Auf der Suche nach den Arbeitern: Premierminister Boris Johnson besucht im Februar 2022 die Babcock-Rosyth-Werft nahe Edinburgh. Andrew Parsons/No 10 Downing Street/Creative Commons

My goodness, hört der nie auf?

Boris Johnson hat noch jeden Skandal überlebt – indem er alle dazu brachte, das Thema zu wechseln. Die Frage ist, wie lange das noch funktioniert.

Von Alexander Menden, 07.07.2022

Synthetische Stimme
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Es gab einen Moment, kurz nach dem britischen Volks­referendum zum EU-Ausstieg am 23. Juni 2016, da dachte man, Boris Johnsons politische Karriere sei vorbei.

Vier Monate zuvor hatte er, der damals noch Bürgermeister von London war, sich überraschend auf die Seite des Leave-Lagers geschlagen. Und das, obwohl Johnson, wie er dem damaligen Premier David Cameron fast gleichzeitig per Text­nachricht mitteilte, davon überzeugt war, der Brexit werde «zermalmt werden wie eine Kröte unter der Egge». Am Tag nach der Leave-Entscheidung kündigte Cameron seinen Rücktritt an. Johnsons Kampagne hatte gesiegt. Sein Weg schien frei, das Amt als Premier­minister des Vereinigten König­reiches anzutreten, das er stets als natürliches Ziel seiner Laufbahn betrachtet hatte, als Nachfolger seines grossen Vorbilds Winston Churchill.

Doch dann, nur Stunden bevor Boris Johnson offiziell seinen Hut als Nachfolger Camerons, seines ehemaligen Mitschülers am Elite­internat Eton, in den Ring zu werfen gedachte, sabotierte Justiz­minister Michael Gove seine Pläne. Gove, bis dahin einer der vermeintlich treuesten Adjutanten Johnsons im Brexiteer-Lager, entzog Johnson öffentlich das Vertrauen. In seiner Erklärung bezeichnete er seinen Partei­freund als unfähig, Premier­minister zu werden, da es ihm an den erforderlichen Führungs­qualitäten fehle. Stattdessen gab Michael Gove nun – «widerstrebend» – seine eigene Kandidatur bekannt.

Bei seiner Pressekonferenz kurz darauf wirkte Johnson für seine Verhältnisse überaus ernst. Er schickte voraus, der nächste Premier­minister müsse diesen Augenblick nutzen, um Gross­britannien auf der internationalen Bühne wieder zu alter Grösse erstehen zu lassen – und schloss dann: «Euch, meine Freunde, die ihr geduldig auf die Pointe dieser Rede gewartet habt, muss ich mitteilen: Nach Rücksprache mit meinen Kollegen und in Anbetracht der Umstände im Parlament bin ich zu dem Schluss gekommen, dass diese Person nicht ich sein kann.»

Es schien, als habe Johnson sein Pokerblatt desaströs überreizt. Er hatte sein Machtkalkül auf den Brexit gesetzt – um den rechten, Cameron misstrauenden Rand der Tory-Partei auf seine Seite zu ziehen. Eigentlich hatte er am Brexit kein nennens­wertes Interesse gehabt. Nach dem knappen Sieg des Leave-Lagers war er zunächst untergetaucht, hatte sich dann sehr unentschlossen zur Umsetzung des Referendums­ergebnisses geäussert, als wolle er die Verantwortung dafür nicht recht übernehmen. Und nun war er kurz vor der Ziellinie von Michael Gove, einem waschechten Brexit-Fanatiker, abgefangen worden. Gove galt im Johnson-Lager als Verräter, Johnson selbst aber als irreparabel beschädigt. Theresa May wurde Premier­ministerin.

Und damit hätte, wie gesagt, die Karriere des Alexander Boris de Pfeffel Johnson am Ende sein können. Stattdessen machte ihn Theresa May zu ihrem Aussen­minister. Sie glaubte, ein Johnson in ihrem Kabinett könne ihr weniger gefährlich werden als ein Johnson, der sie von ausserhalb attackieren könnte – so wie er es mit Cameron getan hatte.

