Briefing aus Bern

Gelöschte E-Mails in der Berset-Affäre, Nationalrat will Zugang zu EU-Forschung erkaufen – und ein Schritt hin zu eigen­ständigen Sanktionen

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (196).

Von Dennis Bühler, Bettina Hamilton-Irvine, Priscilla Imboden und Cinzia Venafro, 16.06.2022

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Synthetische Stimme
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Es war Ende 2019, und Innenminister Alain Berset stand kurz davor, sich der Gesamt­erneuerungswahl des Bundesrats zu stellen, da versuchte eine ehemalige Geliebte, ihn zu erpressen. Der SP-Politiker erstattete Anzeige. Die Frau, eine Musikerin, wurde an ihrem Wohnort verhaftet und später zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt.

Der Fall sorgte für Schlagzeilen, die «Weltwoche» und die «NZZ am Sonntag» berichteten teils mit intimen Details darüber. Auch die Geschäfts­prüfungs­kommissionen von National- und Ständerat (GPK) nahmen sich des Falls an und fragten: Hat die Bundes­anwaltschaft Bundesrat Berset bevorzugt behandelt? War der Arbeits­aufwand seiner Mitarbeiter angemessen, um Berset und das Amt vor Reputations­schäden zu schützen? Hat Berset die Bundesrats­limousine samt Chauffeur nach einem Treffen mit der Frau unrecht­mässig verwendet? Und war schliesslich der Einsatz der Elite-Polizei­truppe Tigris angemessen, die bei der Verhaftung der Frau anwesend war?

In ihrem Bericht kommen die GPK zum Schluss, dass alles mit rechten Dingen zuging. Die Einsatz­truppe Tigris habe sich im Hintergrund gehalten «für den Fall einer möglichen Eskalation». Die Bundespolizei habe «wie üblich» gehandelt. Die Rückfahrt von einem privaten Anlass in der Limousine sei legal gewesen. Ebenso sei der Einsatz von Stabs­mitarbeitenden «geringfügig und der Sache angemessen» gewesen. Und schliesslich habe sich auch der Verdacht, Berset könnte eine private Hotel­rechnung zulasten des Bundes beglichen haben, als unbegründet erwiesen, teilt die GPK mit.

Fazit der Geschäftsprüferinnen: Das Ganze sei keine Staats-, sondern eine Privataffäre gewesen.

Doch Bundesrat Berset sieht sich bereits mit neuen Vorwürfen konfrontiert. Gemäss Recherchen des «Tages-Anzeigers» wurde die Korrespondenz zwischen Bersets engstem Mitarbeiter Lukas Bruhin und der Erpresserin gelöscht. Dies hat Bersets Departement in einer Sitzung mit dem Datenschutz- und Öffentlichkeits­beauftragten des Bundes, Adrian Lobsiger, selbst offengelegt. Stattgefunden hatte die Sitzung, weil der «Tages-Anzeiger» gestützt auf das Öffentlichkeits­gesetz Einsicht in die Unterlagen zum Erpressungs­fall gefordert hatte.

Das Innendepartement verweigerte die Herausgabe zunächst, dann erklärte die Behörde, dass sie keine Unterlagen besitze, und schliesslich gab Bersets Rechtschefin an, die E-Mails von Bruhin seien nach seinem Austritt aus der Bundes­verwaltung gelöscht worden oder nicht mehr auffindbar.

Und damit zum Briefing aus Bern.

Sanktionen: Die Schweiz soll selber entscheiden dürfen

Worum es geht: Unter dem Eindruck des russischen Feldzugs in der Ukraine hat der Nationalrat sich mit 136 zu 53 Stimmen für eine Ausweitung des Embargo­gesetzes ausgesprochen: Er will, dass die Schweiz künftig selber Sanktionen gegen Staaten, Personen, Unternehmen und Organisationen erlassen kann, wenn Menschen­rechte verletzt werden oder schwer gegen internationales Recht verstossen wird. Heute kann die Schweiz bloss Sanktionen übernehmen, die die Uno, die EU oder die Organisation für Sicherheit und Zusammen­arbeit in Europa (OSZE) beschlossen haben.

Warum Sie das wissen müssen: Seit Kriegs­beginn wurde die Schweiz immer wieder für ihre Sanktions­politik kritisiert. So zeigten Recherchen der Republik, dass in der Schweiz mehr als zwei Dutzend Personen unbehelligt blieben, die von der EU sanktioniert wurden – darunter Angehörige einer rechts­extremen Söldner­firma und Männer, die Feinde des Kremls vergiftet haben sollen. Nachdem Wirtschafts­minister Guy Parmelin im Nationalrat vergeblich vor einer «grundsätzlichen Abkehr von der bisherigen Politik» und langwierigen Rechts­streitigkeiten warnte, könnte sich das nun bald ändern.

