Gestohlenes Leben, gebrochenes Herz: Tanja Maljartschuk, geboren in Iwano-Frankiwsk, im Westen der Ukraine.

«Das russische Regime will die Wahrheit zersetzen»

Vor zwei Jahren begann Russlands Angriffs­krieg gegen die Ukraine. Ein Gespräch mit der ukrainischen Schriftstellerin Tanja Maljartschuk über die Bedrohung der freien Welt, den Schmerz der vergangenen Monate und die Schwierigkeiten, Worte zu finden.

Von Daniel Graf (Text) und Yasmina Haddad (Bilder), 24.02.2024

Vorgelesen von Danny Exnar
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Frau Maljartschuk, vor genau zwei Jahren, am 24. Februar 2022, begann der russische Überfall auf die gesamte Ukraine. In welcher Gefühlslage blicken Sie auf den zweiten Jahrestag dieses Angriffskrieges?
Warum immer über Gefühle reden? Gefühle sind das Thema, über das ich am wenigsten sprechen möchte. Ich bin innerlich so zerrüttet, so zerstört, ich empfinde jeden Tag einen solchen Cocktail aus Emotionen, der sich kaum in Worte fassen lässt. Wenn man über diesen Krieg spricht, ist es wichtig, über die Schicksale von Millionen von Menschen zu sprechen, über die Zukunft Europas oder gar der Welt. Natürlich soll man Emotionen wahrnehmen. Aber es kommt darauf an, möglichst nah an der Realität dieses Krieges zu bleiben. Zwei Jahre sind schon vergangen. Man ist schon mehrmals getötet worden und mehrmals auferstanden, selbst wenn man nicht unmittelbar an der Front ist. Keiner ist unversehrbar in diesem Krieg, und wir werden alle nicht unversehrt aus diesem Krieg rauskommen.

Sie sprechen die Versehrungen an, aber ich möchte Sie auf keinen Fall auf die emotionalen Aspekte festlegen. Noch einmal anders akzentuiert: Welche Gedanken dominieren bei Ihnen, wenn auch dieser Jahrestag vor Augen führt, dass diese Katastrophe nun schon zwei Jahre andauert und noch kein Ende in Sicht ist?
Zwei Dinge. Erstens, dass die Zeit extrem schnell vergeht, und nur einzelne Flecken des Lichtes oder des tiefen Leids sind mir aus diesen zwei Jahren in Erinnerung geblieben. Kürzlich las ich ein neues Gedicht der ukrainischen Dichterin Ija Kiwa, die jetzt in Lwiw lebt und ursprünglich aus Donezk stammt. Für sie fing der Krieg schon 2014 an. Sie schreibt: «Scherben der gestohlenen Jugend in den Händen und unter den Füssen (…) ansonsten kann ich mich nicht erinnern, wie ich mich fühle.» So geht es auch mir. Gestohlenes Leben, gebrochenes Herz.

Und der zweite Gedanke?
Welch grosse Veränderung sich auch in mir selbst vollzogen hat. Ich bin äusserst zielorientiert geworden. Mein emotionales Leben, das Leiden, depressive Zustände oder dass ich einfach so müde und erschöpft bin und mich eigentlich nur irgendwo einsperren und verstecken möchte, all das ist völlig zweitrangig geworden. Das Wichtigste ist, dass der Krieg endet, die Ukraine ihre Staatlichkeit behält und möglichst wenige Menschen noch sterben müssen. Das ist das Ziel, das ich im Blick habe, und alles andere hat für mich wenig Sinn. Nur das. Ich agiere und arbeite nur in diese Richtung, versuche, etwas zu tun, damit dieses Ziel näherrückt. Alles andere ist nicht wichtig.

