3,2 Milliarden haben oder nicht haben – das ist hier die Frage
Der Nationalrat will einen indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative und läutet damit einen Paradigmenwechsel ein. Auf die Initiantinnen wartet nun eine schwierige Entscheidung.
Von Elia Blülle, 15.06.2022
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Das Parlament erwacht aus der Schockstarre. Zum ersten Mal, seit die Stimmbevölkerung vor einem Jahr das CO2-Gesetz in die Tonne getreten hat, gibt es wieder Bewegung in der nationalen Klimaschutzdebatte.
Heute Mittwoch hat der Nationalrat den indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative mit 134 zu 56 Gegenstimmen angenommen.
Ähnlich wie es die Initianten für die Verfassung fordern, schreibt der Gegenentwurf das Netto-null-Ziel bis 2050 ins Gesetz. Die Schweiz dürfte demnach spätestens bis Mitte dieses Jahrhunderts nicht mehr CO2 in die Luft blasen, als sie gleichzeitig auf natürliche Weise und mit Technologien wie der CO2-Abscheidung (carbon capture and storage) absorbieren kann.
Ob die Emissionen in der Schweiz oder im Ausland reduziert werden sollten, lässt die grosse Kammer zum Missfallen des Initiativkomitees aber offen. Anders als die Volksinitiative stellt der Nationalrat dafür aber zusätzliche Milliarden Franken für den Klimaschutz aus der Bundeskasse in Aussicht:
Der Ersatz von fossilen Heizanlagen soll jährlich mit bis zu 200 Millionen Franken über einen Zeitraum von zehn Jahren subventioniert werden, insgesamt also mit 2 Milliarden.
Zusätzliche 1,2 Milliarden Franken sollen in die Entwicklung neuer Technologien fliessen und die Risiken für die Anfangsinvestitionen in öffentliche Infrastruktur – wie Fernwärmenetzwerke – absichern.
Der Nationalrat hat also beschlossen, über die nächsten zehn Jahre insgesamt zusätzliche 3,2 Milliarden Franken in den Klimaschutz zu investieren. Ein Epochenwechsel. Denn bisher haben sich die nationalen Klimaschutzmassnahmen immer selbst finanziert – etwa über die CO2-Abgabe auf Brennstoffe. Deswegen hatte der Bundesrat alle vorgeschlagenen Ausgaben für den Klimaschutz abgelehnt. Der Bundeshaushalt war tabu.
Doch der Nationalrat hat ihn nun überstimmt.
Erstaunlich ist das vor allem, weil auch die FDP mehr oder weniger geschlossen den indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative akzeptiert hat – und das, obwohl der ihr nahestehende Gewerbeverband alle Kompromisse zur Initiative ablehnt und der stellvertretende Verbandsdirektor Henrique Schneider vor wenigen Tagen in der NZZ sagte, das Parlament lasse sich gerade von «einer kleinen Gruppe von Extremisten unter Druck setzen».
Die Initiantinnen selbst stehen nun vor einer schwierigen Entscheidung:
Halten sie an der Initiative fest, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass sie bei einer Volksabstimmung am Ständemehr scheitern. Sie müssten mindestens sechs tendenziell konservative Kantone wie Glarus, Bern oder Aargau für sich gewinnen, um überhaupt eine Chance zu haben. Mission impossible.
Wenn überhaupt, dürfte dann der direkte Gegenvorschlag des Bundesrats gewinnen, der parallel zur Abstimmung käme, aber kaum Zähne hat.
Ziehen die Initianten ihren Vorstoss zugunsten des indirekten Gegenvorschlags zurück, könnte es zwar ebenfalls zu einer Abstimmung kommen, weil gegen den als Gesetz formulierten indirekten Gegenvorschlag ein Referendum möglich ist. Aber sie dürften dabei wohl auf unternehmerische Kreise wie den Wirtschaftsdachverband Economiesuisse zählen, und ein Volksmehr würde für einen Sieg reichen.
Das Komitee müsste jedoch eine sehr bittere Pille schlucken und die Hauptforderung aufgeben: das Verbot von fossilen Brennstoffen ab 2050.
Der Massnahmenkatalog des indirekten Gegenvorschlags sei minimal, aber zielführend, schreibt das Komitee der Gletscherinitiative. Michèle Andermatt, politische Verantwortliche, sagt gegenüber der Republik: «Ich bin erfreut über das Resultat. Damit ein Rückzug infrage kommt, darf die Vorlage im Ständerat aber nicht abgeschwächt werden.»
Bereits nächste Woche berät die Umweltkommission des Ständerats die Vorlage.
Die letzte Hürde wäre ein Referendum, das die SVP bereits angedroht hat. Ob sie es wirklich ergreift, ist fraglich. Denn die Partei dürfte nach den schlechten Erfahrungen bei den letzten nationalen Wahlen kaum an einer Klimadebatte im Wahljahr 2023 interessiert sein. Ausserdem müsste sie im Abstimmungskampf wohl auf die aktive Unterstützung der Erdöl- und Autolobby verzichten. Anders als beim gescheiterten CO2-Gesetz stehen keine Benzinabgaben zur Debatte, und der Flugsektor ist ausgeklammert.
Kommt der indirekte Gegenvorschlag unverändert durch, ist das der erste wirkliche Erfolg einer Klimaschutzinitiative in der Schweizer Geschichte.
Fundamental auf den Kopf stellen würde die Schweizer Klimapolitik für die nächsten 30 Jahre aber nur ein Verbot von fossilen Brennstoffen ab 2050.
3,2 ziemlich sichere Milliarden Franken für den Klimaschutz – oder volles Risiko für ein Verbot fossiler Energie?
Für die Initiantinnen ist die Lage komfortabel ungemütlich.