Auf dem rechten Auge sehe ich besser: Silvio Berlusconi (rechts) mit Gianfranco Fini, dem Faschisten, der von Berlusconi gross gemacht worden war. Alessandra Benedetti/Corbis/Getty Images

Warum versagt die bürgerliche Mitte?

Wie können sich gemässigte Parteien gegen rechtsextreme Bewegungen verteidigen? Ein Essay des Politologen Thomas Biebricher über die Beispiele von Italien, Frankreich, Gross­britannien. Und die Lehren, die zu ziehen wären.

Von Thomas Biebricher, 12.02.2024

Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
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Wer vom teils steilen Aufstieg rechts­radikaler Parteien in Europa sprechen will, der darf nicht schweigen von der Krise des gemässigten Konservatismus. Diese Krise manifestiert sich in mannigfacher Form und verläuft in manchen Kontexten dramatischer als in anderen, hat aber mittlerweile flächen­deckende Ausmasse angenommen. Ihr allgemeiner Effekt besteht darin, dass der politische Raum der rechten Mitte zunehmend verwaist.

Sicherlich wäre es zu kurz gegriffen, wollte man die transnationale Erfolgs­strähne von Rechts-aussen-Akteuren allein auf diese Krise des Konservativen zurück­führen, auch die viel beschworene Krise der Sozial­demokratie spielt hier eine gewichtige Rolle, die sich nun schon über knapp zwei Jahrzehnte zieht. Aber dennoch sind es konservative und christ­demokratische Kräfte, die von zentraler Bedeutung sind, wenn es um das Erstarken der rechten Ränder geht, weil sie typischer­weise eine neuralgische Zone liberaler Demokratien besetzen: die rechte Mitte.

In diesem Segment des politischen Parteien­spektrums wird ein Grossteil der Deutungs­konflikte darüber ausgetragen, wie gesellschaftlicher Wandel zu codieren und zu verarbeiten ist. Veränderungs­prozesse nehmen in unserer Epoche bisweilen eine disruptive Form an und verdichten sich in den Augen vieler Beobachter zu einer veritablen Polykrise. Es hängt daher im Wesentlichen vom Agieren und von der Vitalität gemässigt konservativer Kräfte ab, ob es gelingt, die mitunter auch politisch forcierten Veränderungs­prozesse, die aus der Not der Krisen geboren sind, als Bedrohung und Gefahr zu codieren. Und wenn es nicht gelingt, eine solche Codierung zu verhindern, können bestimmte gesellschaftliche Gruppen – typischerweise sichtbare Minderheiten, die auf mysteriöse Weise im Bunde sind mit den herrschenden Eliten – dafür verantwortlich gemacht werden.

Die Skandalisierung des vermeintlichen Fehl­verhaltens von Sünden­böcken, die Anstachelung des viel beschworenen Wutbürgers, das Anfachen der Empörungs­flammen, die bewusste Verstärkung von Verlust­ängsten und einer allgemeinen, aber diffusen Verunsicherung – all dies ist integraler Bestand­teil des Geschäfts­modells rechts­autoritärer Parteien.

Zum Autor

Thomas Biebricher ist Politik­wissenschaftler, er lehrt mit dem Schwerpunkt Politische Theorie, Ideengeschichte und Theorien der Ökonomie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. 2023 veröffentlichte Biebricher das viel beachtete Sachbuch «Mitte/Rechts. Die internationale Krise des Konservatismus».

Die offene Frage lautet deshalb, ob ihre konservativen Pendants in der rechten Mitte willens und in der Lage sind, diesem Framing eine alternative Erzählung entgegen­zusetzen, die die Heraus­forderungen und Zumutungen von Veränderungs­prozessen nicht kleinredet, sie aber als bewältigbar erscheinen lässt. Nur wenn eine solche diskursive Einbettung gelingt, können potenziell disruptive Veränderungs­prozesse moderiert und der Gesellschaft die Möglichkeit eröffnet werden, diese auf produktive Art zu verarbeiten.

Es sind in der Regel gemässigte konservative Kräfte, die für Veränderungen ein hinreichendes Mass an Akzeptanz erzeugen können, indem sie sich bemühen, den Wandel zu begleiten. Zum einen pflegen sie als Konservative selbst ein ambivalentes Verhältnis zum Wandel – was sie zumindest in der Theorie zu idealen, weil authentischen Moderatoren macht. Zum anderen verfügen sie in gesellschaftlichen Milieus rechts der Mitte über eine gewisse Glaub­würdigkeit und Autorität.

