Auf der Suche nach dem normalen Leben in der Zerstörung: Bilder aus Borodjanka, 30 Kilometer westlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Hiên Lâm Duc/Agence Vu/Keystone

«Man wird diesen Krieg nur stoppen können, wenn der Westen bereit ist, auch Opfer zu bringen»

Die ukrainische Autorin Tanja Maljartschuk über «Westsplaining», die Sackgassen des Pazifismus – und über das, was trotz allem tröstet.

Ein Interview von Daniel Graf, 29.04.2022

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Frau Maljartschuk, Sie sind ukrainische Schrift­stellerin und leben seit etwas mehr als zehn Jahren in Wien. Wie haben zwei Monate Angriffs­krieg gegen die Ukraine Ihr Leben verändert?
Total. Mein früheres Leben gibt es nicht mehr, meine Welt ist zerstört. Was ich vor dem Krieg vorhatte, wird nicht stattfinden. Ich habe zwei Jahre für ein Buch recherchiert, jetzt wird es nicht mehr geschrieben werden. Physisch bin ich immer mit dem Krieg beschäftigt. Ich bin permanent auf Reisen und nehme an Diskussions­veranstaltungen teil. Ich bin eine Soldatin dieses Krieges.

Worum hätte es in Ihrem Buch gehen sollen?
Mich hat sehr interessiert, woher ich komme und was in dieser Gegend passiert ist, bevor ich zur Welt kam.

Sie sind im Westen der Ukraine geboren, in Iwano-Frankiwsk.
Dort bin ich geboren, ja, aber aufgewachsen bin ich im Kolomyja-Kreis, von wo meine Eltern stammen. Ich hatte mir vorgenommen, die dortige lokale Geschichte des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust zu recherchieren. Darüber wurde bisher wenig geschrieben, im deutsch­sprachigen Raum gibt es gerade einmal zwei akademische Bücher dazu. Vor zwei Jahren habe ich erfahren, dass das Dorf, aus dem meine Eltern kommen und in dem ich teilweise aufgewachsen bin, zu 90 Prozent jüdisch war. Es war eigentlich ein Schtetl gewesen mit einer wunderschönen hölzernen Synagoge aus dem 17. Jahrhundert, die von den Nazis in Brand gesteckt wurde, ebenso wie das gesamte Zentrum. Ungefähr tausend Menschen sind in diesem schrecklichen Feuer lebendig verbrannt. Die anderen wurden später im Vernichtungs­lager Bełżec in Polen ermordet. Diese Geschichte hat mich nicht losgelassen. Als ich von dem Feuer erfahren habe, dank einem zufälligen Zeugnis eines Überlebenden namens Wojt Chuna, weinte ich tagelang nur. Auch weil meine Eltern und Grosseltern darüber nie gesprochen hatten. Erinnerung und Vergessen, das ist mein Thema, schon 2016, als ich das letzte Buch geschrieben habe.

Alles, was Sie eben sagten, wären doch aber Gründe, dieses Buch auf jeden Fall zu schreiben. Wenn auch vielleicht nicht jetzt.
Ja, irgendwann. Gerade helfen mir die Recherchen, die ich gemacht habe, den aktuellen Krieg zu verstehen. Auch deswegen bin ich über das Gegenwärtige so entsetzt, weil ich weiss, wohin es führen kann, wenn die Welt glaubt, einen Aggressor nicht stoppen zu können, welche Vorzeichen ein Völker­mord hat, wie Dehumanisierung aussieht. Wir haben in den letzten Wochen gesehen: Die Menschen in Butscha und an anderen Orten in der Ukraine sind gefoltert und mit gebundenen Händen ermordet worden, weil sie ukrainische Pässe hatten, weil sie Ukrainer waren, weil sie als Nazis definiert wurden. Für die russische Armee gibt es keinen Unterschied mehr zwischen den Wörtern Nazi und Ukrainer. Die Begriffe, wie die russische Propaganda sie verwendet, haben ihren Inhalt, ihren Sinn verloren.