Zur Person

Tanja Maljartschuk, 1983 in Iwano-Frankiwsk geboren, ist eine ukrainische Schrift­stellerin. Seit 2011 lebt sie in Wien. Der Grossteil ihres literarischen Werks wurde auf Ukrainisch geschrieben und von verschiedenen Über­setzerinnen ins Deutsche gebracht. Sie schreibt aber auch selbst auf Deutsch, etwa den Text «Frösche im Meer», mit dem sie 2018 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann. Ihr preisgekrönter Roman «Blauwal der Erinnerung» erschien soeben im anglophonen Raum. Diesen Sonntag, 25. Februar, ist sie im Literaturhaus Zürich zu Gast, am 29. Februar im Literaturhaus Basel.

Seit Beginn der russischen Gross­invasion bringen Sie als in Wien lebende Ukrainerin Ihre Perspektive und die Ihrer ukrainischen Landsleute in die west­europäischen Debatten ein, auf unzähligen Podien, in Interviews und Essays. Ist diese Aufgabe einfacher oder schwerer geworden?
Diese Aufgabe war nie einfach und wird auch nie einfach sein. Weil es schwierig ist, den Menschen im Westen die ukrainische Perspektive in ihrer Sprache zu erklären. Damit meine ich keine Sprach­barrieren, sondern unterschiedliche Erfahrungen. Man müsste im Westen wenigstens die Erfahrungen der Ukrainer im 20. Jahrhundert ein bisschen kennen, um ihre Perspektive zu verstehen. Ich habe für diese Aufgabe im Rahmen einer Rede in Osnabrück einen Namen erfunden: Ich bin eine Erfahrungs­übersetzerin. Das ist das Schwierigste: nicht einfach aus einer Sprache in die andere zu übersetzen, sondern Erfahrungen zu übersetzen.

An welche Erfahrungen denken Sie?
Die ukrainische Gesellschaft hat allein im 20. Jahrhundert mehrere Massaker erlebt und Deportations­wellen mit Millionen von Opfern. Bis jetzt kann keiner genau sagen, wie viele in den 1930er-Jahren im Holodomor, also am Hunger, gestorben sind. Danach gab es mindestens drei Vernichtungs­wellen an der ukrainischen Elite. Die wichtigsten Stimmen wurden systematisch physisch vernichtet, auf brutalste Art und Weise. In den heutigen west­europäischen Mehrheits­gesellschaften weiss man nicht, was es heisst, seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten immer wieder vernichtet und zum Opfer gemacht zu werden. Ich sage nicht, dass Opfer selbst immer makellos sind, die Ukrainer waren auch nie perfekt, Opfer sind selten perfekt. Dass sie permanent ums Überleben kämpfen müssen, kann ziemlich verrückte Menschen aus ihnen machen. Ich sehe das auch bei mir, wie ich manchmal die emotionale Balance verliere und nur noch schreien oder weinen möchte, obwohl ich gerade rational argumentieren und andere überzeugen will. Es ist ein ständiger Kampf mit der eigenen Hilflosigkeit und den Traumata, die viel älter sind als der jetzige Krieg.

Dass es immense Wissenslücken hinsichtlich der ukrainischen Geschichte gibt, ist sicher richtig. Trotzdem müsste es doch reichen, die Gegenwart zu beobachten, um zu sehen, was in der Ukraine passiert. Und dass das auch die West­europäerinnen angeht.
Ja, das sollte man meinen, aber es reicht offenbar nicht. Wo man sich noch nicht direkt bedroht fühlt, da ist die Verdrängung und auch die Anfälligkeit für die russische Propaganda viel grösser. Und alte Vorstellungen von Osteuropa leben fort. Neulich war ich in Hamburg bei einer grossen Veranstaltung und ein älterer Herr, ein Slawist, stand auf und sagte, es falle ihm so schwer, zu trennen zwischen der Ukraine und Russland. Das ganze Leben lang habe er das als eine Einheit gesehen. Das hat mich, bei allem Verständnis, wütend gemacht, und ich habe geantwortet, offensichtlich falle es auch der russischen Regierung schwer, das zu trennen. Das Mindeste, was die Menschen im Westen jetzt machen sollten, ist, sich endlich von ihren stereotypen Vorstellungen von Osteuropa zu verabschieden und Osteuropa in ihrem Kopf zu dezentralisieren. Nicht mit Moskau im Zentrum. Es gibt da viele verschiedene Länder mit sehr unterschiedlichen Geschichten, und sie alle sind gleichberechtigt. Das ist nicht Russland plus. Dies anzuerkennen, wäre das Mindeste, was die Westeuropäer uns schulden.

