Binswanger

Ruppige Kurskorrektur

Die Schweizer Nationalbank erhöht die Zinsen, um die Inflation einzudämmen. Es gibt die üblichen Sieger – und Verliererinnen. Doch es wäre auch anders gegangen.

Von Daniel Binswanger, 18.06.2022

Synthetische Stimme
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Es war ein Paukenschlag, mit dem man in dieser Form kaum hatte rechnen können: Am Donnerstag­morgen trat das Direktorium der Schweizerischen National­bank (SNB) vor die Presse und kündigte die Erhöhung des SNB-Leitzinses um einen halben Prozent­punkt an, von –0,75 Prozent auf –0,25 Prozent. Dass die Notenbank mit einer Zins­erhöhung auf die steigende Inflation und die auch in anderen Währungs­räumen bereits erfolgte (USA) oder angekündigte Abbremsung des Preis­anstieges (Eurozone) reagieren würde, ist keine Über­raschung. Dass die SNB jedoch so schnell und gleich mit einem Zins­schritt von 0,5 Prozent reagiert, hingegen schon.

Die Nationalbank nimmt die erste Zinserhöhung seit 15 Jahren vor: ein Epochen­wechsel. Warum erfolgt nun diese ruppige Kurs­korrektur? Was sagt sie aus über die SNB-Prioritäten? Und welche Folgen wird sie haben?

Es entsteht der Eindruck, als würde ein neues wirtschafts­politisches Kapitel eröffnet: Geldpolitik in der Schweiz ist seit mehr als 10 Jahren, als im September 2011 die Wechselkurs-Untergrenze von 1.20 Franken für einen Euro eingeführt wurde, in erster Linie Währungs­politik. Es geht darum, die Franken­stärke durch Leitzinsen und Devisenmarkt-Interventionen der SNB möglichst abzumildern, den Schweizer Franken im Verhältnis zum Euro und zum Dollar möglichst schwach bleiben zu lassen – und so die Export- und damit die Gesamt­wirtschaft zu begünstigen. Die Franken­untergrenze von 1.20 musste zwar 2015 aufgegeben werden, aber bis heute interveniert die SNB immer wieder an den Devisen­märkten, um den Schweizer Franken weniger stark aufwerten zu lassen und zu verhindern, dass er mit dem Euro Parität erreicht.

Der Franken unterliegt einem konstanten starken Aufwertungs­druck, da die Schweiz grosse Leistungs­bilanz­überschüsse hat, also viel mehr Güter und Dienst­leistungen ins Ausland exportiert als importiert und deshalb sehr viel mehr Geld aus dem Ausland einnimmt, als es Zahlungen ans Ausland abführt. Die SNB hat diesen Druck aufgefangen, indem sie massive Währungs­reserven aufgebaut und ihre Bilanz immer weiter aufgebläht hat. Heute sitzt sie auf Währungs­reserven von gegen 1000 Milliarden Franken, was rund 140 Prozent des Schweizer Brutto­inland­produkts entspricht – ein Weltrekord.

Jetzt allerdings wird ein radikaler Strategie­wechsel eingeleitet: Zum ersten Mal seit 2015 führt die SNB einen Leitzins ein, der höher liegt (bei –0,25 Prozent) als der aktuelle Einlagezins der EZB (bei –0,5 Prozent). Das führt automatisch dazu, dass der Aufwertungs­druck gegenüber dem Euro noch stärker zunimmt.

Nicht zufälligerweise hat Nationalbank­präsident Thomas Jordan gemeinsam mit dem Zins­schritt bekannt gemacht, dass die SNB den Franken nicht mehr als überbewertet betrachte. Das heisst im Klartext: Die Schweizer Währung wird zur Aufwertung freigegeben. Die Devisen­märkte haben sofort reagiert. Der Euro fiel am Donnerstag unmittelbar von 1.04 auf 1.02 Franken. Die Parität ist praktisch hergestellt. Das dürfte erst der Anfang sein.

Mehr als 10 Jahre lang verfolgte die SNB eine Strategie der möglichst effizienten Franken­abwertung. Jetzt kommt de facto die Strategie der Franken­aufwertung – mit ungewissen Folgen.

Aus Sicht der Inflationsbekämpfung ist diese Aufwertung sehr wünschens­wert. Der Preisanstieg in der Schweiz ist weitest­gehend ein importierter Preisanstieg. Die Schweizer Konsumenten­preise stiegen im Mai im Vergleich zum Vorjahr um 2,9 Prozent. Allerdings kam diese Teuerung, die im Vergleich zur Inflation in der Eurozone und in den USA relativ bescheiden ist, nur deshalb zustande, weil die Preise von Import­gütern um 7,4 Prozent zugenommen hatten. Die Inland­güter verteuerten sich lediglich um 1,5 Prozent und lagen somit komfortabel im Bereich des geldpolitischen Stabilitäts­ziels von unter 2 Prozent. Die Aufwertung des Frankens senkt die Preise der eingeführten Waren – und reduziert entsprechend die Import­güter­inflation. Die Franken­stärke wird vom Fluch zum Segen für die Preis­stabilität.