Wenn Begriffe grotesk verfälscht und instrumentalisiert werden, wenn oft genug sogar im vernünftigen Diskurs die Genauigkeit im Sprechen und Denken verloren geht: Sind dann nicht auch die Literaten gefragt, gegen­zusteuern? Womöglich gar nicht mit literarischen Texten, sondern mit aufklärerischen, die immer wieder auf den Missbrauch von Worten und Begriffen hinweisen.
Ich bin keine Aufklärerin, sondern Schrift­stellerin, das bedeutet normaler­weise immer auch ein bisschen Fantasie und Dichtung. Ich sehe mich nicht als Intellektuelle, die den Westen darüber aufklärt, was die Geschichte der Ukraine ist, woher dieser ewige Konflikt zwischen Ukraine und Russland rührt. Das ist nicht mein Job, es gibt viele kompetente Menschen dafür. Ausserdem denke ich, nicht die Ukrainer müssen den Westen aufklären, sondern der Westen sich selbst. Einer der Faktoren für die Eskalation ist, dass die Menschen hier jahrelang auf den Osten herab­geschaut und die Warnungen der Menschen in Osteuropa nicht genügend ernst genommen haben. Stattdessen betrieben sie westsplaining. Die Menschen hier sollten sich endlich mit der Geschichte Osteuropas auseinander­setzen und mit den Versäumnissen der eigenen Osteuropa-Politik. Dafür sind die hiesigen Intellektuellen und Schrift­steller gefragt, sie sollten diese Aufgabe jetzt übernehmen. Ich höre aber leider sehr wenig von den deutsch­sprachigen Autoren, und das schmerzt mich. Dass sie zum Teil immer noch nicht klar Stellung beziehen zu diesem Krieg.

Zur Person

George Eberle

Tanja Maljartschuk, 1983 in Iwano-Frankiwsk geboren, ist eine ukrainische Schrift­stellerin. Seit 2011 lebt sie in Wien. Der Grossteil ihres literarischen Werks wurde auf Ukrainisch geschrieben und von verschiedenen Über­setzerinnen ins Deutsche gebracht. Sie schreibt aber auch selbst auf Deutsch, etwa den Text «Frösche im Meer», mit dem sie 2018 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann. Bereits vor Ausbruch des Krieges wurde ihr für ihren Roman «Blauwal der Erinnerung» der Usedomer Literaturpreis 2022 zugesprochen.

Andererseits wiesen in den letzten Wochen immer wieder Menschen schuldbewusst auf ältere journalistische und literarische Texte hin und schlussfolgerten: Hier wurde doch schon vor Jahren nachdrücklich gewarnt, wir wurden doch immer wieder auf die Gefahren hingewiesen, wir haben uns in den Einschätzungen völlig geirrt. Was ist Ihr Eindruck: Sind die Menschen im Westen jetzt aufgewacht?
Ich glaube, sie sind zwangsweise aufgewacht, weil sie sich plötzlich selbst nicht mehr in Sicherheit fühlen. Früher herrschte eine gewisse Ignoranz, was den Krieg im Osten der Ukraine angeht, weil das eben weit weg war. Jetzt steht die Gefahr vor der Tür, man redet über einen eventuellen Atomkrieg in der Welt. Das Aufwachen ist erfolgt, die Solidarität war enorm, ab dem ersten Tag des Krieges. Allerdings sagte kürzlich eine Wissenschaftlerin aus Berlin zu mir: Glauben Sie, dass diese Solidarität wirklich den Ukrainern gilt? Nein, die Leute beschäftigen sich noch immer bloss mit sich selbst. Sie haben nun einfach Angst bekommen, dass der Krieg über die Ukraine hinausreicht.