Es gibt seit geraumer Zeit die Sorge, dass mit zunehmender Dauer des Krieges und mit dem Rückgang der medialen Aufmerksamkeit auch das Interesse und das Engagement für die Ukraine nachlassen. Ist das auch Ihre Erfahrung?
Ich habe hier nur meine subjektiven Eindrücke, und die sind nicht eindeutig. Manchmal habe ich das Gefühl, keiner interessiert sich mehr für die Ukraine. Dann wiederum kommen, wie in Hamburg, Hunderte Menschen zur Veranstaltung und wollen zuhören, obwohl das, was ich zu sagen habe, alles andere als lustig ist. Wobei, ich versuche es trotz allem immer wieder auch mit Humor, damit das Publikum nicht ganz so niedergeschlagen wird. Allerdings wird mein Humor schwarzer und schwarzer – oder sagt man «schwärzer», mit Umlaut?

Mit Umlaut, ja.
Ach, wissen Sie, es ist so schön, immer etwas Neues zu lernen, auch in dunklen Zeiten. Ich freue mich so sehr, dass wenigstens diese Fähigkeiten in mir, die Neugier und die Wissbegierde, noch nicht tot sind. Mein Humor wird also schwärzer und schwärzer. Und trotzdem kommen die Leute nach den Veranstaltungen zu mir, wollen mit mir sprechen und sich bedanken. Eine Vielzahl von Menschen hat in diesen zwei Jahren tatsächlich ganz neu über die Ukraine und Russland nachgedacht, und bei vielen ist es, als hätten sie ihre Russland-Brille abgenommen, jetzt sehen sie klarer. Also, es gibt diese Fortschritte. Aber etliche Menschen fühlen sich ohnmächtig und wissen nicht recht, wie sie helfen, etwas beitragen können. Das ist ein zerstörerischer Zustand, gegen den man ankämpfen muss, denn es ist genau das, was die Aggressoren wollen: dass wir denken, wir könnten nichts tun.

Was empfehlen Sie gegen dieses Gefühl der Ohnmacht?
Sehr oft komme ich mir selbst total ohnmächtig vor, weil ich den Krieg nicht stoppen kann. Die Antwort, die ich für mich gefunden habe, ist: Man hilft Einzelnen. Man kann viele kleine Dinge machen, und das ist auch ein Beitrag. Und ich glaube, auch indem man im Westen die Demokratie und die liberalen Werte gegen den zunehmenden Populismus verteidigt, hilft man der Ukraine. Man muss auch hier wirklich wachsam sein und im Auge behalten, wohin die politische Stimmung in Österreich, in Deutschland, in der Schweiz geht. Also mehr politische Verantwortung übernehmen, lesen, sich informieren, denken – schon das wäre eine grosse Hilfe für die Ukraine. Russland darf diesen Krieg auf keinen Fall gewinnen. Denn wenn die Ukraine erobert wird, dann stehen die russischen Panzer bald an der Grenze zu Polen und den baltischen Staaten. Also lassen wir es nicht so weit kommen.

Trotzdem hat man momentan den Eindruck, geopolitisch bröckelt die Unterstützung für die Ukraine. Präsident Selenski bittet seit Monaten händeringend um mehr Unterstützung. Doch die Hilfe kommt oft verzögert oder wird, wie derzeit in den USA, ganz blockiert.
Ja, es ist deutlich schwieriger geworden. Ich frage mich, wieso Europa sich so sehr auf die USA verlässt, anstatt endlich selbst eine fähige Verteidigung aufzubauen. Der Schweizer Autor Lukas Bärfuss hat einmal zu mir gesagt, weil ich oft sehr pessimistisch klang: Hoffnung ist kein Gefühl, sondern eine ethische Praxis, die man üben muss. Das hat mir sehr geholfen. Seitdem versuche ich, das umzusetzen. Es darf auf keinen Fall passieren, dass die Ukraine verliert. Dann sehe ich wirklich keinen Sinn mehr im Leben, in der Welt. Denn wie soll man dann noch leben, wenn zum x-ten Mal die Ungerechtigkeit gewinnt? Und die Gewalt. Und die offene Brutalität.