Wie es weitergeht: Im September wird der Ständerat erneut über die Gesetzes­änderung befinden. Bei der ersten Beratung im Juni 2021 hatte er sich zwar für das Embargo­gesetz ausgesprochen, es aber abgelehnt, autonome Sanktionen möglich zu machen. Gut vorstellbar, dass der Krieg in der Ukraine zu einem Umdenken geführt hat. Dass der Ständerat mit der bundesrätlichen Sanktions­politik unzufrieden ist, zeigte sich nämlich am Dienstag: Er beauftragte die Kommission für Rechtsfragen, zu prüfen, ob zur Sperrung russischer Vermögens­werte eine Taskforce geschaffen werden soll. Dies fordert die SP schon seit Monaten.

Forschung: Nationalrat will Teilnahme am EU-Projekt Horizon erkaufen

Worum es geht: Kohäsions­zahlung gegen Teilnahme an den EU-Forschungs­kooperations­programmen – das verlangt der Nationalrat. Er hat am Montag einer Motion seiner aussenpolitischen Kommission knapp zugestimmt. Der Vorschlag entspricht einem Punkt des Stabilisierungs­abkommens, das die SP fordert. Die Mehrheit kam zustande, weil doch einige FDP-Nationalräte sich entweder enthielten oder dafür stimmten. Sie stellten sich damit gegen ihren Bundesrat Ignazio Cassis. Er wehrte sich gegen die Idee mit dem Argument, Brüssel sperre sich gegen Verhandlungen über die Teilnahme der Schweiz an EU-Programmen: «Wie können Sie mit jemandem verhandeln, der nicht verhandeln will?»

Warum Sie das wissen müssen: Die Teilnahme der Schweiz an den milliarden­schweren EU-Forschungs­programmen Horizon, Erasmus+, Euratom, ITER, Digital Europe rückt in die Ferne, da die EU diese bei den Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU als Pfand einsetzt. Der Bundesrat hat zwar über 1,2 Milliarden Franken gesprochen, um Forschende in der Schweiz alternativ zu unterstützen. Aber damit kann er die Teilnahme an europäischen Forschungs­programmen nicht ersetzen. Ansonsten spielt er auf Zeit: So hat Bundespräsident Ignazio Cassis auf das Angebot des EU-Vizekommissions­präsidenten Maroš Šefčovič, im Juni in die Schweiz zu reisen, geantwortet, der Termin passe ihm nicht.

Wie es weitergeht: Die Motion wird wohl im Herbst vom Ständerat beraten, wo sie abgelehnt werden dürfte. Die Annahme im Nationalrat ist aber ein deutliches Zeichen: Der Unmut über die Trägheit des Bundesrats, eine Lösung mit der EU zu finden, ist gross. Am Freitag führt der Bundesrat eine Aussprache zur Europa­politik durch, allenfalls gibt er danach weitere Schritte bekannt.

Sexualstrafrecht: Ständerat will Gefängnis für Rachepornografie

Worum es geht: Der Ständerat hat das revidierte Sexual­strafrecht gutgeheissen: Nein heisst Nein, Vergewaltiger müssen neu zwingend ins Gefängnis, zudem ist Rache­pornografie neu strafrelevant.

Warum Sie das wissen müssen: Die Revision des Sexual­strafrechts ist eine höchst kontrovers diskutierte Gesellschafts­frage, die in den letzten Jahren zahllose Debatten auslöste. Einig sind sich im Parlament alle, dass das geltende Sexual­strafrecht veraltet sei. Uneinig ist sich das Parlament, wie fortschrittlich es künftig sein will: ob es also nicht bloss eine Widerspruchs­lösung («Nein heisst Nein») einführen soll, sondern gar eine Zustimmungs­lösung («Nur Ja heisst Ja»). Vergangene Woche war die Ratslinke damit gescheitert. Der Ständerat hatte mit 25 zu 18 Stimmen für die Widerspruchs­lösung votiert, bei der sich strafbar macht, wer gegen den Willen eines Opfers handelt. Die Eidgenössische Kommission für Frauenfragen EKF und verschiedene Frauen­organisationen hatten eine «Nur Ja heisst Ja»-Lösung gefordert.

Wie es weitergeht: Die Vorlage geht nun in den Nationalrat. Dort wird die Ratslinke erneut versuchen, die Zustimmungs­lösung ins Gesetz zu schreiben.

Ukraine-Krieg: Ständerat ist gegen tiefere Benzinpreise

Worum es geht: Der Ständerat lehnt die SVP-Pläne zur Senkung der Benzinpreise ab. Er hat keine der vier entsprechenden Motionen gutgeheissen. Unter anderem forderte SVP-Präsident Marco Chiesa ein befristetes Entlastungs­paket, das die Mineralöl­steuer auf Treib- und Brennstoffe gesenkt hätte.

Warum Sie das wissen müssen: Angesichts des Krieges in der Ukraine haben sich die Mineralöl­preise stark erhöht, was die Treib- und Brennstoffe für den Strassen­verkehr sowie für Heizungen teurer gemacht hat. Die SVP will deshalb Vergünstigungen vom Bundesrat. Die Linke kritisiert die Vorstösse der SVP als «Subventionierung der Erdölindustrie». Angesichts der Klimakrise sei dies «das Letzte, was wir brauchen».