Es sind eher egoistische Gründe als solidarische – glauben Sie wirklich?
Ich glaube, dahinter steckt viel Angst. Allerdings bin ich überzeugt, dass man diesen Krieg nur stoppen kann, wenn der Westen tatsächlich bereit ist, auch Opfer zu bringen. Ohne bewussten Verzicht auf etwas Wohlstand wird das nicht gehen. Bisher wartet der Westen immer nur auf das, was Russland macht, und berät sich dann. Der Westen müsste schon im Voraus alle möglichen Schritte Russlands in Betracht ziehen und für jeden dieser Fälle vorbereitet sein.

Was konkret würden Sie sich jetzt wünschen? Was passiert zu wenig?
Die russische Propaganda funktioniert immer noch. Ob der Westen wirklich einen Plan hat, gegen diese Propaganda vorzugehen, das ist die Frage. Ausserdem kapieren viele nicht, dass der Krieg zum Beispiel auch in Deutschland längst da ist. Weil Deutschland ein wichtiger Staat ist, der tatsächlich schwere Waffen liefern kann. Ohne diese schweren Waffen kann die Ukraine nicht langfristig standhalten. Und mit einer Eroberung der Ukraine würde Russland nur bestätigt in seiner Aggression. Dann dauert es vielleicht noch ein paar Jahre, und der nächste Staat wird angegriffen. Man hat die Aggression des russischen Regimes unterschätzt, die seit 20 Jahren immer mehr zugenommen hat. Schon die Rhetorik der russischen Propaganda im eigenen Land war so absurd schrecklich, dass ich wirklich nicht verstehe, wie man die ganze Zeit über mit Putin sprechen und diese Gefahr nicht sehen konnte. Die Bevölkerung wurde in Russland kontinuierlich aufgehetzt und vorbereitet auf das, was jetzt passiert. Und ich bin überzeugt, der Krieg in der Ukraine ist ein stellvertretender Krieg.

Inwiefern?
Nicht die Ukrainer sind die wahren Feinde Russlands. Der Feind Russlands ist der Westen: die USA, Europa, die Demokratie. Dieses Regime kann ohne einen Feind nicht funktionieren. Es ist wie mit einer Sekte. Auch sie braucht immer jemanden ausserhalb, auf den alle negativen Gefühle gerichtet sind. Ich bin aufgewachsen mit den Bildern aus dem russischen Fernsehen, wo es immer um das Gleiche ging: das Auslachen der USA. Während der Sowjetzeit war die Botschaft: Die USA sind unser Feind, und über diesen machen wir uns lustig. In den letzten Jahrzehnten aber wurde die Rhetorik aggressiver und aggressiver, auch die Europäer wurden zu diesem Feind gemacht. Und aus dieser Perspektive betrachtet, rückte der Feind angeblich näher und näher. In der Ukraine, so hiess es dann in Russland, ist die feindliche Macht des Westens schon ganz nah an unsere Grenzen gekommen, und wir müssen die Ukraine jetzt «entnazifizieren».

Wie nehmen Sie in diesem Zusammen­hang den westlichen linken Diskurs wahr? Es gibt ja leider auch in manchen Teilen der politischen Linken Positionen, die selbst in der jetzigen Situation mit dem alten Feindbild Nato und USA hantieren. Und die stärker thematisieren, was die angeblichen Provokationen des Westens gegenüber dem Kreml gewesen seien, als dass sie die russische Aggression in aller Klarheit benennen.
Das ist eine schmerzhafte Frage für mich. Diesen Teil der Linken habe ich schon damals nicht verstanden, als ich nach Wien ausgewandert bin und zum ersten Mal in Gesprächen mit solchen Positionen konfrontiert wurde. Ich komme ja aus diesem angeblichen Paradies, das manche Menschen teilweise auch heute noch in der Sowjetunion sehen wollen. Und ich muss sagen, es war alles andere als das; die Menschen wurden millionenfach verhaftet, getötet, verbannt oder nach Sibirien gebracht. Ich habe Angst vor solchen Ideologien, wenn Menschen schablonenhaft denken und Feind­bilder suchen. Wenn sie glauben, die Welt mit einfachen Lösungen zu «verbessern». Auch jetzt versuchen manche diese einfache Lösung: Die Ukrainer, heisst es, sollen sich aufgeben, um das Sterben zu beenden, denn sie könnten Russland ja ohnehin nicht besiegen.