Wie nehmen Sie die Stimmung in der ukrainischen Gesellschaft wahr nach zwei Jahren Existenzkampf?
Ambivalent. Es gibt klarerweise Probleme, etwa was die Mobilisierung angeht. Viele ukrainische Soldaten sind gefallen, die anderen fühlen sich wie in einer Falle, weil es für sie keine Ablösung gibt. Zwei Jahre sind eine wirklich lange Zeit. Andererseits haben sich viele bereits auf einen langen Krieg eingestellt. Sie wissen, dass es nicht morgen oder in einem Monat aufhören wird, manche sprechen sogar von zehn Jahren. Und trotzdem bleiben sie im Land. Trotzdem leisten sie diesen Widerstand. Die ukrainischen Schrift­stellerinnen und Schriftsteller zum Beispiel bleiben fast ausnahmslos im Land. Mindestens fünfzehn davon, die ich persönlich kenne, sind freiwillig in die Armee gegangen, auch Frauen. Diese enorme Standhaftigkeit ist etwas, womit die Ukrainerinnen auch mich immer wieder überraschen. Nur der schlimmste Terror kann diesen Widerstand brechen. Und fehlende Unterstützung aus dem Ausland. Aber von selbst geben die Ukrainer nicht auf.

Sie haben es angedeutet, es gibt Proteste von Frauen, deren Männer seit zwei Jahren ununterbrochen an der Front sind. Die Soldaten selbst sind erschöpft, wünschen sich dringend Ablösung, weshalb der entlassene Armeechef Waleri Saluschni eine grosse Mobilisierungs­offensive hatte starten wollen. Droht die Unterstützung für die Regierung zu schwinden, wenn es nicht zu einer Entlastung kommt?
Die Ukrainer sind streitlustig, das unterscheidet sie übrigens von ihren Nachbarn: dass sie nicht schweigen. Zugleich verstehen alle, dass eine politische Unruhe und Spaltung jetzt einem Suizid gleichkäme. Ich bin trotzdem froh, dass es politische Diskussionen gibt und auch politische Skandale an die Oberfläche kommen. Daran sieht man, dass die Ukraine eben nicht autoritär geführt wird, sondern dass man selbst nach zwei Jahren Krieg fähig ist, zu diskutieren. Die Ukraine war auch vorher kein Traumland. Es gab Probleme auf vielen Ebenen, die Korruption ist nach wie vor verbreitet. Aber anders als in Russland spricht man offen über die Probleme und sucht nach Lösungen. Das empfinde ich als sehr gutes Zeichen der Demokratie. Diese Frauen, die da standen und für ihre Männer demonstrierten, das zerreisst einem das Herz. Keiner will in den Krieg.

Differenzen zwischen Selenski und Saluschni gab es unter anderem mit Blick auf die Hauptprobleme der Armee. Für Selenski heisst das Problem zu wenig Waffen und zu wenig Munition. Saluschnis Diagnose war: zu wenige Soldaten. Was ist, wenn beide recht haben?
Natürlich haben sie beide recht! Dieser Krieg ist nicht gleichberechtigt. Die Ukraine war von Anfang an in einer weitaus schwächeren Position. Trotzdem widersteht sie seit zwei Jahren einer der grössten Armeen in der Welt. Die Ukraine schafft das Unmögliche, bis jetzt. Mit weniger Soldaten und weniger Waffen.

