Briefing aus Bern

Bund muss Wahl­resultate korrigieren, zweite Runden für den Ständerat – und das Parlament soll transparenter werden

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (252).

Von Philipp Albrecht, Dennis Bühler, Adrienne Fichter, Lukas Häuptli und Priscilla Imboden, 26.10.2023

Vorgelesen von Miriam Japp
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Seit 175 Jahren wird in der Schweiz regelmässig der National- und Ständerat neu gewählt. Noch nie gab es eine derartige Panne wie jene, die das Bundesamt für Statistik (BFS) gestern Mittwoch­mittag publik machte: Bei einer Kontrolle der Wahl­statistik stellte es einen Fehler bei der Berechnung der aggregierten nationalen Parteistärken fest.

Grund dafür sei eine fehlerhafte Programmierung im Datenimport­programm für die drei Kantone Appenzell Innerrhoden, Appenzell Ausserrhoden und Glarus, die ihre Daten in einem anderen Format übermitteln als die übrigen Kantone, sagte Amtsdirektor Georges-Simon Ulrich vor den Medien. Zwar hätten die drei Kantone korrekte Daten geliefert, doch habe das fehlerhafte Programm die Stimmen drei- bis fünffach gezählt. Am Dienstag­nachmittag habe man Departements­vorsteher Alain Berset informiert, der umgehend eine Administrativ­untersuchung eingeleitet habe, um die Prozesse zu analysieren und zu verbessern.

Auf die Sitzverteilung hat der Fehler zwar keine Auswirkungen. Wer sich am Sonntag über seine oder ihre Wahl freute, darf sich weiter freuen. Die Symbol­kraft dieser Panne aber ist in mehrfacher Hinsicht gewaltig.

Zunächst verändert es die Analyse der diesjährigen Wahlen, den politischen Diskurs. Davon betroffen sind sämtliche Parteien.

Seit letztem Sonntag wurden unzählige Berichte gesendet und Artikel verfasst über die vermeintliche Tatsache, die Mitte habe die FDP beim Wähleranteil überholt. Auch die Republik berichtete am Dienstag ausführlich über Wahlsieger Gerhard Pfister. Manche forderten, der Bundesrat müsse neu zusammen­gesetzt werden, sprich: Die Mitte solle einen FDP-Sitz erhalten, sobald Ignazio Cassis oder Karin Keller-Sutter zurücktritt.

Nun zeigt sich: Die Mitte (14,1 Prozent) hat gar nicht mehr Wähleranteile als die FDP (14,3 Prozent).

Die SVP legt um 0,6 Prozentpunkte weniger zu als gedacht und landet neu bei 27,9 Prozent (plus 2,3 Prozentpunkte im Vergleich mit 2019).

Die SP steigert sich gegenüber den letzten Wahlen nicht um 1,2, sondern um 1,5 Prozent­punkte und kommt auf 18,3 Prozent.

Die Grünen (9,8 Prozent, minus 3,4 Prozent­punkte, nicht minus 3,8) und Grünliberalen (7,6 Prozent, minus 0,2 Prozent­punkte, nicht minus 0,6) verlieren weniger, als das BFS am Sonntag ausgewiesen hat.

Das verändert das Bild doch beträchtlich:

Bei den Wähler­anteilen fällt der Rechtsrutsch markant weniger ins Gewicht als angenommen. SP und Grüne sind zusammen stärker als die SVP. Neben der SVP ist auch die SP als klare Wahlsiegerin zu bezeichnen.

Die Grünen haben zwar verloren, liegen aber nur ganz knapp unter der psychologisch wichtigen Zehn-Prozent-Marke.

Die Grünliberalen haben zwar viele Sitze, aber kaum Wähler­anteile verloren – weshalb ihr Präsident Jürg Grossen gestern sogleich die Frage aufwarf, ob nicht das Wahlsystem geändert werden müsste.