In diesen Tagen ist wieder ein Appell von deutschen Künstlerinnen und Gelehrten erschienen, die genau das fordern – in völliger Verkennung dessen, was die Ukrainerinnen selbst sagen.
Ja, kürzlich habe ich diesen Brief in der «Berliner Zeitung» gesehen. Es war körperlich schmerzhaft für mich, diesen Text zu lesen. Unverschämt, arrogant und einfach dumm, mehr gibt es hier nicht zu sagen. Und das nur, damit man seine Ruhe haben kann! Denn das ist der Punkt: Die Unter­zeichner solcher Appelle wollen in Wirklichkeit nur ihre Ruhe haben vor diesem Krieg.

Gefordert wurde in dem Appell, auf alles Militärische zu verzichten und den Konflikt diplomatisch zu lösen. Als hätte Putin nicht längst gezeigt, was er von Diplomatie hält.
Vergessen wird da ausserdem, dass die Nato ein Verteidigungs­bündnis ist. Die Nato war keine Gefahr für Russland. Zu glauben, die Ukraine hätte vorgehabt, Russland anzugreifen, ist lächerlich. Putins Regime brauchte einen Vorwand. Und einen solchen hätte es gefunden, ganz egal, was geschehen wäre. Welche Gründe gab es damals, als die Krim annektiert und der Krieg im Osten der Ukraine begonnen wurde? Die vorgeblichen Gründe waren: Wir verteidigen die russisch­sprachigen Menschen in der Ukraine. Jetzt tötet die russische Armee die russisch­sprachigen Menschen. Sie hat bereits mehrere Städte zerstört, in der überwiegend Russisch Sprechende gelebt haben. Manche Menschen glauben aber der Propaganda und ignorieren das Offensichtliche, weil sie sich für besonders klug halten. Sie denken, dass da irgendwo noch eine tiefere Wahrheit liegen müsse – und dass sie in der Lage seien, die Realität anders zu analysieren als ihre Mit­menschen. Das hat tatsächlich auch viel mit Egoismus und Narzissmus zu tun. Einfach aus Prinzip gegen den Mainstream zu sein, diese Arroganz ist ein grosses Problem auch in linken Bewegungen.

«Wir verstehen jetzt, man kann nicht einseitig pazifistisch sein. Die andere Seite muss das auch wollen»: Tanja Maljartschuk. Hiên Lâm Duc/Agence Vu/Keystone

Lassen Sie uns noch einmal auf die europäische und speziell die deutsche Politik zurück­kommen. Heute werden nur noch wenige ernsthaft bestreiten, dass in der deutschen Russland­politik der vergangenen Jahre immense Fehler gemacht wurden. Und das gegenwärtige Zögern bei Waffen­lieferungen, das Sie ansprachen, ist besonders aus ukrainischer Sicht schwer zu verstehen. Gleichzeitig tut sich doch aber auch sehr viel. Wenn man schaut, wo die Zustimmung für die Lieferung schwerer Waffen am grössten ist, dann ist das bei den Anhängern der Grünen. Da haben sich doch epochale Verschiebungen ereignet in einer Partei, die mit dem Slogan «Frieden schaffen ohne Waffen» gross geworden ist.
Ja, man kann tausendmal Frieden schaffen ohne Waffen, aber wenn einer mit Waffen auf dich zukommt, dann musst du schon auch Waffen haben, um dich verteidigen zu können … Jetzt habe ich den Faden verloren …