Ist diese Widerstands­kraft der ukrainischen Armee womöglich mit ein Grund, warum man im Westen glaubt, nicht noch mehr tun zu müssen? Es ist ja erstaunlich: In den ersten Kriegs­tagen war alle Welt überrascht, dass die Ukraine überhaupt eine Chance hat. Und ein Jahr später fragte man plötzlich ganz frustriert, warum die ukrainische Frühjahrs­offensive nicht erfolgreicher sei. Das ist doch ein bisschen schizophren.
So ist es. Die menschlichen Kräfte sind nicht unendlich. Und die Ukrainer sind keine Superhelden. Sie sind in die Lage gekommen, als Helden agieren zu müssen, weil sie keine andere Wahl haben. Die Schriftstellerin Victoria Amelina hat es in ihrem letzten Interview treffend gesagt: Wir sind keine Helden, wir sind nur dazu gezwungen, heldenhaft zu handeln. Uns als Helden zu betrachten, ist auch eine Form von Dehumanisierung. Wir sind normale Menschen mit unseren Schwächen, mit unseren Problemen, mit unseren Träumen und Ängsten. Victoria war tatsächlich eine, die aussergewöhnlich mutig war. Sie war die ganze Zeit in den befreiten Ostgebieten. Sie sprach mit Menschen, die grausame Dinge erlebt haben, um alles zu dokumentieren. Damit die Verbrecher und Invasoren später vor Gericht angeklagt werden können. Ihre Arbeit war ungeheuer wichtig. Und auch sie ist durch eine russische Rakete getötet worden.

In Russland hat Putins Regime zuletzt jegliche Opposition systematisch ausgeschaltet. Nun musste Alexei Nawalny seinen Widerstand mit dem Leben bezahlen. Wie haben Sie diese Nachricht aufgenommen?
Sie werden es nicht glauben: Ich habe das erst mit Verspätung erfahren. Ich war in einem Meditations-Retreat, fernab von jeglichen Nachrichten. Nach den vergangenen zwei Jahren war das für mich ein akutes Bedürfnis. Und auch ein Luxus, denn die Menschen in der Ukraine können den Krieg nicht einfach ausschalten. Ich konnte das, elf Tage lang. Und dann komme ich raus und nehme mein Handy in die Hand, ich wollte es gar nicht einschalten, weil ich wusste, nach elf Tagen wird viel Schreckliches kommen, was ich verpasst habe. Und so war es dann auch. Die russische Eroberung von Awdijiwka, die vielen Gefallenen, darunter ein Bekannter, schwer verwundete Gefangene, von denen sogar Videos auf den russischen Social Media kursierten. Darauf ist zu sehen, dass sie gleich nach der Gefangen­nahme erschossen wurden, ein weiteres brutales Kriegs­verbrechen. Und dann die Nachricht, dass Nawalny gestorben ist. All das hat mich überwältigt, ich wollte eigentlich nur wieder zurück in meine Höhle und niemals zurückkehren in diese Welt. So fühlte ich mich. Auch wenn die Nachricht vom Tod Lew Rubinsteins für mich in gewisser Weise noch näher, noch schmerzhafter ist.

Was braucht es, damit Hoffnung keine Lüge ist? «Wahrhaftig bleiben. Auch wenn das manchmal sehr schwer ist.»

Inwiefern?
Kurz vor dem Angriff, im Februar 2022, habe ich zum ersten Mal nach langer Zeit wieder nachgesehen, was die Intellektuellen in Russland öffentlich sagten. Denn ich dachte, über einen möglichen offenen Krieg können sie doch nicht schweigen, das ist ja absurd. Aber sie haben geschwiegen, alle. Ich ging von einer Social-Media-Seite zur anderen. All die Schriftsteller, die ich persönlich oder vom Namen her kannte, haben geschwiegen. Nur der Dichter Lew Rubinstein nicht. Und jetzt im Januar kommt die Nachricht, dass er von einem Auto überfahren wurde, wie ein Hund. Das ist es, was Russland mit seinen Oppositionellen macht. Sie werden beseitigt, auf die niedrigste Art und Weise. Man lässt es so aussehen, als sei die Sache nicht ganz klar; es könnte auch ein Unfall gewesen sein. Ja, vielleicht. Aber an solche Zufälle glaubt keiner, ich jedenfalls nicht. Es ist nicht nur ein Verbrechen gegen die Ukraine, was die russische Führung macht, sondern auch gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung.