Statt also ganz in der Versenkung zu verschwinden, nachdem er auf die Wieder­wahl als Bürger­meister von London im Mai 2016 verzichtet hatte, kehrte Johnson auf die internationale Bühne zurück. Und dort begann er sofort, mit clownesken Eskapaden sein politisches Profil neu zu schärfen.

Theresa May sollte keine erfreuliche Amtszeit haben. Die Brexit-Hardliner pochten auf einen möglichst kompromiss­losen Bruch mit der EU und trieben sie damit immer weiter in die Enge. Im Dezember 2018 überstand sie ein Misstrauens­votum ihrer eigenen Partei. Doch nachdem sie im Parlament mit ihrer Brexit-Politik mehrere herbe Niederlagen hatte einstecken müssen, an denen die Hardliner massgeblich beteiligt gewesen waren, trat sie im Juli 2019 zurück. Ihr Amts­nachfolger wurde: Boris Johnson. Michael Gove, der vormalige politische Meuchel­mörder, war – bis zu seinem Rausschmiss gestern Mittwoch – Mitglied seines Kabinetts.

Rückblickend ist er sehr lehrreich, jener von den Ereignissen der folgenden Jahre gleichsam verschüttete Moment im Juni 2016, in dem für Johnson alles auf Messers Schneide stand: Er zeigt nicht nur, dass es, wie in Goves Fall, in der Tory-Partei nicht unbedingt von Nachteil sein muss, wenn man politischen Verbündeten in den Rücken fällt. Er beweist vor allem auch, dass Boris Johnson eben nicht wie die meisten Politiker ist.

Seine Karriere hat bisher noch jeden Skandal, jede Kehrt­wende und jeden auf den ersten Blick fatalen Fehler überlebt.

Nun wird ihm wieder das Ende seiner Laufbahn vorhergesagt. Es scheint, als hätten sich diesmal zu viele Skandale angesammelt, seit er im Dezember 2019 mit grosser Mehrheit als Premier­minister bestätigt wurde. Vor allem «Partygate», also die Reihe von Umtrünken, an denen Johnson zwischen Mai 2020 und April 2021 teilnahm, während im Vereinigten Königreich verschärfte Lockdown-Regeln galten, hängt wie ein Mühlstein an der Regierung.

Steuermann: Johnson im Januar 2022 zu Besuch bei Hanson Aggregates in Penmaenmawr, hier wird im Norden von Wales Sand und Kies produziert. Andrew Parsons/No 10 Downing Street/Creative Commons

Zu den Bildern

Der britische Premier Boris Johnson begibt sich gern unter die Menschen – und lässt das fotografisch dokumentieren: Andrew Parsons ist Johnsons offizieller Fotograf. Die Bilder sind öffentlich verfügbar, und sie lassen keine Möglichkeit aus, Johnsons Volksnähe zu inszenieren. Besonders gerne besucht Johnson auch das Arbeiter­volk, darum sieht man ihn auf den Bildern immer wieder beim Tragen einer Leuchtweste.

Bei den britischen Kommunal­wahlen im Mai 2022 verloren die Konservativen 487 Sitze in den städtischen Councils, ein klares Signal, dass die Wähler­gunst umgeschlagen war. Einen Monat nach den Kommunal­wahlen überstand Johnson ein Misstrauens­votum seiner Unterhaus­fraktion. Dabei sprachen ihm 211 seiner Abgeordneten das Vertrauen aus, 148 jedoch nicht, und damit satte 41 Prozent der gesamten Tory-Fraktion. Das war ein schlechteres Ergebnis als das von Theresa May im Jahre 2018, der 37 Prozent der eigenen Parlamentarier misstrauten.

Ein weiterer harter Schlag erfolgte am 23. Juni 2022, genau sechs Jahre nach dem Brexit-Referendum: Bei Nachwahlen in England verloren die Tories zwei Unterhaus­sitze: Tiverton and Honiton im Südwesten Englands fiel an die Liberal­demokraten, der Wahlkreis Wakefield im Norden an die Labour-Partei. Beide hatten konservative Abgeordnete innegehabt, die ihre Mandate wegen sexuellen Fehl­verhaltens hatten niederlegen müssen. In Tiverton and Honiton hatten die Konservativen seit mehr als einem Jahrhundert den Westminster-Abgeordneten gestellt.