Meine Frage war mit Blick beispiels­weise auf die Grünen: Findet da gerade ein signifikantes Umdenken stattfindet?
Ja, und sehr schnell! In diesen zwei Monaten ist auch ein oberflächlicher Begriff von Pazifismus zerlegt worden. Wir verstehen jetzt, man kann nicht einseitig pazifistisch sein. Die andere Seite muss das auch wollen. Solange das nicht der Fall ist, muss man bereit sein, Wider­stand gegen Aggressoren zu leisten. Aber die Ersten, die tatsächlich bereit waren und sind, schwere Waffen zu liefern, obwohl sie selbst nicht so viele davon haben, sind die baltischen Staaten und die Slowakei. Auch die Polen haben schon längst verstanden, was Russland ist, und schon seit Jahren auf die Gefahren hingewiesen. Doch sie wurden ausgelacht für diese Worte. Da ist die Erkenntnis doch sehr spät im Westen angekommen. Die osteuropäischen Staaten tun alles, um den Aggressor zu stoppen.

Und die westeuropäischen?
Es gibt zwar grosse Diskussionen, aber beim Thema schwere Waffen hiess es bis vor kurzem immer aus Deutschland: Wir haben selbst nicht genug. Was dahinter­steckte, weiss ich nicht, vielleicht gab es irgendwelche Vereinbarungen hinter den Kulissen. Timothy Snyder brachte es neulich sehr gut auf den Punkt: Deutschland hat 30 Jahre lang die Ukraine über das Thema Faschismus belehrt. Und jetzt, wo der Faschismus da ist, wird er von Deutschland finanziert, und die Ukrainer müssen für den Kampf gegen den Faschismus sterben. Das ist die bittere Wahrheit.

Diese bittere Wahrheit und die Notwendigkeit, die Ukraine zu unterstützen: Wie lässt sich das zusammen­denken mit einem Festhalten an pazifistischen Idealen? Man wird ja auch nicht in das Gegenteil verfallen wollen und wieder Aufrüstung und Militarisierung als den Weg zu einer friedlichen Welt beschreiben können. Auch diese Aporie, auch dieser Selbst­widerspruch ist ja offensichtlich.
Aber wissen Sie, ich habe leider gerade keine andere Welt für Sie. In der gegen­wärtigen Situation muss man aufrüsten, und man muss über schwere Waffen sprechen. Wir alle müssen uns irgendwie damit abfinden. Ich hoffe, dass es irgendwann einen Weg an den Punkt gibt, wo alle sagen: Wir brauchen diese Waffen nicht mehr, wir wollen eine Welt ohne Waffen, eine Welt in Frieden. Vielleicht ist das die letzte Stufe, bevor wir an diesen Punkt gelangen. Für mich ist die grosse Frage: Wie kann es sein, dass Menschen wie Trump, wie Putin, mit ihren offensichtlichen Persönlichkeits­störungen überhaupt in solche Positionen kommen? Warum hat man das zugelassen? Haben sie Empathie? Fühlen sie überhaupt etwas? Fühlen sie Angst? Diese Menschen entscheiden über die Schicksale von Millionen. Deshalb müssen wir als freie Gesellschaft, als freie Welt das endlich stoppen und genau darauf achten, in wessen Hände wir die Macht geben.

Da scheint bisher, wenn wir die aktuellen europäischen Wahlen betrachten, wenig Lerneffekt eingesetzt zu haben. Den beiden grossen Putin-nahen Wahl­kandidatinnen der letzten Wochen, Viktor Orbán und Marine Le Pen, hat ihre Putin-Treue ja kaum geschadet.
Sie haben die Lage nach der überwältigenden Solidarität mit der Ukraine aber durchaus verstanden. Le Pen liess die Wahlzettel mit dem gemeinsamen Foto vernichten, auch Orbán hat sich deutlich vorsichtiger geäussert.