Etwas zugespitzt heisst dies, dass es zur Aufgaben­beschreibung konservativer Parteien gehört, gerade in turbulenten Zeiten, gatekeeping nach rechts zu betreiben. Es liegt deshalb eigentlich auf der Hand, dass man keineswegs konservativ sein muss, um sich um den Zustand der Konservativen zu sorgen.

Drei Wege führen in die Krise von Mitte-rechts

Die Krise des Konservatismus tritt im europäischen Kontext, aber auch darüber hinaus, in dreierlei Formen auf. Da ist zunächst die offensichtlichste Manifestation: der Verlust an Zustimmung in der Bevölkerung und das daraus folgende Zusammen­schrumpfen zu marginalen Nischen­existenzen. Dieses Schicksal ist in manchen Kontexten sogar ehemals stolzen Volks­parteien beschieden, wie der wohl dramatischste Fall belegt, nämlich derjenige der französischen Les Républicains (LR).

Die Partei, die unter diversen Namen die Fünfte Republik wie keine andere prägte und die politische Heimat von Charles de Gaulle, Georges Pompidou und Jacques Chirac war, stellte in den Jahren 2007 bis 2012 mit Nicolas Sarkozy letztmalig den Präsidenten. Zehn Jahre nachdem Sarkozy in den Élysée-Palast eingezogen war, sollte der republikanische Präsidentschafts­kandidat François Fillon jedoch den Einzug in den zweiten Wahlgang verpassen, und bei den Wahlen 2022 blieb LR-Vertreterin Valérie Pécresse sogar unter der 5-Prozent-Marke. Es war ein dramatischer Niedergang, der nur deshalb nicht in der völligen Bedeutungslosigkeit endete, weil Emmanuel Macrons Parteien­bündnis Renaissance die absolute Mehrheit im Parlament verfehlte.

Die Krise des Konservatismus wäre jedoch nicht umfassend beschrieben, würde man sie nur an elektoralen Einbussen festmachen. Sie manifestiert sich – das ist die zweite Form – auch in der Selbst­radikalisierung ursprünglich halbwegs moderater konservativer Parteien und in ihrer Drift zum rechten Rand.

Hier denkt man zunächst an Beispiele aus Mittel­europa wie den Fidesz unter Viktor Orbán und die polnische PIS. In diesen Fällen führte die Radikalisierung im Laufe der Regierungszeit keineswegs zu Verlusten an den Wahlurnen, sondern vielmehr zu mehrmaligen Wahlsiegen – wobei dies natürlich auch an der systematischen Gängelung der zivil­gesellschaftlichen und politischen Opposition lag.

Aber es sind nicht nur post­kommunistische Staaten, in denen ein «radikalisierter Konservatismus», wie es die österreichische Publizistin Natascha Strobl nennt, bis in die jüngste Zeit Erfolge feiert. Auch Westeuropa kann mit einem spektakulären Fall aufwarten, und zwar dem der britischen Tories.

Unterwegs zum Brexit: Der damalige britische Premierminister Boris Johnson im Dezember 2019. Ben Stansall/AFP/Keystone

Boris Johnson erzielte 2019 einen geradezu historischen Wahlsieg für die Konservativen, mit einer Mischung aus schriller Anti-EU-Agitation, Migrations­kritik, Kultur­kampf und dem vagen Versprechen, wieder mehr in öffentliche Dienst­leistungen und Infra­struktur zu investieren. Allerdings haben die inner­parteilichen Kämpfe, die diesen Weg der Radikalisierung kennzeichneten, die Tories in einen politischen Scherben­haufen verwandelt. Ihr desolater Zustand lässt sich an der Verzweiflung ablesen, die herrschen muss, wenn man sogar den ehemaligen Premier­minister und Initiator des Brexit-Referendums David Cameron als Aussen­minister zurückholt. Diese Verzweiflung ist angebracht: War der Sieg 2019 ein historischer, so dürfte dies auch für die sich bereits abzeichnende Niederlage in den anstehenden Unterhaus­wahlen gelten. Sie sind für den kommenden Oktober geplant.