Ein katastrophales Licht wirft die Datenpanne auch auf die Digitalisierungs­kompetenzen beim Bund. Und das nicht zum ersten Mal, erinnert sei nur an die von der Republik aufgedeckte Faxaffäre beim Bundesamt für Gesundheit zu Beginn der Pandemie.

Vor drei Jahren zeigte eine ETH-Studie auf, wie anfällig herkömmliche, auf Papier basierende Wahlen und Abstimmungen für Cyber­angriffe sind – vor allem bei der Ergebnis­übermittlung von den Kantonen zum Bund. «Nun brauchte es nicht einmal einen Angriff, damit die Schweiz tagelang auf Basis falscher Resultate über die Folgen einer Wahl diskutiert», sagt Sicherheits­experte Christian Folini auf Anfrage der Republik. «Nun ist der Moment da, volle Transparenz, die ausschliessliche Verwendung von Software unter einer Open-Source-Lizenz und die volle Offen­legung aller eingesetzten IT-Komponenten zu verlangen.»

Auch der Föderalismus erweist sich ein weiteres Mal als Problem. Darauf hat die Republik im Zusammen­hang mit E-Voting schon vor zwei Wochen hingewiesen: «Wahlen sind Sache der Kantone», schrieben wir, «und diese haben die Hoheit über ihre IT-Systeme.» Zwar ist der jüngste Fehler nun nicht im Appenzell oder in Glarus passiert. Trotzdem stellt sich die Frage: Warum ist die Daten­erhebung und -übermittlung nicht in allen 26 Kantonen harmonisiert? «Im Zeitalter der Digitalisierung ist das kein Nice-to-have für eine funktionierende Demokratie, sondern ein Must-have», kommentiert Daniel Graf, Digitalisierungs­experte und Mitbegründer der Stiftung für direkte Demokratie.

Es ist offen, wie sich das Wahlfiasko auf die Glaub­würdigkeit auswirkt: auf die des Bundes und auf die von Wahlen in der Schweiz. Hilfreich ist es sicher nicht. Auch die Arbeit der Medien, deren Berichte drei Tage lang auf falschen Prämissen fussten, dürfte in Kreisen, die ohnehin schon zwischen Misstrauen und Verschwörungs­theorien schwanken, noch stärker hinterfragt werden.

Damit zum Briefing aus Bern.

Ständerat: Noch sind 13 Sitze frei

Worum es geht: Während im Nationalrat seit Sonntag­abend alle Sitze vergeben sind, braucht es für den Ständerat in neun Kantonen einen zweiten Wahlgang. Insgesamt sind noch 13 von 46 Sitzen offen. In den Kantonen Genf, Freiburg, Wallis und Tessin müssen jeweils beide Sitze noch besetzt werden, in Zürich, Aargau, Solothurn, Schaffhausen und Waadt ist noch einer frei.

Warum das wichtig ist: Man nennt den Ständerat zwar kleine Kammer, doch seine Entscheide sind mindestens so folgenschwer wie die des Nationalrates. Weil es 200 Nationalrätinnen, aber nur 46 Ständeräte gibt, verteilt sich mehr Macht auf weniger Leute und darum gilt ein Sitz im «Stöckli» als prestige­trächtiger. Spannend wird der zweite Wahlgang vor allem im Kanton Zürich, wo der SP-Mann Daniel Jositsch seinen Sitz am Sonntag souverän verteidigen konnte. Dagegen verliert der Freisinn nach 40 Jahren seinen Zürcher Ständerats­sitz: FDP-Kandidatin Regine Sauter zog sich am Montag zugunsten von Gregor Rutz von der SVP zurück. Rutz tritt nun gegen Tiana Moser (GLP) an, deren Partei seit dem Rücktritt von Verena Diener 2015 nicht mehr im Ständerat vertreten ist. In Bern wurde am Montag klar, dass Werner Salzmann (SVP, bisher) und Flavia Wasserfallen (SP, neu) in stiller Wahl gewählt sind: Beide hatten am Sonntag zwar das absolute Mehr verfehlt. Weil anschliessend aber alle anderen Kandidatinnen auf einen zweiten Wahlgang verzichteten, vertreten sie ihren Kanton die nächsten vier Jahre im Ständerat.