Tory-Partei­generalsekretär Oliver Dowden legte nach der Niederlage sein Amt nieder und forderte in seinem Rücktritts­schreiben unmissverständlich: «Jemand muss Verantwortung übernehmen, und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich unter diesen Umständen nicht im Amt bleiben kann.» Der ehemalige Tory-Vorsitzende Michael Howard forderte Johnsons Rücktritt, zur Not unter Veränderung der Partei­regeln, die einen weiteren Misstrauens­antrag innerhalb der nächsten 12 Monate nicht zulassen. Howard hatte Johnson 2004 aus seiner Rolle als kultur­politischer Sprecher der Tory-Fraktion entfernt, nachdem dieser über eine ausser­eheliche Affäre gelogen hatte.

Der härteste Schlag folgt nun in dieser Woche. Am Dienstag­abend traten Finanz­minister Rishi Sunak und Gesundheits­minister Sajid Javid zurück. Er habe das Vertrauen in den Regierungs­chef verloren, schrieb Javid in seinem Rücktritts­schreiben. Auslöser war die Ernennung von Chris Pincher zum «Vize-Whip», der für die Einhaltung der Fraktions­disziplin sorgt. Pincher trat vergangene Woche zurück, nachdem Medien publik gemacht hatten, dass er in angetrunkenem Zustand zwei Männer begrapscht haben soll. Danach wurde bekannt, dass Johnson, der die Ernennung verantwortete, schon damals über frühere Übergriffe Pinchers informiert war. Im Laufe des Mittwochs folgten weitere Rücktritte von hochrangigen Mitarbeiterinnen aus verschiedenen Ministerien. Am späten Mittwoch­abend entliess Johnson Michael Gove. Man könne sich keine Schlange halten, die in den Medien schadenfroh verkünde, der Chef müsse gehen, hiess es aus 10 Downing Street.

Britische Medien sehen den Premier nun definitiv auf der Kippe. Immer mehr Mitglieder der eigenen Partei – wie offenbar auch Gove – rufen nach seinem Rücktritt.

Die Frage lautet jetzt: Ist das nun das Ende?

Um sich einer Antwort auf diese Fragen zu nähern, muss man sich vergegenwärtigen, mit welchen Mitteln Boris Johnson es schaffte, als relativ liberaler Politiker zum Anführer der Brexit-Bewegung zu werden – und über diese Route schliesslich Premier­minister. Ein Anti-Europäer war er nach eigener Aussage und dem Zeugnis vieler, die seine Karriere begleitet haben, nie. Wieso auch? Seine Familie ist paneuropäisch: Das «de Pfeffel» in seinem vollen Namen haben die Franzosen und Deutschen aus seinem Stamm­baum beigesteuert. Sein Urgrossvater väterlicherseits war Ali Kemal Bey, ein Journalist und liberaler Politiker im damaligen Osmanischen Reich, seine Grossmutter Irene Williams wurde in Paris geboren. Seine Glaub­würdigkeit im euroskeptischen Lager erarbeitete Johnson sich in erster Linie von 1989 bis 1994. Damals war er Brüssel-Korrespondent für den «Daily Telegraph».

Dort wurde er zum Quell diverser EU-feindlicher Mythen, die später zum Kern des Argumentations­arsenals britischer Euro­skeptiker wurden. Darunter war die Behauptung, die EU plane, «Eurosärge» zum Standard zu machen, die alle die gleichen Masse aufweisen müssten. Auch eine «Bananen­regulierung» meldete Johnson aus Brüssel, die angeblich vorschrieb, wie gebogen Bananen laut EU-Standards zu sein hätten. Die vielleicht bekannteste Erfindung des Korrespondenten war ein europaweites Verbot von Krabben­cocktail-Chips.