Drittens haben wir es mit einem Krisen­phänomen zu tun, das sich auch als Kombination der beiden vorgenannten verstehen lässt und derzeit wohl am intensivsten diskutiert wird: die mehr oder weniger formalisierte Kooperation von konservativen mit rechts­autoritären Kräften.

Typischerweise sind die politischen Akteure der rechten Mitte nämlich nicht mehr stark genug, um aus eigener Kraft in Regierungs­verantwortung zu gelangen – was in Vielparteien­systemen ohnehin schwierig ist –, und werden abhängig von Unterstützung. Häufig sind sie in ihren Positionierungen aber bereits so weit nach rechts gewandert, dass sie einerseits Schwierigkeiten haben, Bündnis­partner zu ihrer Linken zu finden, und andererseits offen werden für eine Kooperation mit dem rechten Rand.

Die Beispiele der jüngeren Vergangenheit liefern Schweden und Finnland, wo rechts­radikale Parteien entweder Teil der Regierung sind, so «Die Finnen», oder diese toleriert werden, wie im Falle der Schweden­demokraten. In Spanien war eine Regierungs­zusammenarbeit vom Partido Popular und von der rechtsradikalen Vox-Partei fest anvisiert und scheiterte nur am schwachen Abschneiden von Vox.

Ein neues Phänomen sind diese Kooperationen aber keineswegs: 1999 ging in Österreich die ÖVP unter Wolfgang Schüssel erstmals mit der damals noch von Jörg Haider geführten FPÖ eine Koalition ein. Und bekanntlich erlebte diese Kombination ihre zweite Auflage in der kurzen, aber turbulenten Ära Kurz. In den Niederlanden wiederum arbeiteten der langjährige Fixpunkt der politischen Szenerie, Mark Rutte, und seine nominell liberal­konservative VVD immer wieder mit rechts­gerichteten Parteien zusammen.

Der Archetyp solch mehr oder weniger toxischer Verbindungen wurde jedoch im Italien der 1990er-Jahre geschaffen, das hier, wie in so vielen anderen Aspekten, als eine Art politisches Laboratorium erscheint, in dem experimentelle Pionier­arbeit geleistet wird, deren Rezepte und Formeln schliesslich weit über den italienischen Kontext hinaus Verbreitung finden sollten.

Frankreich, Grossbritannien und Italien stehen also für die drei Manifestations­muster der Krise des europäischen Konservatismus, deren Erklärung und Entwicklungs­dynamik sich selbstverständlich nicht auf die eine oder andere Einzel­ursache zurückführen lassen. Dennoch lassen sich in allen drei Fällen bestimmte Kipppunkte und Zäsuren benennen, aus denen sich auch die eine oder andere Schluss­folgerung für die aktuellen Debatten über den Aufstieg und den Umgang mit radikal rechten Parteien ableiten lässt.

Der italienische Pionier

Beginnen wir mit Italien, dem Land des politischen Avant­gardismus. Wenn sich ungläubige Beobachter im September 2022 die Augen rieben und darüber rätselten, wie eine Partei, die sich selbst als post­faschistisch bezeichnet, innerhalb nur weniger Jahre zur stärksten politischen Kraft in Rom werden konnte, dann musste die Antwort auf der politischen Ebene lauten: Berlusconi.

Der Cavaliere war es, der mit seinem Eintritt in die Politik das italienische Parteien­system auf entscheidende Weise neu strukturierte. Schon davor waren die bis dahin prägenden Kräfte der italienischen Politik, will sagen die Kommunistische Partei und die alles dominierende Democrazia Cristiana, im Zeichen von Mauerfall und Korruptions­skandalen von der Bildfläche verschwunden. Und sie hatten Silvio Berlusconi dadurch erst die Möglichkeit eröffnet, mit seiner frisch gegründeten Forza Italia in das rechts der Mitte entstandene Vakuum hinein­zustossen. Die eigentlich bleibende Zäsur wurde jedoch erst im Frühjahr 1994 besiegelt. Berlusconi hatte nämlich im Wahlkampf im Norden mit der Lega Nord und im Süden mit der Alleanza Nazionale (AN) paktiert, und beide fanden sich nach dem Wahlsieg der Forza Italia folgerichtig in der Regierung wieder.