Wie es weitergeht: Die zweiten Wahlgänge werden am 12. November (Genf, Waadt, Freiburg, Wallis) und am 19. November (in den übrigen Kantonen) durchgeführt. Bereits dreieinhalb Wochen später wählt das neue Parlament die Nachfolge von SP-Bundesrat Alain Berset. Sollte Daniel Jositsch in die Regierung gewählt werden, müsste Zürich darauf erneut eine Wahl für Jositschs Nachfolge im Ständerat durchführen.

Neuer Staats­sekretär tritt Stelle im VBS nicht an

Worum es geht: Jean-Daniel Ruch wird doch nicht Direktor des neu geschaffenen Staats­sekretariats für Sicherheits­politik. Er habe sich «nach reiflicher Überlegung» zu diesem Schritt entschieden, schreibt das Departement für Verteidigung, Bevölkerungs­schutz und Sport (VBS) in einer Medienmitteilung. Zuvor hat Radio SRF am Mittwoch­morgen darüber berichtet. Am 15. September hatte Bundesrätin Viola Amherd den 60-jährigen Diplomaten als neuen Staatssekretär vorgestellt. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine sollte er sich um die zivilen Aspekte der Landes­verteidigung innerhalb des VBS kümmern.

Warum das wichtig ist: Staats­sekretärinnen sind die rang­höchsten Beamtinnen und Diplomatinnen. Unter anderem vertreten sie im Auftrag des Bundesrats die Schweiz an inter­nationalen Verhandlungen. Zuweilen werden sie als «Schatten­ministerinnen» bezeichnet. Bislang gab es fünf Staats­sekretariate, die seit Anfang 2023 allesamt von Frauen geführt werden. Im Vorfeld der Ernennung Ruchs galt ebenfalls eine Frau als klare Favoritin. Beobachter rechneten mit der Ernennung der finnisch­stämmigen Pälvi Pulli, Chefin Sicherheits­politik im VBS. Die Wahl Ruchs galt deshalb als Über­raschung. Ruch war lange für das Aussen­departement tätig, unter anderem als Botschafter in Israel. Er soll auch Gespräche mit Hamas-Vertretern geführt haben. Ob sein Rückzug damit in Verbindung steht, ist nicht bekannt.

Wie es weitergeht: Laut VBS-Mitteilung wird die Stellen­besetzung wieder aufgenommen und in den kommenden Wochen erfolgen.

Asylgesuche afghanischer Frauen und Kinder nehmen zu

Worum es geht: Das Staats­sekretariat für Migration (SEM) hat im September 3966 Asylgesuche registriert. Im Vergleich zum August ist das eine Zunahme um rund 32 Prozent. Rund 700 Gesuche entfallen auf Personen mit afghanischer Staats­angehörigkeit. Es handelt sich dabei laut Mitteilung um Zweitgesuche von Frauen und Kindern, die bereits seit längerem in der Schweiz leben, aber lediglich vorläufig aufgenommen sind.

Warum das wichtig ist: Weil sich nach der Macht­übernahme der Taliban die Menschenrechts­lage in Afghanistan dramatisch verschlechterte und die Grundrechte der Frauen massiv eingeschränkt wurden, änderte das Staats­sekretariat für Migration im Juli seine Praxis. Seither gewährt es afghanischen Frauen und Mädchen grund­sätzlich Asyl statt wie zuvor eine vorläufige Aufnahme. Die meisten Männer aus Afghanistan werden weiterhin nur vorläufig aufgenommen. Die Schweiz folgte damit den Empfehlungen der Europäischen Asylagentur. Die Praxis­änderung wurde im September von der SVP und der FDP harsch kritisiert. Letztere warf dem Bund vor, die Praxis­änderung «still und heimlich» eingeführt zu haben, und warnte vor «Sekundär­migration». Das SEM hielt daraufhin fest, es sei der «üblichen Informations­politik» gefolgt und die Wahrscheinlichkeit der Sekundär­migration sei relativ klein.