All dies war nachweislich zusammen­fantasiert. Doch Johnson kannte den Geschmack seiner konservativen Leser, und er wusste in launigem Ton zu liefern. Zu den Briefings der EU-Kommission kam er grundsätzlich zu spät und stellte dann immer die gleiche Frage: «Was ist passiert? Und warum ist es schlecht für Grossbritannien?» Das tat er unabhängig von seinen eigenen Präferenzen, es war Mittel zum Zweck, und es sollte ihm später als Munition für die Brexit-Kampagne dienen.

Der Mann, der Johnson nach Brüssel schickte, war der damalige «Telegraph»-Chefredaktor Max Hastings. Er engagierte ihn nach eigenem Eingeständnis, weil er ein «glänzend unterhaltsamer Journalist» war. Ob Unterhaltsamkeit das Haupt­kriterium für die Berichte eines politischen Korrespondenten sein sollte, darüber darf man geteilter Meinung sein. Als Boris Johnson sich 2019 anschickte, Premier zu werden, äusserte Hastings sich in einem Artikel für den «Guardian» jedenfalls eindeutig: «Er ist zwar ein brillanter Entertainer, was ihm als Londoner Bürger­meister zu Erfolg verhalf, aber für ein hohes Staatsamt ist er ungeeignet, da ihm offenkundig an nichts anderem gelegen ist als an seinem eigenen Ruhm und seiner eigenen Befriedigung.»

Hastings prophezeite, Johnsons Amtszeit werde «mit Sicherheit von Verachtung für Regeln, Präzedenz­fälle, Ordnung und Stabilität» geprägt sein. Denn Würde, so Hastings, sei «in öffentlichen Ämtern immer noch wichtig, und Johnson wird nie welche besitzen». Doch es war nicht Würde, sondern die sorgfältig geplante und gespielte Johnson-Rolle – vom verwuschelten Haar über die zerknitterten Anzüge bis hin zur Gewohnheit, sich aus jeder Situation mit einem Bonmot herauszuwinden –, die Johnson bei vielen so beliebt machte, wenn auch nicht unbedingt beim Tory-Establishment.

In der Parteispitze galt seine Kandidatur als Bürger­meister von London gegen den Amtsinhaber und Labour-Linksaussen Ken Livingstone im Jahr 2008 als eine Art Witz. Doch die Johnson-Masche zog bei den Londoner Wählerinnen. Gerade die politische und inhaltliche Flexibilität, mit der er seinen letztlich prinzipien­losen Ehrgeiz ummantelte, machte ihn zu einer idealen Projektions­fläche: Man konnte sich aus den Dingen, die er sagte, das heraussuchen, was einem passte – und die Statements ignorieren, in denen er das genaue Gegenteil behauptet hatte. Sein berüchtigtes Desinteresse an Detail­fragen war kein Hindernis.

Einmal gewählt, wandte er eine weitere für ihn typische Taktik an: Er reklamierte den Erfolg von Projekten für sich, die von anderen, in diesem Fall von Livingstone, angeschoben worden waren – darunter die erfolgreiche Olympia-Bewerbung. Oder die Londoner Leihräder, die prompt den Namen «Boris Bikes» bekamen. Von seiner neuen, gehobenen, aber nicht mit allzu grosser Macht­fülle ausgestatteten Stellung aus konnte er sich gegen die Politik der konservativen Regierung unter David Cameron positionieren, oft mit eher liberalen Äusserungen zu Themen wie öffentliche Investitionen und Einwanderung.

Als die EU-Referendums­kampagnen begannen, hätte es als potenzielle Galions­figuren des Brexit-Projekts viele gegeben, die mit weit grösserer Überzeugung hinter dem Ziel des Austritts standen als Boris Johnson. Aber es gab niemanden, der Johnson in Sachen Beliebtheit und Bekanntheit das Wasser reichen konnte. Selbst diejenigen Tories, die ihn für einen Schaum­schläger hielten, ahnten, dass er mit seiner «Having your cake and eating it»-Rhetorik, die allen alles versprach, das Ergebnis entscheidend würde beeinflussen können. Und sie hatten recht.