Die Lega Nord war schon damals eine fremden­feindliche Partei, die gegen Einwanderung aus kultur­fremden Räumen agitierte und im Übrigen mehr Autonomie für Norditalien forderte. Der eigentliche Skandal war aber die Zusammenarbeit mit der Alleanza Nazionale unter Gianfranco Fini. Schliesslich war die AN die Nachfolge­partei des Movimento Sociale Italiano (MSI), einer nach dem Krieg gegründeten Partei, deren Zweck ausdrücklich in der Pflege des faschistischen Erbes bestand. Der MSI war bis dahin das Schmuddel­kind der italienischen Politik gewesen, das konsequent ausgegrenzt wurde – bis Berlusconi kam und die bis dahin existierende Brand­mauer mit einem Handstreich abräumte.

Vom Paria der italienischen Politik avancierte die AN, die sich damals erstmals als eine «postfaschistische» Partei zu bezeichnen begann, zur Regierungs­partei; Fini sollte in späteren Auflagen der Koalition gar noch zum Aussen­minister aufsteigen. Es war die grösst­mögliche Legitimierung und Normalisierung von Rechts-aussen-Positionen, die Berlusconi ebenso opportunistisch wie nonchalant in Kauf nahm – um der lieben Regierungs­macht willen.

Die Langzeitwirkung dieser Entscheidung war enorm, denn was weiter oben über gatekeeping gegenüber dem rechten Rand gesagt wurde, war damit für die nächsten drei Jahrzehnte schlicht passé. Das Parteien­system rechts der Mitte war zu einem Kontinuum eingeebnet worden, das von post-christ­demokratischen Splitter­parteien in der Mitte bis zur AN am rechten Rand reichte. Und die Dynamik innerhalb dieses Kontinuums sollte spätestens nach der Jahrtausend­wende nur noch eine Richtung kennen: nach rechts.

Davor war es ironischer­weise die AN, die unter Fini versuchte, sich als grosse Mitte-rechts-Partei und Alternative zur Forza Italia zu etablieren. Nachdem dieser Versuch jedoch unter anderem am Widerwillen der Basis gescheitert war und die AN in einer Art shotgun marriage mit der Forza Italia fusioniert hatte – was später zur Abspaltung der Fratelli d’Italia führen sollte –, verschob sich das Gravitations­zentrum rechts der Mitte immer weiter in Richtung des rechten Randes. Die diversen Akteure verstrickten sich in einen Überbietungs­wettbewerb, in dem jedes Einlenken und jede Nuancierung zur offenen Flanke gegenüber der politischen Konkurrenz wurde, die die Grenzen noch dichter machen und sich von Brüssel noch weniger gefallen lassen wollte. Die Folge war, dass die Hegemonie innerhalb des rechten Spektrums unweigerlich von der Forza Italia zur Lega Matteo Salvinis und schliesslich zu Melonis Fratelli d’Italia wanderte.

Der Wegbereiter und die Klone: Berlusconi mit Giorgia Meloni und Matteo Salvini. Gregorio Borgia/AP/Keystone

Als Regierungspartei treten die Fratelli d’Italia bislang vergleichsweise moderat auf. Doch warum sollte man auch den Konflikt mit der EU suchen, während ein warmer Geldregen aus dem europäischen Wiederaufbau­fonds über dem Land niedergeht? Kurzfristig dürfte es Meloni hauptsächlich um die Konsolidierung ihrer Macht gehen, wozu auch die Übernahme der Erbmasse der Forza Italia gehört. Da wären symbol­trächtige Tabubrüche und Krawall­politik nur kontraproduktiv. Spätestens wenn die Wiederwahl einmal gelungen sein sollte, dürfte jedoch eine härtere und ambitioniertere Gangart gewählt werden.

Es ist wichtig, sich die diversen Vermächtnisse der Ära Berlusconi klar vor Augen zu halten.

