Briefing aus Bern

Was die Politik gegen die Stagflation tun will, wie die Neutralität in die Verfassung soll – und eine peinliche Video-Panne

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (197).

Von Reto Aschwanden, Dennis Bühler, Bettina Hamilton-Irvine, Lukas Häuptli und Priscilla Imboden, 23.06.2022

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Synthetische Stimme
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Es droht eine Stagflation: Immer lauter wird in Europa und den USA vor jenem ökonomischen Zustand gewarnt, in dem eine wirtschaftliche Stagnation und eine hohe Inflation zusammen­treffen. Ausgelöst wird eine Stagflation in der Regel durch ein unerwartetes Ereignis, das das Wirtschafts­wachstum bremst und gleichzeitig die Inflation anheizt.

Die Krux für die Wirtschafts­politik: Senkt eine Regierung die Steuern, um das Wachstum anzukurbeln, steigt die Inflation weiter an. Erhöht eine Notenbank die Zinsen, um die Inflation zu bremsen, hindert sie auch das Wirtschafts­wachstum.

In der Schweiz ist die Lage zurzeit zwar weniger düster als in anderen Ländern. Trotzdem aber haben die Ökonominnen des Bundes ihre Prognose vor einer Woche nach oben korrigiert – sie erwarten im laufenden Jahr nun eine Teuerung von 2,5 statt 1,9 Prozent. Und die Schweizerische National­bank hat deshalb ihren Leitzins um einen halben Prozent­punkt erhöht, von –0,75 auf –0,25 Prozent.

Und die Parteien überbieten sich zurzeit mit Forderungen, wie die Bevölkerung entlastet werden könnte.

Die SVP scheiterte in der Sommer­session sowohl im National- als auch im Ständerat mit ihrem Vorschlag, die Steuern auf Benzin und Heizöl zu senken, um so den seit Anfang Jahr verzeichneten starken Preis­anstieg zu dämpfen.

Mehr Chancen dürfen sich die SP und die Mitte ausrechnen, die nun gemeinsame Sache machen: Sie haben Motionen mit jeweils mehr als 50 Unter­schriften eingereicht, über die das Parlament im September befinden wird. Ihre Forderungen: Alle Rentner sollen spätestens per 1. Januar 2023 den vollen Teuerungs­ausgleich erhalten. Und der Bund soll seinen Beitrag an die individuelle Prämien­verbilligung für das Jahr 2023 um 30 Prozent erhöhen, was insbesondere deshalb ins Gewicht fiele, weil die Krankenkassen­prämien im kommenden Jahr stark ansteigen dürften.

Bei beiden Parteien kursieren zur Abfederung der Inflation weitere Ideen. So will die SP jedem Haushalt pro Erwachsenen 260 Franken und pro Kind 130 Franken zukommen lassen – einen «chèque fédéral», der nach eigenem Gutdünken eingesetzt werden könnte, was den Konsum ankurbeln soll. Und die Mitte prüft gemäss Partei­präsident Gerhard Pfister einen Gutschein, der gezielt Haus­halten des Mittel­stands zugute­kommen soll.

Zugleich wollen die beiden Parteien – unterstützt von Grünen und Grün­liberalen – die Position des Preis­überwachers stärken. «Wir wissen zu wenig darüber, wie die Unter­nehmen momentan die Preise ausgestalten», sagt SP-National­rätin Nadine Masshardt. Zwar bestreite niemand, dass gewisse Preis­erhöhungen durch gestiegene Produktions­ausgaben, etwa höhere Energie­kosten, gerechtfertigt sein könnten. «Leider gibt es aber auch ungerechtfertigte Preis­erhöhungen, und die schaden direkt den Konsumenten.»

Und damit zum Briefing aus Bern.

Krankenkassen: Nationalrat will Prämien­verbilligungen ausbauen

Worum es geht: Der Bund und die Kantone sollen jährlich 2,2 Milliarden mehr in die Verbilligung der Krankenkassen­prämien investieren. Die Kantone sollen zudem verpflichtet werden, einen minimalen Gesamt­betrag für die Prämien­verbilligung einzusetzen. Das hat der Nationalrat am Donnerstag letzter Woche als Kern des indirekten Gegen­vorschlags zur Prämien-Entlastungs-Initiative beschlossen. Zustande kam dieses Paket dank einer Mehrheit aus Mitte-links und Teilen der FDP.

Warum Sie das wissen müssen: Nachdem die Krankenkassen­prämien in den vergangenen vier Jahren nur leicht gestiegen sind, rechnet die Branche für das kommende Jahr mit einem happigen Anstieg von 7 bis 9 Prozent. Der Krankenkassen­verband Santésuisse spricht sogar von möglicher­weise mehr als 10 Prozent. Einen solchen Anstieg gab es zuletzt 2003. Die SP verlangt mit ihrer Initiative zur Prämien­entlastung, niemand solle mehr als ein Zehntel seines Einkommens für die Krankenkassen­prämien zahlen müssen. Wird diese Grenze überschritten, gibt es eine Prämien­verbilligung, die der Bund zu zwei Dritteln bezahlen soll, die Kantone zu einem Drittel. Dem Nationalrat geht das zu weit, er empfahl, die Initiative abzulehnen.