Aber das Unaufrichtige und Opportunistische daran ist doch derart offensichtlich, dass man sich fragt, warum trotzdem so viel Zustimmung für diese Politikerinnen zustande kam.
Ja, und darüber könnten Psychologen tatsächlich besser Auskunft geben. Anscheinend gibt es einen gewissen Prozentsatz an Menschen in der Gesellschaft, die einfach dagegen sein wollen. Die Rechts­populisten nutzen diese Stimmung sehr gut für sich, sie arbeiten mit Angst und leeren Versprechungen. Das gibt es in jeder Gesellschaft, und es ist wohl nicht zu vermeiden. Aber wir müssen endlich wirksame Gegen­mittel finden. Ich glaube, der rechts­populistische Aufschwung kommt gerade an sein Ende. Auch die Rechts­populisten in Osteuropa werden bald Geschichte sein –wegen dieses Krieges. Putin ist jetzt die Speer­spitze. Und wenn dieses Regime fällt, fällt auch der Rechts­populismus an sich, davon bin ich überzeugt. Die autoritären Regimes haben die Schwächen der Demokratie jahrelang ausgenützt. Jetzt muss die Demokratie endlich lernen, sich zu verteidigen. Aufrüsten ist leider ein Teil davon, neben anderen Mitteln. Das unterscheidet ja die Demokratie von der Autokratie: Sie ist fähig zu Selbst­kritik, sie kann dazulernen, sich anpassen an neue Zeiten, um Freiheit und Frieden zu sichern. Das sind unsere Ziele, und das unterscheidet uns von denen, die nur unterwerfen wollen. Dies ist die letzte Schlacht. Ich bin überzeugt, dass die demokratische Welt sie am Ende gewinnen wird. Die Frage ist nur, wie viele Ukrainerinnen dafür noch sterben müssen.

Haben Sie aktuell Kontakt zu Autorinnen und Autoren in der Ukraine? Im Falle der männlichen Kollegen wird es ja häufig so sein, dass sie im Moment nicht Autoren, sondern Soldaten sind.
Die meisten. Von meinen befreundeten männlichen Kollegen sind die meisten im Krieg, auch die Verleger, die Kultur­manager. Heute, vor dem Gespräch mit Ihnen, habe ich mit meinem Freund Artem Chapeye gemailt. Er ist ein wunderbarer Schrift­steller, hat zwei Kinder. Ich hatte immer Angst, ihm zu schreiben, wie es ihm geht, weil ich dachte, ich habe nicht das Recht dazu. Ich habe immer nur geschaut, ob er etwas postet, ob er online ist. Ich mache mir unglaubliche Sorgen um diese Schrift­steller, die im Krieg sind, weil sie gar nicht geeignet, gar nicht ausgebildet sind für diesen Kampf. Trotzdem machen sie das freiwillig. Ich habe Artem geschrieben, ich danke dir, dass du für mich, meine Familie und meine Welt kämpfst. Das habe ich zum ersten Mal jemandem gesagt. Aber tatsächlich spüre ich unglaubliche Dankbarkeit, dass sie alle diesen Mut haben.

Sie sagten eben, Sie dachten, Sie hätten gar nicht das Recht, Ihren Freund zu fragen, wie es ihm geht. Hat das mit dem Gefühl zu tun, als in Wien lebende Autorin eben eine Verschonte zu sein? Mit einer Scham, die daraus erwächst? Das ist ja etwas Irrationales.
Es ist irrational, ja, aber unvermeidlich in solchen Situationen. Das ist eine Form des Überlebens­schuld-Syndroms. Mein Freund sagte mir, dass auch er Schuld­gefühle hat, weil er jetzt nicht im Osten des Landes ist, jetzt nicht in Mariupol kämpft. Und das sagt er, obwohl er genauso in Gefahr ist. Jeder hat gerade Schuld­gefühle. Vielleicht nur diejenigen nicht, die jetzt tatsächlich irgendwo, wie in Mariupol, vor dem sicheren Tod stehen. Ich weiss, dass Schuld­gefühle nicht produktiv sind. Ich kann trotzdem zurzeit nichts anderes verspüren. Diese Schuld­gefühle treiben mich an, immer weiter zu machen. Aufstehen, jeden Tag etwas tun, um auch zu helfen und meinen sehr winzigen Teil beizutragen. Auch das meine ich, wenn ich sage: Ich bin eine Soldatin dieses Krieges.