Boris war nicht wie andere Politiker, er war ein Sonderfall, und zwar ein extrem erfolgreicher.

Doch gerade die Eigenschaften, die ihn ins Amt des Premiers geführt haben, könnten ihn nun zu Fall bringen. Der entscheidende Unterschied zur Situation im Juni 2016 lässt sich in einem Wort zusammen­fassen: Verantwortung. Boris Johnson ist zum ersten Mal in einer Position, in der er nicht das tun kann, womit er habituell die meisten Krisen gemeistert hat, einfach die Verantwortung delegieren. An wen auch? Er hat das höchste Staatsamt inne.

Dass sich die in Aussicht gestellten, zahlreichen Brexit-Vorteile noch nicht materialisiert haben, ist dabei übrigens bezeichnender­weise nachrangig. Der Brexit ist für die meisten seiner Verfechter eher wie eine quasireligiöse Verheissung: Wenn er nicht funktioniert, seine vermeintlich reine Lehre also nicht umgesetzt werden kann, dann sind böse Kräfte von aussen daran schuld. Seine unilaterale Aussetzung des Nordirland-Protokolls, das die EU als Rechts­bruch betrachtet, stellt für die Boris-Basis zum Beispiel kein Problem dar, im Gegenteil.

Doch sein innenpolitisches Versagen, nicht zuletzt die zahlreichen Fehler während der Pandemie, steht auf einem anderen Blatt. Sein Ruf als ein Premier, der sich nicht immer an die Regeln hält, aber seinen Job macht, hat extrem gelitten. Unter seiner Ägide erwarb die britische Regierung zum Beispiel allein im ersten Corona-Jahr für 4 Milliarden Pfund medizinische Schutz­kleidung, die nicht den Sicherheits­standards des National Health Service entsprach – und verbrannt werden musste. Bei der Vergabe von Aufträgen zur Lieferung solcher Schutz­kleidung hatte es laut der Antikorruptions-Organisation Transparency International UK eine «VIP-Spur» für Tory-Partei­spenderinnen und andere mit der Conservative Party verbundene Personen gegeben.

Frischgemüse: Johnson im Juni 2022 auf einer Farm in Hayle, Cornwall, im Südwesten von England. Simon Dawson/No 10 Downing Street/Creative Commons

Zudem hat der Eindruck, es gebe eine Regel, die für Boris und seinen Zirkel gelte, für den Rest jedoch eine andere, das Vertrauen der Wähler nachhaltig erodiert. Johnson war verantwortlich für die Corona-Regeln, die er selbst wiederholt brach, indem er während des Lockdowns an Partys teilnahm. Eine Umfrage des Unternehmens You Gov ergab, dass 78 Prozent der Briten ihren Premier für einen Lügner halten; 66 Prozent schätzen seine Entschuldigungen für «Partygate» als unehrlich ein. Er entliess einige Bauern­opfer, nachrangige Mitglieder seines Stabs, doch das war wirkungslos.

Gestenpolitik wie die Ankündigung, wieder imperiale Masse – also etwa Stone oder Yards – in Grossbritannien als Einheit einzuführen, verfängt ebenfalls nicht mehr. Dieser Vorstoss war ein typischer Fall von «dead cat politics»: Boris Johnson selbst verglich diese Taktik einmal damit, in einer schwierigen Situation eine tote Katze auf den Tisch zu werfen und die Reaktion abzuwarten: «Die Leute werden empört, alarmiert und angewidert sein», sagte Johnson. «Das Entscheidende ist aber, dass alle schreien: ‹Da liegt eine tote Katze auf dem Tisch!› Mit anderen Worten, sie werden über die tote Katze sprechen – über das, worüber sie sprechen sollen –, und sie werden nicht über das Problem sprechen, das ihnen so viel Kummer bereitet hat.»