Wie es weitergeht: Heute Donnerstag debattiert der Nationalrat teils gleichlautende Vorstösse einzelner SVP-Mitglieder. Bisher fand die Partei aber keine Unterstützer für die Senkung der Benzinsteuer – nicht mal bei der FDP.

Rentenreform: Die Vorlage muss eine Zusatzrunde drehen

Worum es geht: Der Ständerat hat die Reform der beruflichen Vorsorge am Mittwoch nach einer dreistündigen Debatte für eine Extraschlaufe zurück in die Kommission geschickt. Diese soll einen neuen Vorschlag prüfen, wie der Zuschlag geregelt werden könnte, den Pensionierte in den ersten 15 Jahren nach Umsetzung der Reform erhalten würden.

Warum Sie das wissen müssen: Das Kernstück der Pensionskassen­reform ist die Senkung des Umwandlungs­satzes im obligatorischen Bereich der beruflichen Vorsorge von 6,8 auf 6 Prozent. Das bedeutet konkret, dass eine Rentnerin in Zukunft auf 100’000 Franken angespartes Alterskapital statt 6800 Franken Rente pro Jahr nur noch 6000 Franken bekommen wird. Der Nationalrat hat dieser und weiteren Anpassungen im letzten Dezember bereits zugestimmt. Noch offen ist aber die Frage, wie die dadurch entstehende Renten­lücke geschlossen werden soll. Mit dem neuen Vorschlag aus dem Ständerat liegen nun drei Varianten auf dem Tisch. Generell sieht der Ständerat eine grosszügigere Reform vor als der Nationalrat, um die Chancen an der Urne zu erhöhen.

Wie es weitergeht: Die Vorlage geht nun nochmals zurück in die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerats, bevor sie wieder im Plenum behandelt wird. Linke, Grüne und Gewerkschaften haben bereits angekündigt, dass sie das Referendum ergreifen werden, wenn der Ständerat die vom Nationalrat vorgegebene Stossrichtung bestätigt. Dann wird letztlich die Stimm­bevölkerung an der Urne über die Pensionskassen­reform entscheiden.

Gletscherinitiative: Ja zum indirekten Gegenvorschlag

Worum es geht: Am Mittwoch hat der Nationalrat dem indirekten Gegenvorschlag zur Gletscher­initiative zugestimmt. Er will über zehn Jahre 3,2 Milliarden aus dem Bundes­haushalt in den Klimaschutz stecken und das Netto-null-Ziel bis 2050 inklusive Zwischenzielen im Gesetz verankern.

Warum Sie das wissen müssen: Die Gletscher­initiative fordert ein Verbot von fossilen Brennstoffen ab 2050. Weil das dem Parlament und dem Bundesrat zu weit geht, haben sie jeweils einen direkten und einen indirekten Gegen­vorschlag ausgearbeitet. Letzterer würde direkt im Gesetz verankert, sofern die Initianten ihre Initiative zurückziehen und es kein Referendum gibt. So ginge es schneller vorwärts mit dem Schweizer Klimaschutz, denn die Massnahmen können deutlich schneller umgesetzt werden.

Wie es weitergeht: Bereits nächste Woche bespricht die Umwelt­kommission des Ständerats den indirekten Gegenvorschlag. Kommt die Vorlage unverändert durch die kleine Kammer, dürften die Initiantinnen ihre Initiative wohl zurückziehen. Es könnte dennoch zu einer Volks­abstimmung kommen, weil die SVP mit einem Referendum droht. Mehr zur Bedeutung dieses indirekten Gegenvorschlags lesen Sie hier.

Horn der Woche

SP-Ständerat Roberto Zanetti machte seinen Kollegen im Ständerat am Dienstag einen ungewöhnlichen Vorschlag: «Machen Sie einmal Pediküre mit dem Lötkolben oder mit einem Heissluft­gebläse, dann merken Sie, dass das Menschen­wohl auch eingeschränkt wäre.» Zanetti wollte damit auf das Leid der Kühe beim Enthornen aufmerksam machen. Um das Leid zu mildern, hatte er eine Motion für einen «Hörnerfranken» eingereicht, in der er fordert, dass jene Landwirtinnen belohnt werden, die ihren Kühen, Ziegen und Schafen die Hörner stehen lassen. Üblicherweise werden die Horn­anlagen den wenige Wochen alten Kälbern mit einem Brenneisen weggebrannt. Mitte-Ständerat Peter Hegglin, der diese Methode selber einsetzt, sagte, er habe nach der Amputation der Hörner nie bemerkt, dass seine Tiere unter Phantom­schmerzen leiden würden. Worauf Zanetti konterte: «Phantom­schmerz empfinden die Kälber und die Kühe, nicht der Bauer. Selbstverständlich haben Sie nie etwas gemerkt vom Phantom­schmerz.» Am Ende stimmte der Ständerat für Zanettis Motion: Pro Jahr sollen die Direktzahlungen dafür um etwa 20 Millionen aufgestockt werden, 20 Franken pro Kuh.

Illustration: Till Lauer

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