Julia Nawalnaja, die Witwe von Alexei Nawalny, hat angekündigt, dessen Arbeit fortsetzen zu wollen. Und es hat in den letzten Tagen viele Menschen gegeben, die öffentlich ihre Trauer bekundet haben. Haben Sie Hoffnung, dass daraus irgendeine Form des nachhaltigen Protests erwachsen kann?
Protest, ja, das vielleicht. Aber ich glaube nicht, dass das irgendetwas verändern kann auf der politischen Ebene in Russland. Sicher wird auch in Russland die Unzufriedenheit zunehmen, das Gefühl der Ungerechtigkeit, der Isolation grösser werden. Die russischen Soldaten werden einfach rekrutiert und in den Krieg geschickt, um zu sterben. Das alles wird auch in Russland nicht ohne Spuren bleiben. Aber ich sehe keine zivilen Kräfte, die in Russland Veränderungen bewirken könnten. Wie sehr ich im März 2022 darauf gehofft habe, dass die Moskauer millionenfach auf die Strassen kommen und sagen: Halt, dieser Wahnsinn muss gestoppt werden! Haben sie nicht. Und jetzt ist es zu spät. Für eine entzündete Kerze werden die einzelnen Mutigen gerade verhaftet und bekommen womöglich absurde jahrelange Gefängnisstrafen.

An diesem Wochenende werden in Belarus sogenannte Wahlen abgehalten. Auch dort ist die Opposition ja komplett ausgeschaltet. Wenigstens erscheinen in Westeuropa weiterhin Zeugnisse von inhaftierten Widerstands­kämpferinnen der inzwischen nieder­geschlagenen Revolution. Verfolgen Sie, was in Belarus passiert?
Ich habe immer noch das Gesicht von Maria Kolesnikowa vor Augen und diese unglaubliche Heldinnentat, als sie ihren Pass zerrissen und sich geweigert hat, ihr Land zu verlassen. Aber bleiben wir auch hier ganz nüchtern. Die Zukunft von Russland und von Belarus entscheidet sich in der Ukraine. Alle, denen das Schicksal von Belarus nicht gleichgültig ist, sollten die Ukraine nach Kräften unterstützen. Auch Kasachstan, Georgien, Moldau, all diese Länder sind darauf angewiesen, dass Russland gegen die Ukraine nicht gewinnt. Es war verstörend, zu sehen, mit welcher Grausamkeit die belarussische Regierung 2020 gegen die Protestierenden vorgegangen ist. Weil sie eben gemerkt haben, dass die Proteste etwas bewirken. So wie 2014 der Euromaidan in der Ukraine. Obwohl es damals so viele Tote gegeben hat, war das ein erfolgreicher Protest, denn die Ukrainer haben die innere Okkupation beseitigt und weiter eine demokratische Zivilgesellschaft geformt. Es ist seither die grosse Angst aller Diktatoren rundherum, dass ein solcher Weg tatsächlich Erfolg hat.

Wir haben vor knapp zwei Jahren, im Frühjahr 2022, schon einmal zusammen ein Interview geführt. Damals war die Debatte im deutsch­sprachigen Raum beherrscht von offenen Briefen, die sich gegen Waffen­lieferungen aussprachen. Sie haben diese Positionen in aller Klarheit kritisiert. Einmal umgekehrt gefragt: Welche offenen Briefe, die Sie sich gewünscht hätten, sind bis heute nicht geschrieben worden?
Vor zwei Jahren hätte ich mir gewünscht, es hätte aus dem deutsch­sprachigen Literatur­betrieb einen Brief gegeben, in dem sich alle für die ukrainischen Schriftsteller und Intellektuellen einsetzen und ihre Unterstützung bekunden, ohne irgendwelche Belehrungen. Ein Brief, in dem steht, dass sie verstehen, was uns dieser Widerstand kostet, und dass wir auch für ihre Zukunft und ihre Welt kämpfen. Das ist nicht passiert. Zwar haben sich viele klar solidarisch mit der Ukraine positioniert. Aber häufig war das auch kombiniert mit diesem Aber. Bis heute höre ich ständig: Ja, wir unterstützen euch. Trotzdem haben wir Sorge, dass ihr euch in der Ukraine sehr nach rechts, sehr ins Nationalistische bewegt. Und das, obwohl die Probleme mit Rechts­radikalen in der Ukraine viel geringer sind als in so manchem westeuropäischen Land.