Wie es weitergeht: Die Vorlage geht nun an den Ständerat, der die Initiative gemeinsam mit der Kostenbremse-Initiative der Mitte behandeln wird.

Europapolitik: Bundesrat verlangt von der EU mehr Flexibilität

Worum es geht: Der Bundesrat hat am letzten Freitag in einer europa­politischen Klausur die Sondierungs­gespräche mit der EU diskutiert. Seine Erkenntnis: Es brauche mehr solche Gespräche. Die Regierung will diese «im Hinblick auf mögliche Verhandlungen» intensivieren, wie sie mitteilt. Die EU habe zwar Interesse gezeigt an der Paket­lösung, die die Schweiz vorschlage, sie beharre aber weiterhin auf ihren Positionen bei den institutionellen Fragen. Um den bilateralen Weg weiter­zuführen, brauche es «auch von der EU mehr Flexibilität».

Warum Sie das wissen müssen: Die Beziehungen zwischen der Schweiz und ihrem wichtigsten Handels­partner EU befinden sich in einer Sackgasse, seit der Bundesrat die langjährigen Verhandlungen um das Rahmen­abkommen abrupt beendet hat. Seither ist die Schweizer Forschung und Wissenschaft von der Teilnahme an den EU-Forschungs­programmen ausgeschlossen, die Handels­beziehungen drohen zu erodieren. Im Februar erklärte der Bundesrat, wie er mit der EU weiter­fahren möchte. Er schlägt eine Paket­lösung vor, die neben den bisherigen Marktzugangs­abkommen auch ein Gesundheits-, ein Lebensmittel­sicherheits-, ein Forschungs-, ein Bildungs- und ein Strom­abkommen beinhalten könnte. Seither hat Staats­sekretärin Livia Leu zwei Gesprächs­runden in Brüssel geführt. Auf die Gespräche folgte ein Brief­austausch zwischen Bern und Brüssel.

Wie es weitergeht: Die Knackpunkte bleiben die gleichen wie seit bald einem Jahrzehnt: Wie passt die Schweiz ihr Recht an die EU-Gesetz­gebung an, die den Markt­zugang regelt? Wer entscheidet im Streitfall? Wie kann der Schweizer Lohnschutz, den die EU kritisiert, bewahrt werden? Alt-Staats­sekretär Mario Gattiker versucht im Auftrag des Bundesrats, mit den Sozial­partnern den Spielraum auszuloten für Lösungen beim Lohn­schutz. Der Unmut im Parlament über die Blockade steigt. Es ist unwahrscheinlich, dass es rasch weitergeht, denn der Bundesrat spielt auf Zeit.

Neutralität: Blocher macht Ernst mit Initiative

Worum es geht: Der ehemalige SVP-Bundesrat Christoph Blocher will im nächsten Herbst mit der Unterschriften­sammlung für seine Neutralitäts­initiative beginnen. Diese sieht vor, die «integrale Neutralität» der Schweiz in der Bundes­verfassung zu verankern. In Kriegen dürfe das Land weder militärisch noch mit Sanktionen Partei ergreifen, fordert Blocher. Heute steht in der Verfassung, dass der Bund Massnahmen trifft zur Wahrung der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz.

Warum Sie das wissen müssen: Seit der Bundesrat sich Ende Februar für die Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland entschieden hat, debattiert die Schweiz über die Neutralität. Die SVP hat sich mit Verweis auf die Neutralität stets gegen Sanktionen ausgesprochen, alle anderen Parteien unterstützen diese. Bundes­präsident Ignazio Cassis hat in diesem Zusammen­hang den Begriff der kooperativen Neutralität in die Diskussion eingeführt. Historiker Sacha Zala sagte: «Das Geniale an der Neutralität ist, dass sie eine leere Hülse ist, die man füllen kann, wie man will. Damit konnte man schon immer jede politische Handlung begründen. Und ihr Gegenteil.» Die Übernahme der EU-Sanktionen sei deshalb kein Paradigmen­wechsel in der Schweizer Neutralitäts­politik.

Wie es weitergeht: Blocher will die Initiative im Sommer bei der Bundes­kanzlei zur Vorprüfung einreichen; im Herbst soll die Unterschriften­sammlung starten.

Erbschafts­steuer: Juso nehmen neuen Anlauf – fürs Klima

Worum es geht: Die Jungpartei der SP lanciert eine Volks­initiative, um Erbschaften im Wert von mehr als 50 Millionen Franken mit 50 Prozent zu besteuern. Zugute­kommen sollen die zusätzlichen Einnahmen dem Kampf gegen den Klima­wandel. An ihrer Delegierten­versammlung wählten die Juso am Sonntag zudem einen Nachfolger für Ronja Jansen, die nach drei Jahren als Präsidentin zurücktritt: den Zürcher Kantonsrat und Klima­aktivisten Nicola Siegrist. Er wolle versuchen, Parteien, Gewerkschaften und Bewegungen wieder näher zueinander­zubringen, sagte der 25-Jährige.