All die Interviews, Gastbeiträge und Podien, für die Sie angefragt werden – wie etwa bei uns, beim Republik-Tag –, sind sicher auch eine Belastung. Sind sie manchmal auch eine Hilfe, einerseits gegen diese Schuld­gefühle, andererseits vielleicht auch beim Verstehen und Sichverständlich­machen? Kann der Austausch mit anderen dabei helfen? Oder ist es im Grunde für Sie doch eine Zumutung?
Nein, all das hilft mir vor allem. Es hilft, diese wahnsinnige Realität zu verarbeiten. Jeden Tag stehe ich aus dem Bett auf wie aus einem Grab, und ein neuer Tag beginnt. Neue Informationen, neue Emotionen, neue Ängste. Manchmal habe ich überhaupt keine Kraft mehr und will nichts mehr. Manchmal verspüre ich sehr viel Aggression und Wut und Zorn. Und dass ich etwas tun muss. Und dann befällt mich eben oft wieder ein Ohnmachts­gefühl. Auf Podien kann ich mit dem Publikum und den Kollegen auf der Bühne in Austausch kommen. Dabei lerne ich sehr viele interessante Menschen kennen, Historiker oder Philosophinnen, und aus dem, was sie sagen, lerne ich sehr viel. So ist das also für mich ein Weg, diesen Krieg aushalten zu können. Und wenn ich dabei ein bisschen was bewirken kann, wenn durch meine Wörter manche Menschen etwas verstehen oder bereit sind, etwas zu unternehmen, zu helfen oder zu handeln … Es gibt so viele Menschen, die jetzt im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles tun – und ein bisschen mehr. Das habe ich mir auch selbst vorgenommen: alles zu machen, was ich kann, und ein bisschen mehr.

Was gibt Ihnen Trost in diesen Tagen?
Am Anfang des Krieges tröstete es mich zu hören, dass es auch Verluste auf russischer Seite gibt. Ich habe mir Videos von toten russischen Soldaten angeschaut und dabei gedacht, nun bin ich auch zum Monster geworden. Aber das hat mir geholfen, durch den ersten Schock zu kommen, weil ich am Anfang des Krieges gedacht hatte, die Ukraine könne keinen Widerstand leisten. Dann erst konnte ich aufhören, so zu denken. Der Krieg ist brutal. Und ich trauere um alle Menschen, die jetzt sinnlos sterben müssen. Die Ukrainer sterben für das Land, für ihre Zukunft. Und die Russen sterben für nichts. Sie tun mir sogar mehr leid. Was mich tröstet? Mich trösten Kleinigkeiten: kleine gute Taten, von denen ich bezeugen kann, dass sie stattgefunden haben. Dann die Nachrichten, wer wo geholfen hat, wer doch überlebt hat. Irgendwelche glücklichen Enden von schrecklichen Geschichten in der Ukraine. Und es ist ein Trost zu sehen, wie mutig Menschen trotz allem sein können. Wie viel sie bereit sind zu opfern für das Wohl ihrer Nächsten. Jedes Mal, wenn die Angst besiegt wird, ist das ein Wunder für mich, weil ich selbst so ängstlich bin. Und wenn ich den Mut anderer sehe, inspiriert mich das. Das gibt mir Hoffnung, und das überzeugt mich, dass wir tatsächlich siegen können. Mit «wir» meine ich nicht die Ukraine. Sondern die freie Welt.

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