Es hätte deshalb auch eine andere Möglichkeit gegeben, die Schweizer Inflation zu senken – den Abbau von Währungs­reserven. Thomas Jordan hat diese Option zwar explizit erwähnt, aber offensichtlich ist sie nicht das Mittel der ersten Wahl. Auf den ersten Blick scheint das erstaunlich: Jahrelang war die massive Bilanz­ausweitung der SNB ein extrem umstrittenes Politikum. Jetzt ergäbe sich die Gelegenheit zu einer Reduktion der Bilanz – und sie wird nicht ergriffen, jedenfalls nicht prioritär. Stattdessen zieht man in der Schweiz die Kredit­schraube an – mit einem dämpfenden Effekt nicht nur für die Teuerung, sondern auch für die Schweizer Konjunktur.

Ein Grund für diese Strategie dürfte darin liegen, dass die SNB von den Negativ­zinsen weg will – und dass der Leitzins wieder zum geldpolitischen Haupt­instrument werden soll. Die Zinssenkungen, die seit 15 Jahren Schritt um Schritt vollzogen wurden, um der Deflation entgegenzutreten, stossen in der Nähe von –1 Prozent an eine Untergrenze. Man kann den Zinssatz nicht beliebig unter null drücken. Die Leitzins­senkungen mussten auch deshalb ergänzt werden durch direkte Geldmarkt­interventionen der Notenbanken – im Fall der Schweiz durch Zukäufe von Devisen und den Aufbau von Währungs­reserven im grossen Stil.

In der Gegenrichtung hingegen hat die Nationalbank nun allen Spielraum: Sie kann den Leitzins nach Gutdünken erhöhen und muss sich mit einem Abbau der Nationalbank-Aktiven nicht unbedingt aufhalten. Wenn der Realzins in der Schweiz höher ist als in anderen Währungen, steigt der Frankenkurs fast zwingend.

Das Problem dabei ist jedoch, dass höhere Zinsen und weniger Exporte die Schweizer Konjunktur­entwicklung belasten. Man scheint bei der National­bank davon auszugehen, dass die helvetische Wirtschaft diese Belastung problemlos wegstecken kann, weil die Auftrags­bücher voll sind und die Arbeits­losigkeit auf einem Tiefst­stand steht.

Allerdings ist die Schweizer Wirtschaft immer noch in einer Post-Covid-Erholungsphase. Für eine hausgemachte Überhitzung gibt es wenig Anzeichen. Die Lohnentwicklung beispiels­weise ist immer noch moderat. Was geschieht, wenn der Russland-Ukraine-Krieg, hohe Energiepreise und unterbrochene Lieferketten zu einer globalen Rezession führen – und die Zinserhöhungen die Schweizer Investitions­tätigkeit unnötig abwürgen? Dieses Risiko ist man offensichtlich in Kauf zu nehmen gewillt.

Einen eindeutigen Segen stellen die Zins­erhöhungen vor allem für die Banken dar. Ihre Geschäfts­modelle leiden seit Jahren unter den Negativ­zinsen. Je schneller die Geldpolitik davon wegkommt, desto besser aus ihrer Sicht. Das Lob von sämtlichen Finanzmarkt­experten war denn auch überwältigend. Das muss jedoch nicht bedeuten, dass der Zins­schritt für das gesamt­wirtschaftliche Gleich­gewicht tatsächlich richtig ist.

Durch ihr schnelles und entschiedenes Handeln will die Nationalbank die Schweizer Inflations­erwartungen jedenfalls dezidiert von den Eurozonen-Inflations­erwartungen entkoppeln. Das bedeutet zweierlei. Erstens: Sie ist pessimistisch, was die künftige Inflations­entwicklung in der Eurozone betrifft. Zweitens: Sie ist bereit, eine hohe Franken­aufwertung in Kauf zu nehmen. Die SNB bekommt jetzt euphorischen Applaus dafür, dass sie sich von der Europäischen Zentralbank «emanzipiert». Es könnte die Schweizer Realwirtschaft allerdings teuer zu stehen kommen.

Besonders trübe sind die Aussichten für die Schweizer Niedrig­verdiener. Die Lohn­entwicklung bleibt weiterhin moderat, aber die Hypothekar­zinsen ziehen an. Die Mieten werden deshalb voraus­sichtlich noch mehr steigen, die Nebenkosten sowieso. Eine höhere Inflation ist für Niedrig­verdienerinnen nur insoweit ein Problem, als die Löhne nicht im Gleichschritt steigen. Höhere Zinsen jedoch werden auf die Kaufkraft der Niedrig­verdiener durchschlagen – ohne Kompensation bei den Einkommen.

Die SNB kehrt zu einer sehr traditionellen Prioritäten­ordnung der Geldpolitik zurück: Der Finanz­platz jubelt, die Industrie macht gute Miene zum bösen Spiel, die Gewerkschaften sind entsetzt. Vorderhand ist die Lage undramatisch, aber die Wende ist vollzogen. Am besten wäre es, die Situation würde sich schnell und ohne einschneidende weitere Massnahmen normalisieren. Doch glauben mag das niemand mehr.

Illustration: Alex Solman

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