Da sind erstens die Normalisierung rechts­radikaler Parteien und die Einebnung des Parteien­systems rechts der Mitte. Der italienische Fall zeigt in aller Klarheit die Gefahr, in die sich Mitte-rechts-Parteien durch Kooperationen mit Parteien wie der AN und der Lega (Nord) begeben: Mittel- bis langfristig kehren sich die Kräfte­verhältnisse in solchen Arrangements regelmässig um. Die Forza Italia dominierte die erste Centro-destra-Regierung, in der aktuellen Koalition ist sie nur noch eine kleine Junior­partnerin. Wenn in Österreich dieses Jahr gewählt wird, dann dürften sich laut aktuellen Umfragen die Grössen­verhältnisse zwischen FPÖ und ÖVP ebenfalls umkehren. Auch in Schweden ist die einzige Partei, die bis jetzt von der Tolerierung durch die Schweden­demokraten profitiert, nicht eine der Parteien, die vertreten sind in der Minderheits­regierung – sondern die Schweden­demokraten selbst.

Das zweite Vermächtnis Berlusconis ist die hyper­personalisierte Instant-Partei; ein Modell, das weit über Italien hinaus eine Vielzahl von Nachahmern gefunden hat, vor allem, aber nicht nur rechts der Mitte. Man denke etwa an Macrons En Marche oder aktuell an das Bündnis Sahra Wagenknecht in Deutschland. Es sind Parteien, die vollkommen auf die Führungs­figur ausgerichtet sind, entsprechend wenig für inner­parteilichen Pluralismus übrig haben und von einem Politiker­typus dominiert werden, für dessen Profil ebenfalls Berlusconi Pate stand.

Es handelt sich um Figuren, die extrem virtuos das Feld der (sozialen) Medien bespielen und Aufmerksamkeits­künstler sind, sich dabei aber oftmals durch auffällige Seriositäts­defizite auszeichnen. Sie verstehen es, die Hemds­ärmel hochzukrempeln, den Puls der Partei­basis zu fühlen und die Herzen zu erobern; sie sind Expertinnen für politics, in deren Händen alles zur Waffe gegen den politischen Gegner mutiert, die aber von policies bisweilen wenig Ahnung haben. Zu den prominentesten Beispielen für diesen Typus gehören Salvini als Chef der Lega in Italien, Boris Johnson als Führer der Tories sowie auch Nicolas Sarkozy als Vorsitzender von Les Républicains, was uns zum Fall Frankreichs bringt.

Die Selbstdemontage von de Gaulles Erben

Die Zäsur in der Entwicklungs­dynamik der französischen Mitte-rechts-Parteien und der Wendepunkt für den Aufstieg der radikalen Rechten lassen sich ebenfalls recht klar benennen – es ist aber nicht der erstmalige Einzug Jean-Marie Le Pens in die Stichwahlen zur Präsidentschaft im Jahr 2002. Natürlich war der Achtungs­erfolg Le Pens ein Paukenschlag, den man nicht hatte kommen sehen, zumal der damalige Front National (FN) nur wenige Jahre zuvor schon totgesagt worden war, nach der Abspaltung eines wichtigen Flügels unter Bruno Mégret. Nach Le Pens Einzug in die Stichwahl zeigte sich die französische Republik jedoch überaus wehrhaft und bescherte dem Kontrahenten und amtierenden Präsidenten Chirac, der die rechte Mitte repräsentierte, einen Sieg mit über 80 Prozent der Stimmen.

Nach dem Schreckmoment von Le Pens Erfolg im ersten Wahlgang ergriff der wieder­gewählte Chirac die Initiative, um den Cordon sanitaire gegen den Front National zu stärken, indem er die rechte Mitte Frankreichs partei­politisch konsolidierte. Durch die Zusammen­führung des gaullistischen RPR und der liberal-konservativen Parteien­föderation UDF in eine Partei sollte vermieden werden, dass der Front National die einzelnen Parteien gegeneinander auszuspielen versucht; man könnte auch von einer Einheits­front der rechten Mitte sprechen.

Durchschlagender Erfolg im Sinne einer dauerhaften Schwächung des Front National war die UMP, deren Gründung daraus resultiert, allerdings nicht vergönnt. Deshalb liess sich Chiracs Nachfolger in spe, der ehemalige Innen- und Finanz­minister Sarkozy, auf einen riskanten Strategie­wechsel ein: Unter Chirac hiess die Devise noch, den Front National rechts liegen zu lassen. Angesichts der beständig steigenden Zustimmungs­werte für die Le-Pen-Partei erschien dies Sarkozy jedoch zu defensiv. Stattdessen gab er eine neue Marsch­richtung vor: Die Wähler seien vom FN zurückzuholen.