Warum Sie das wissen müssen: Von 2005 bis 2020 hat sich der Gesamtwert der in der Schweiz vererbten Vermögen auf rund 95 Milliarden Franken verdoppelt – das ist so viel, wie der Bund jährlich für die Finanzierung aller Sozial­versicherungen eintreibt. Dem stehen gemäss Wirtschafts­professor Marius Brülhart Erbschaftssteuer­zahlungen von lediglich 1,34 Milliarden Franken gegenüber. Doch vor sieben Jahren verwarf die Stimm­bevölkerung eine Volks­initiative, die Erbschaften über 2 Millionen Franken zu 20 Prozent besteuern wollte, mit 71 Prozent Nein-Stimmen. Von der nun lancierten «Initiative für eine Zukunft» sollen gemäss Juso nur die rund 2000 reichsten Menschen des Landes betroffen sein. «Die Klimakrise ist eine Ungleichheits­krise», sagte Ronja Jansen: «Die Zerstörung unserer Zukunft wird von den Reichsten voran­getrieben, doch den Preis zahlen andere.»

Wie es weitergeht: Die Unterschriften­sammlung soll im Herbst beginnen.

Covid-Impfstoffe: Bundesrat muss Verträge neu verhandeln

Worum es geht: Der Bund kann für das Jahr 2023 nicht wie vorgesehen je 7, sondern vorerst nur je 3,5 Millionen zusätzliche Dosen der beiden Corona-Impfstoffe von Moderna und Pfizer/Biontech beschaffen. Weil das Parlament den Verpflichtungs­kredit von 780 auf 560 Millionen Franken kürzte, muss der Bundesrat nun mit beiden Herstellern neue Verträge aushandeln.

Warum Sie das wissen müssen: Die Frage, wie viele Impfstoff­dosen im kommenden Jahr wohl benötigt werden, führte in der Sommer­session zu einem längeren Streit im Parlament. Während der Nationalrat gegen böse Überraschungen gefeit sein wollte, drängte der Ständerat darauf, von der «Vollkasko­strategie» wegzukommen. Auch in der Einigungs­konferenz blieben die Differenzen bestehen. Weil sich in solchen Fällen gemäss den Budgetierungs­regeln die günstigere Lösung durchsetzt, siegte der Ständerat. In der Schweiz sind nach wie vor knapp 30 Prozent der Bevölkerung ungeimpft. Derweil hat eine weitere Welle das Land erfasst: Die aktuellen Fallzahlen sind klar höher als im Sommer 2020 und im Sommer 2021. Das hat vor allem mit den beiden Omikron-Unter­varianten BA.4 und BA.5 zu tun, die besonders ansteckend sind.

Wie es weitergeht: Ob die Verhandlungen mit Moderna und Pfizer/Biontech erfolgreich sein werden, ist offen. Der Bund könne keine Garantien geben, dass die Vorgaben des Parlaments eingehalten werden können, sagte Finanz­minister Ueli Maurer.

Panne der Woche

Wer die Schweiz verlässt, wird belohnt: Das ist die Botschaft eines kurzen Zeichen­trickfilms, mit dem das Staats­sekretariat für Migration (SEM) seit September 2020 versucht, Asyl­bewerberinnen eine freiwillige Rückkehr in ihr Herkunfts­land schmackhaft zu machen. In gut dreieinhalb Minuten erfährt darin ein dunkelhäutiger Asyl­bewerber namens Fulan al-Fulani, dass ihm die Schweiz Geld gibt, wenn er freiwillig geht. Al-Fulani will sich das erst einmal überlegen. Doch die Frau von der Rückkehr­beratung macht ihn lächelnd darauf aufmerksam, «dass ein rascher Rückkehr­entscheid belohnt wird». Dass das SEM nun auch eine ukrainische Version auf seinen Youtube-Kanal gestellt hat, sorgt für Empörung: Erstens seien Ukrainerinnen nicht dunkel­häutig und zweitens erhielten sie nicht Asyl, sondern den Schutz­status S, sagt eine ukrainische Anwältin im «Blick». Zudem sei es «zynisch und grausam», Frauen und Kindern nahezulegen, in ein Land zurück­zukehren, in dem Bomben fallen und Frauen vergewaltigt werden. Das SEM nahm das Video umgehend vom Netz und bezeichnete das Ganze als Panne. Allerdings richtet sich das Video nach wie vor in anderen Sprachen an Asyl­bewerberinnen verschiedener Nationen. Die Botschaft an sie ist immer noch: Je schneller ihr geht, desto besser.

Illustration: Till Lauer

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