Doch keine tote Katze der Welt wäre in der Lage, davon abzulenken, wie toxisch Johnsons Narzissmus, der stets sein Modus Operandi war, in der gegenwärtigen Lage ist. Die wuschelige Chuzpe, mit der er immer alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen verstand, wirkt plötzlich kurzsichtig, unreif und – was vielleicht das Schädlichste für ihn ist – weit entfernt von den Problemen der gewöhnlichen Bürger.

So wurde er in einem Interview vor den Kommunal­wahlen vom Mai auf die schwierige Situation einer 77-jährigen Londoner Rentnerin namens Elsie angesprochen, die sich nur noch eine Mahlzeit am Tag und die Heiz­kosten überhaupt nicht mehr leisten konnte und die im Winter den ganzen Tag in öffentlichen Verkehrs­mitteln verbrachte, weil es dort wenigstens warm war. Die einzige Antwort, die Johnson einfiel, war der Hinweis, es sei ja er gewesen, der als Londoner Bürger­meister solche kostenlosen Fahrten in öffentlichen Verkehrs­mitteln für Rentner überhaupt erst möglich gemacht habe. Nicht nur schmückte er sich damit wieder einmal mit fremden Federn – den sogenannten Freedom Pass für Rentner gibt es bereits seit 1973 –, Johnson verwies mit seiner Antwort auch geradezu reflexhaft wieder auf sich selbst, ohne irgendwelche Empathie zu zeigen.

Danke! Boris Johnson im Juli 2021 am National Thank You Day im Garten von 10 Downing Street, mit dem Reggae-Musiker Levi Roots. Andrew Parsons/No 10 Downing Street/Creative Commons

Kurz: Er wendete dieselbe Taktik an, mit der er sein Leben lang immer wieder auf die Füsse gefallen war. Nur scheint die Wirksamkeit dieser Taktik nun aufgebraucht.

Johnsons Ego, schrieb «Guardian»-Kolumnist Rafael Behr nach dem BBC-Interview, beanspruche «die gesamte politische Bandbreite, die der konservativen Partei zur Verfügung steht». Das stelle die konservativen Abgeordneten zunehmend vor ein Dilemma: Sie können die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes angehen oder ihre Energie darauf verwenden, Johnsons zunehmend fragile Position zu stützen.

Zu Letzterem sind immer weniger Tories bereit. Ist der Glaube an Boris Johnsons Sonder­status als Politiker dahin? Das Ergebnis des Misstrauens­votums lässt dies vermuten. Allerdings überzeugen die möglichen partei­internen Gegen­kandidaten nicht: Der diese Woche zurück­getretene Schatz­kanzler Rishi Sunak hat mit seinen eigenen Skandalen zu kämpfen; der frühere langjährige Gesundheits­minister Jeremy Hunt ist schon einmal mit einer Bewerbung um den Partei­vorsitz gescheitert; Aussen­ministerin Liz Truss wird allgemein als politisches Leicht­gewicht angesehen. Boris Johnson befindet sich also in einem Schwebe­zustand: Er ist angezählt, gilt derzeit aber in den eigenen Reihen anscheinend als alternativlos und bleibt daher im Amt.

Heute würden wohl nur die wenigsten darauf setzen, dass die Tories zur nächsten Unterhaus­wahl, die spätestens im Januar 2025 stattfinden wird, wieder mit einem Spitzen­kandidaten Boris Johnson antreten. Was Johnson selbst angeht, so ist ihm in Bezug auf die Rücktritts­forderungen kaum mehr zu entlocken als das Mantra, er wolle «für das britische Volk liefern». Selbst gestern Mittwoch erklärte Johnson, er habe ein gewaltiges Mandat und werde darum weiter­machen.

Wer weiss. Daran, dass er sich als eine Art Reinkarnation Winston Churchills betrachtet, hat Boris Johnson nie einen Zweifel gelassen. Churchill wurde, obwohl er gerade massgeblich zum Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg beigetragen hatte, 1945 abgewählt – um dann 1951 ein weiteres Mal Premier zu werden.

Zum Autor

Alexander Menden ist Journalist, er schreibt vor allem für die «Süddeutsche Zeitung» (SZ). Von 2004 bis 2018 war er Kultur­korrespondent der SZ in London.

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