Sie sagten im letzten Sommer bei Ihrer Eröffnungs­rede zu den «Tagen der deutsch­sprachigen Literatur» in Klagenfurt, Sie seien «eine gebrochene Autorin, eine ehemalige Autorin». Sie hätten das Vertrauen nicht nur in die Literatur, sondern, schlimmer noch, in die Sprache verloren. Haben Sie seither, trotz allem, wieder an etwas Grösserem geschrieben?
Nein. Obwohl ich manchmal in der Nacht davon träume, wieder etwas zu schreiben. Nur ist eben die frühere Welt, in der ich schreiben konnte, vollkommen zerstört worden. Meine neue Welt ist ein Friedhof, Freunde werden einer nach dem anderen getötet. Und wie findet man eine Stimme, über diese neu entstandene Welt zu schreiben? Ich kenne die Mittel dafür noch nicht. Ich hoffe, sie irgendwann zu finden. Also nein, an einem literarischen Text habe ich nicht gearbeitet, ich bin in die politische Kultur­diplomatie abgewandert, weil ich in diesem Bereich viel mehr Arbeit sehe, die eigentlich nur jemand wie ich machen kann. Gemeinsam mit der Übersetzerin Claudia Dathe bereite ich jetzt eine grosse Ukraine-Bibliothek in deutscher Sprache vor, sieben Bände mit klassischer ukrainischer und ein Buch aus der krim­tatarischen Literatur. Dass man im Westen die Ukraine nicht kannte und sie als ein Land ohne Geschichte und Kultur missverstanden hat, ist eine der Ursachen dieses Krieges.

Was Sie dennoch an eigenen Texten seit Kriegs­beginn geschrieben haben, sind kürzere Formen, Essays und kleine Erzählungen. Und man hat den Eindruck, in diesen Essays, die sich mit Sachfragen beschäftigen, ist die Literatin Tanja Maljartschuk eben doch präsent. Oder würden Sie dem widersprechen?
Nein, nein, das stimmt schon. Diese Seite in mir wird erst mit mir sterben. Sie ist erschrocken und leidet sehr viel, aber sie ist da. Und auch bei irgendwelchen Reden, die ich in Ministerien halten musste, habe ich wahrscheinlich nie so ganz wie eine echte Kultur­diplomatin gesprochen.

Um auf Ihren Satz über das verlorene Vertrauen in die Sprache zurück­zukommen: Kann man diesen Satz nicht auch umdrehen und sagen, mit dem Misstrauen in die Sprache fängt echte Literatur überhaupt erst an?
Vielleicht, ja. Ich war jedenfalls früher viel zu naiv. Ich dachte, dass ich als Autorin etwas bewirken kann in dieser Welt. Dass meine Bücher diese Welt zum Besseren verändern können, hin zu einer Welt, in der weniger Gewalt herrscht. Gewalt ist womöglich das einzige Thema, das mich wirklich beschäftigt, mein ganzes Leben schon. Und dann habe ich verstanden, dass das eine Illusion ist. Du als Schriftsteller bist einfach nur ein Clown, ein Entertainer, sonst nichts. Das ist die ursprüngliche Aufgabe der Literatur: die Menschen amüsieren, ablenken. Erst später sind viele andere Aufgaben der Literatur hinzugekommen. Wir verwenden sie als Psycho­therapie, als Teil der Erinnerungs­kultur, als politisches Statement. Seit jedenfalls meine früheren Illusionen zusammen­gebrochen sind, wächst langsam etwas Neues. Ich brauche ein neues Verständnis dafür, wie und warum man unter solchen grausamen Bedingungen überhaupt noch schreiben soll. Die derzeit einzige Antwort für mich lautet: Literatur ist eine Möglichkeit, etwas Bestimmtes in der Welt zu erklären. Etwas, das ich erst selbst verstehen möchte. Die Literatur ist für mich ein Weg, diese Antworten zu finden, zunächst für mich selbst.