Wie es weitergeht: Für die politische Debatte dürfte entscheidend sein, wie sich die Zahl der Asyl­gesuche bis Ende Jahr entwickelt. In der Asyl­debatte wird immer wieder auf die Gesamt­zahl der jährlichen Gesuche hingewiesen.

Parlamentarier sollen Einkünfte teilweise offenlegen

Worum es geht: Die Staats­politische Kommission des Ständerats will mehr Transparenz bei den Einkünften aus Neben­tätigkeiten von Parlamentarierinnen. Sie unterstützt eine parlamentarische Initiative der Genfer Grünen-Ständerätin Lisa Mazzone, die verlangt, dass zwar nicht der genaue Betrag, aber eine Spannbreite dieser Einkünfte angegeben werden muss. Die Skala beginnt bei «0 bis 6000 Franken» pro Jahr und endet bei «über 200’000 Franken».

Warum das wichtig ist: Wer Mitglied der Bundes­versammlung ist, macht das offiziell neben­beruflich. Zwar werden Parlamentarier im Schweizer Milizsystem relativ grosszügig finanziell entschädigt, dennoch wird daneben mindestens eine berufliche Tätigkeit erwartet. Die Realität ist aber, dass immer weniger Parlamentarierinnen in ihren angestammten Berufen tätig sind. Statt­dessen übernehmen sie Mandate von Unter­nehmen und Interessen­gruppen, welche die Politiker als Lobbyisten einspannen. Am lukrativsten sind in der Regel jene Posten, die Vertretern der SVP, FDP und Mitte angeboten werden. Besonders beliebt sind Mandate in der Gesundheits­branche. Die Plattform Lobby­watch zählt hier alleine in der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit über 70 Mandate. Wegen der bürgerlichen Übermacht in National- und Ständerat blieben Vorstösse für mehr Transparenz bei den Einkünften bislang chancenlos. Mazzones Vorschlag ist in zweifacher Hinsicht ein Kompromiss: Erstens müsste der Lohn nicht exakt angegeben werden. Und zweitens würde die Deklarations­pflicht nur für Neben­tätigkeiten gelten, nicht aber für den Hauptberuf.

Wie es weitergeht: Bevor die Initiative ins Plenum kommt, muss die Schwester­kommission des Nationalrats grünes Licht geben. Im Ständerat wird bereits zuvor über einen ähnlichen Vorstoss des Tessiner Lega-Nationalrats Lorenzo Quadri abgestimmt. Dieser verlangt, dass die Einkünfte derjenigen Rats­mitglieder transparent gemacht werden, die im Verwaltungsrat oder in der Leitung einer Kranken­kasse tätig sind. Der Nationalrat hat dem Anliegen im März zugestimmt.

TV-Promis der Woche

Zwei aus dem Schweizer Fernsehen bekannte Männer haben am Sonntag den Sprung in den Nationalrat nur knapp verpasst. Sie landeten auf dem ersten Ersatzplatz ihrer Partei­listen. Es sind dies Ueli Schmezer (SP Bern), langjähriger Moderator der SRF-Sendung «Kassensturz», und Bau­unternehmer Olivier Imboden (Mitte Oberwallis), der in der TV-Serie «Tschugger» den mafiösen Baulöwen Rinaldo Fricker spielte. Die Chance ist da, dass sie im Verlauf der nächsten Legislatur in die grosse Kammer nachrutschen. Wie heisst es doch so schön: Politik ist Showbusiness.

In einer früheren Version schrieben wir, das Parlament werde seit 175 Jahren alle vier Jahre gewählt. Tatsächlich betrug die Legislatur­periode von 1848 bis 1931 aber bloss drei Jahre. Wir haben die Passage angepasst. Danke für den Hinweis aus der Verlegerschaft!

Illustration: Till Lauer

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