seit seiner Kindheit mehrfach unkorrekt, unverhältnismässig und gesetzeswidrig behandelt wurde, steht ausser Diskussion.
Um nur einige der jüngsten Feststellungen zu nennen:
Im März 2021 hält das Bezirksgericht Zürich fest, dass Brian Kellers Haftbedingungen im Bezirksgefängnis Pfäffikon unmenschlich waren. Der Insasse musste 2017 zwei Wochen lang auf dem nackten Zellenboden schlafen, war nur mit einem Poncho bekleidet und erhielt keine Unterwäsche. In der Zelle gab es weder Bett, Stuhl noch Matratze. Keller durfte nicht duschen, sich tagelang nicht die Zähne putzen und trug drei Wochen lang ununterbrochen Fussfesseln. Der Hofgang wurde ihm verweigert.
Im April 2021 kritisiert das International Rehabilitation Council for Torture Victims (IRCT) die Haftbedingungen in der Pöschwies. Die Isolation und die Behandlung des Häftlings entsprächen «in hohem Masse» der Definition von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung.
Im Mai 2021 interveniert der damalige Uno-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, zum ersten Mal. Er teilt der Schweizer Regierung seine Bedenken mit und sagt, es stellten sich «ernsthafte menschenrechtliche Fragen», was das Haftregime in der Pöschwies betreffe. Melzer fordert Abklärungen und Antworten und wird in der gleichen Sache noch zweimal beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten vorstellig.
Im November 2021 bemängelt die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter die lange Dauer der Einzelhaft und macht Vorschläge für einen menschenrechtskonformen Vollzug.
Im Januar 2022 wird Keller von der Uno-Expertengruppe für Menschen afrikanischer Abstammung besucht. In einer Medienmitteilung stellt die Arbeitsgruppe fest: Rassendiskriminierung und Ungerechtigkeit seien in jeder Phase des Falls Brian Keller ersichtlich. Es gehe um ein «drastisches Beispiel für strukturellen Rassismus in der Schweiz».
Vor den hiesigen Gerichten hat Keller einige beachtliche Erfolge errungen. Im Juli 2023 hebt das Bundesgericht einen Freispruch für drei Psychiater auf, die dafür verantwortlich sind, dass der damals knapp 16-Jährige 13 Tage lang auf einem Psychiatriebett festgebunden und mit einer hohen Dosis an Medikamenten ruhiggestellt wurde. Im selben Monat bestätigt das höchste Gericht den Schuldspruch gegen einen Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalt Lenzburg. Der Verurteilte hatte Keller bei der Verlegung in eine andere Haftanstalt zwei Fusstritte und zwei Faustschläge verpasst, obwohl der Häftling bereits wehrlos am Boden lag.
Und nun also diese neuste Prozessrunde, in der sich Keller in der Rolle des Beschuldigten wiederfindet. Es geht um viel: Freiheit, Satisfaktion – oder eine neue Verurteilung, eine weitere Gefängnisstrafe.
Wie immer das Bezirksgericht Dielsdorf entscheiden wird (die Urteilseröffnung ist für den 8. November vorgesehen): Die unendliche Justizgeschichte des Brian Keller wird damit nicht beendet sein. Diverse Verfahren sind noch hängig. Unter anderem am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg, der sich gleich mit zwei Klagen Kellers zu befassen hat.
Im September dieses Jahres hat der Zürcher Arzt André Seidenberg mit Bevollmächtigung Kellers eine Strafanzeige gegen die Direktion und die Ärzte der Pöschwies eingereicht. Seidenberg wirft ihnen vor, dem Häftling jahrelang die medizinisch notwendige Versorgung verweigert zu haben. Eine lang andauernde Einzelhaft, so der Arzt, erfordere zwingend eine engmaschige ärztliche Betreuung. Dies sei nicht geschehen – obwohl sich bei Keller die hinlänglich bekannten gesundheitlichen Risiken einer Isolationshaft manifestiert hätten, insbesondere ein lebensgefährlich erhöhter Blutdruck.
Brian Kellers Gesundheitszustand hat sich mit der Versetzung ins Gefängnis Zürich und in ein normales Haftregime rasch verbessert. Und was ebenfalls auffällt: Auch die Deliktserie nimmt ein Ende.
Seit sich Keller im Normalvollzug befindet, regelmässig Sport treiben, Kontakt mit den Mitinsassen pflegen und die Familie ohne Trennscheibe sehen darf, hat das wütende Aufbegehren schlagartig aufgehört.