Michael Sawyer/AP/Keystone
Michael Sawyer/AP/Keystone
Konkurrent und Helfer: 2007 setzte sich Nicolas Sarkozy (links) in der Wahl zum französischen Präsidenten gegen Jean-Marie Le Pen durch – und ebnete ihm damit erst den Weg.

Eine selbstbewusste Rechte, so die Strategie, sollte sich offensiv mit den Rechts­radikalen auseinandersetzen – und zwar auf deren Terrain. So ging es im Wahlkampf 2007 nicht nur um innere Sicherheit (wie auch schon 2002), sondern diesmal auch um die Rolle, die der Islam und französische oder zugewanderte Muslime in diesem Zusammenhang spielten. Konnte der Islam überhaupt Teil einer ihrem Selbst­verständnis nach laizistischen Gesellschaft sein? Was bedeutete das für das Tragen des Hidschab und für öffentliche Gebete? Und überhaupt: Was machte die französische Identität aus?

Diese Fragen und das gleichzeitige Bekenntnis zu einem Idealbild des «arbeitenden Frankreichs», das «früh aufsteht» und ebenfalls identitäts­politisch aufgeladen wurde, waren bis dahin die Domäne des FN gewesen. Nun machte ihm Sarkozy direkte Konkurrenz – und hatte damit Erfolg.

Nach der ersten Runde schied Jean-Marie Le Pen als Viertplatzierter aus. Die Nachwahl­befragungen zeigten, dass der schneidige Sarkozy, der auch die Stichwahl gegen die Sozialistin Ségolène Royal für sich entscheiden sollte, tatsächlich auch ehemalige FN-Wähler auf seine Seite ziehen konnte. Doch was vom Abend der ersten Wahlrunde vor allem in Erinnerung bleiben sollte, ist Marine Le Pens Antwort auf die Frage, ob mit dieser Niederlage die politische Karriere ihres Vaters beendet sei. Sie sagte: «Jedenfalls ist es der Sieg seiner Ideen.»

In der Tat bedeutete Sarkozys Umarmungs­taktik nichts anderes, als dass der Front National sein Dasein nicht mehr im politischen Abseits fristete; seine Positionen – von der Migrations­kritik bis zu den Vorbehalten gegenüber dem Islam – waren nun salontauglich.

Aber damit nicht genug: Als 2012 Sarkozys Wiederwahl anstand, hatte der Präsident vor allem auch aufgrund der Finanzkrise wenig vorzuweisen, was Wirtschafts­wachstum und Beschäftigung betraf. Deshalb wurde erneut ein höchst kulturalistischer Wahlkampf geführt, in dem es abermals um Frankreichs Identität ging, um die Voll­verschleierung, islamistische Attentate und sogar die Freizügigkeit im Schengen-Raum. Trotz dieser rhetorischen Eskalation verlor Sarkozy jedoch die Stichwahl gegen François Hollande, und die neue Parteichefin des Front National fuhr in der ersten Runde ein Rekord­ergebnis ein.

Von da an ist die Geschichte des Niedergangs von Les Républicains – auch die UMP gab sich 2015 einen neuen Namen – schnell erzählt. Da die Partei von Sarkozy so weit nach rechts verschoben worden war, wurde der Weg frei für Emmanuel Macron, der 2017 mit einer neuen Koalition der Mitte das französische Parteien­system geradezu aus den Angeln hob. Nach seinem Sieg warb Macron systematisch die moderaten Partei­eliten der Republikaner ab, sodass die verbleibenden Führungs­kräfte ständig weiter nach rechts drifteten und die Républicains bei den Wahlen 2022 durch die Rechts­konkurrenz des Rassemblement National und der neuen Partei Reconquête von Éric Zemmour beinahe ausradiert wurden. Der Grundstein für diese Niederlage wurde schon 2007 gelegt.

Die nächsten Wahlen stehen erst in drei Jahren an, und noch ist es zu früh für gehaltvolle Prognosen, aber schon jetzt dürfte feststehen, dass Marine Le Pens Chancen sich nicht verschlechtert haben.