Gibt es Stellen aus literarischen Werken, die Ihnen in den vergangenen Monaten etwas bedeutet haben?
Natürlich. Ich lese gerade sehr viel klassische ukrainische Literatur, mit neuen Augen, aus neuen Perspektiven. Lessja Ukrajinka zum Beispiel, eine sehr mutige ukrainische Schriftstellerin, die so talentiert und so gebildet war wie kaum eine Frau damals in Europa, Ende des 19. Jahrhunderts. Immer wieder lese ich Joseph Roth. Und ich lese gerade viele Essays von afrikanischen Autoren, von dem kenianischen Autor Ngugi wa Thiong’o zum Beispiel «Dekolonisierung des Denkens». Das ist ein Riesenthema für die ukrainischen Intellektuellen, weil man erst seit dem gegenwärtigen Angriffs­krieg wirklich über Russland als Imperium nachdenkt. Ebenso, dass die Art und Weise, wie wir über die Vergangenheit, über uns selbst, über die eigene Literatur und Kultur denken, eine Art Dekolonisierung braucht. Wir verstehen auch erst jetzt, wie sehr auch die Ukrainerinnen selbst die ukrainische Literatur unterschätzt haben. Nehmen wir Iwan Franko. Eine ganze Stadt ist nach ihm benannt …

Ihre Geburtsstadt Iwano-Frankiwsk.
Ich habe es nicht genau überprüft, aber mir scheint, dass sie vielleicht die einzige Stadt der Welt ist, die den Namen eines Schriftstellers trägt. Trotzdem hat man Franko in der Ukraine stets unterschätzt. In Wirklichkeit war er ein Genie, umfassend gebildet, der letzte Enzyklopädist vielleicht, tätig in allen möglichen Disziplinen. Er hat in zahlreichen Sprachen geschrieben und ein Gesamtwerk in über hundert Bänden verfasst. Zur Sowjetzeit war nur die Hälfte davon verfügbar, weil niemand mehr Werke haben durfte als Lenin. Es gibt grossartige Romane von Iwan Franko, aber nichts davon ist auf Deutsch übersetzt, nur eine einzige Erzählung.

Also wird es demnächst eine deutsche Iwan-Franko-Übersetzung geben, in Ihrer Bibliothek?
Das hoffe ich sehr. Wir sind am Ende der Vorbereitung, und das ist natürlich nicht die einfachste Aufgabe. Es gibt aber gute Vorbilder, die «Polnische Bibliothek» von Karl Dedecius zum Beispiel oder die «Tschechische Bibliothek». Ich sage immer, Mitteleuropa rückt nach Osten, und jetzt ist es an der Zeit für eine «Ukrainische Bibliothek».

In Ihrer Klagenfurter Rede sprachen Sie von der «schönen Lüge, die wir Hoffnung nennen». Was braucht es, damit Hoffnung keine Lüge ist?
Wahrhaftig bleiben. Auch wenn das manchmal sehr schwer ist. Das russische Regime will die Wahrheit zersetzen. Es zersetzt alle möglichen Werte, es kennt keine Ideen und keine Bilder der Zukunft. Es geht nur darum, die Idee der Wahrheit zunichte­zumachen. Seine Devise lautet: Es gibt nichts, wofür es sich zu kämpfen lohnt, es gibt keine Wahrheit, es gibt keine Freiheit. Aber wenn wir all unsere Werte und alle unsere Wahrheiten verlieren, dann sind wir auch keine Menschen mehr. Dann hat es wirklich keinen Sinn mehr, für etwas zu kämpfen. Es geht also darum, wahrhaftig zu bleiben, vernünftig und nahe an der Realität. Und darum, nicht mit den Vorstellungen von gestern ins Morgen zu gehen.

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