Das liegt nicht nur daran, dass Macron nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten kann und unklar ist, ob irgend­jemand seine Instant-Partei namens Renaissance überhaupt zusammenhalten, geschweige denn zum Erfolg führen kann. Auch die Macron-Regierung selbst ist mittlerweile nach rechts gerückt.

Mit einem restriktiven Einwanderungs­paket, oder auch mit kulturalistischen Versatz­stücken, etwa, dass in der Schule wieder jeden Morgen die «Marseillaise» gesungen werden soll, scheint Macron seinerseits dem Drehbuch Sarkozys zu folgen. Bezeichnender­weise ernannte Gabriel Attal, der jüngst eingesetzte Premier­minister, nun Rachida Dati zur neuen Ministerin für Kultur – sie war Sarkozys Sprecherin im Präsidentschafts­wahlkampf 2007.

Die Schlussfolgerungen, die hier zu ziehen sind, ähneln denen, die sich aus dem italienischen Fall ergeben: Letztlich ist auch in Frankreich der springende Punkt, dass Rechts-aussen-Positionen von der rechten Mitte normalisiert wurden, wobei der RN unter Marine Le Pen im Zeichen der sogenannten dédiabolisation auch von seiner Seite alles daransetzte, als «normale» Partei zu erscheinen. Darüber hinaus zeigt sich aber, dass man nicht mit rechts­radikalen Parteien zusammen­arbeiten muss, damit es zu diesem Effekt kommt.

Im Gegenteil, Sarkozy und seine Nachfolger bestanden auf strikter Nichtkooperation mit dem RN, was aber alles nur noch schlimmer machte: Die Kombination aus der Übernahme von Positionen und Rhetorik bei gleichzeitig ausgeschlossener Zusammen­arbeit bot Le Pen und ihren Mitstreiterinnen die Möglichkeit, sich als Opfer der System­parteien darzustellen, die zwar Positionen kooptierten und damit eigentlich deren Richtigkeit attestierten – aber keine Kooperation wollten, um nicht die Macht mit dem RN teilen zu müssen.

Darüber hinaus zeigt das französische Beispiel auch, dass in der Binsen­weisheit, die Leute würden im Zweifels­fall doch eher das Original wählen, durchaus ein Stück Wahrheit steckt: dann nämlich, wenn der radikal rechten Rhetorik und der Stimmungs­mache à la Sarkozy nicht auch entsprechende Taten folgen. Die Erfolge, die Sarkozy 2007 noch in FN-Milieus gefeiert hatte, verkehrten sich 2012 in ihr Gegenteil, da sich die Wählerschaften, die man mit rechten Parolen angefüttert hatte, nun enttäuscht (wieder) dem Front National von Marine Le Pen zuwandten. If you talk the talk, you have to walk the walk – was uns zum Fall von Grossbritannien bringt.

Die Tories: Niedergang durch Erfolg

In Grossbritannien liegt es auf der Hand, dass die Zäsur, die den Weg in die Radikalisierung weist, das Brexit-Referendum ist.

Die Tories waren nach einer langen Phase im post-thatcheristischen Oppositions-Nirgendwo Anfang der 2010er-Jahre von David Cameron wieder zurück in die rechte Mitte geführt und zu einer relevanten Partei gemacht worden. Aber auch wenn die noch in den Kinder­schuhen steckende Ukip (UK Independence Party) den Tories keine Parlaments­sitze abjagen konnte, ging von ihr doch eine Bedrohung aus, da sie stark genug wurde, um die konservative Wählerschaft zu spalten und so dafür zu sorgen, dass im einfachen Mehrheits­wahlsystem des Vereinigten Königreichs letztlich die Labour-Abgeordneten das Rennen machten. Der rechte Flügel von Partei und Fraktion, der weniger Steuern, weniger Einwanderung und weniger Europäische Union wollte, malte unermüdlich diesen Teufel an die Wand, so lange, bis Cameron glaubte, ihnen nur noch mittels eines Referendums den Wind aus den Segeln nehmen zu können. Doch die Ankündigung der Volks­abstimmung schwächte weder die Brexiteers unter den Tories noch die Ukip. Im Gegenteil.

Endlich raus aus der EU! Grosse Brexit-Party am 31. Januar 2020 in London. Ob heute allen noch zum Feiern zumute ist? Leon Neal/Getty Images

Nach seiner Niederlage musste Cameron von seinem Amt zurücktreten. Die Ukip verschwand zwar kurzzeitig, doch als der tatsächliche Austritt immer länger auf sich warten liess, war sie als neu formierte Brexit-Partei unter der Führung des mephistophelischen Nigel Farage auf Anhieb wieder im Spiel, sodass die Tories bereits unter Premier­ministerin Theresa May einen Strategie­wechsel einleiteten: Um die Brexit-Partei vom politischen Markt zu verdrängen, musste man selbst zur Partei des Brexit werden – und zwar inklusive harscher Migrations­kritik und antiwoken Kulturkampfs.

Unter Mays Nachfolger Boris Johnson, der diese neue Strategie auf die Spitze trieb, ging der reaktionäre Verteidigungs­kampf einer «englischen Lebensweise» dann so weit, dass sogar die Mass­einheiten aus der Zeit des Empires wieder­eingeführt werden sollten.

Johnson und sein Berater Dominic Cummings erkannten, dass mit dem uneingeschränkten Bekenntnis zum Brexit auch alte Labour-Hochburgen geknackt werden konnten, und so demolierte der Premier­minister nicht nur den red wall, sondern nebenbei auch alle möglichen Institutionen des britischen politischen Lebens von der BBC bis zum Parlament und dem obersten Gerichtshof. Erst das Chaos der Skandale beendete schliesslich seine Herrschaft.

Die Lehre aus dem britischen Fall: Die Strategie der rhetorischen Radikalisierung kann nur um den Preis einer tatsächlichen Radikalisierung Erfolg haben. Die Brexit-Partei und ihre Nachfolger spielen keine Rolle mehr, aber die Tories haben deren Platz eingenommen. Grossbritannien zeigt aber auch die Gefahren einer solchen Selbst­radikalisierung. Die Tories verfügen über die grösste Unterhaus­mehrheit seit der Ära Thatcher, aber die Kämpfe um die politische Ausrichtung haben derart tiefe Gräben und Wunden aufgerissen, dass sich die Partei als Scherben­haufen und Chaostruppe präsentiert, auf die bei den nächsten Wahlen niemand einen Pfifferling wetten würde.

Wer zieht die Lehren?

Was sagt uns all das über die Umgangs­weise von Mitte-rechts-Parteien mit ihren Konkurrenten von rechts aussen? Die Frage stellt sich angesichts der zunehmenden Popularität der AfD mit grosser Dringlichkeit auch in Deutschland, wo die Vorherrschaft über das Spektrum rechts der Mitte (noch) bei der Union liegt, die mit ihren stabilen Zustimmungs­werten und Regierungs­beteiligungen auf Länder­ebene im europäischen Vergleich inzwischen eine Anomalie darstellt und als letztes Leuchtfeuer des christ­demokratischen Konservatismus gelten muss.

Wie ist der Aufstieg der AfD zu stoppen, gar umzukehren? Auf CDU-Chef Friedrich Merz setzen nicht alle … Katja Hoffmann/laif

Es zeigt sich, dass die Kooperation mit Rechts-aussen-Parteien für Mitte-rechts-Parteien eigentlich nie gut ausgeht. Auch eine Übernahme von inhaltlichen Positionen, die nicht von einer wie auch immer gearteten Kooperation begleitet wird, ist kein Erfolgs­rezept. Die Selbst­radikalisierung führt mittelfristig zur Implosion ehemals gemässigt konservativer Parteien, was ja auch die amerikanischen Republikaner eindrucksvoll bestätigen.

Man würde denken, all dies könne nur bedeuten, dass eine Partei wie die CDU gut beraten wäre, grösst­mögliche Distanz zur AfD zu wahren. Sie sollte die Brandmauer instand halten und sich von kultur­kämpferischen Debatten und dem überzogenen Austeilen in Richtung der Grünen eher fernhalten. Beides rückt sie unweigerlich in die Nähe der AfD.

Es gibt Kräfte in der deutschen Christ­demokratie, die das ebenso sehen, aber diejenigen, die tonangebend sind, wirken in diesen strategischen Fragen bisweilen seltsam ratlos und hin- und hergerissen. Dabei liefert die politische Landschaft rundum in Europa sehr eindeutige Fingerzeige.

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