Brian Keller: In Freiheit

Das Bezirksgericht Dielsdorf verurteilt Brian Keller zwar wegen verschiedener Delikte, die er in Haft beging. Aber der berühmteste Häftling der Schweiz kommt nach siebeneinhalb Jahren im Gefängnis wieder auf freien Fuss.

Von Carlos Hanimann, 09.11.2023

Vorgelesen von Miriam Japp
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«Oh my god.» Richter Marc Gmünder hatte knapp zehn Minuten geredet, als im Gerichtssaal I des Bezirks­gerichts Dielsdorf endlich eine grosse Erleichterung sicht- und hörbar wurde. Auf dem Bildschirm, über den die anwesenden Journalistinnen die Urteils­verkündung im Fall Brian Keller verfolgten, erschien am rechten Rand zuerst eine Hand, dann ein ganzer Arm, nicht mehr. Man sah, wie sich Verteidiger Philip Stolkin nach hinten drehte, die ausgestreckte Hand der Mutter oder der Schwester von Brian Keller ergriff und festhielt.

«Oh my god», flüsterte eine Stimme aus den Lautsprechern. Brian Keller kommt frei.

Kurz nach 10 Uhr gab das Bezirks­gericht Dielsdorf am Mittwoch­vormittag bekannt, die Sicherheitshaft aufzuheben, in der sich Brian Keller seit 370 Tagen befindet. Insgesamt sitzt der 28-jährige Keller schon seit sieben­einhalb Jahren ohne Unterbruch im Gefängnis, die letzten 73 Tage in Untersuchungs- und Sicherheitshaft. Am Freitag wird er erstmals wieder in Freiheit entlassen. Das Gericht belegt ihn mit verschiedenen Kontakt- und Rayonverboten.

«Dem Beschuldigten ist nach sieben­einhalb Jahren in Haft die Möglichkeit der Bewährung in Freiheit zu geben», erklärte Richter Gmünder. «Es geht nach langen Jahren ein neues Kapitel auf. Das Gericht hat entschieden, die Haft­situation zu beenden.»

Fast vier Jahre ohne empathische Berührung

Brian Keller war vergangene Woche wegen verschiedener Delikte vor Gericht gestanden, die er in Haft begangen haben soll. Keller hatte sich für den Prozess dispensieren lassen und war weder bei der Haupt­verhandlung noch beim Urteil im Gerichts­saal anwesend. Vertreten wurde er in Dielsdorf von seinen drei Verteidigern Thomas Häusermann, Bernard Rambert und Philip Stolkin.

Brian Keller waren insgesamt 32 Delikte vorgeworfen worden, die er zwischen November 2018 und Juli 2021 in der Haftanstalt Pöschwies in Regensdorf bei Zürich begangen haben soll, dem grössten Männer­gefängnis der Schweiz. Die Vorwürfe lauteten auf mehrfache Körper­verletzung, Gewalt und Drohung gegen Beamte, Sach­beschädigung und Drohung.

Grösstenteils ging es dabei um Auseinander­setzungen mit dem Gefängnis­personal, das in Vollmontur und grosser Überzahl gegen Keller vorging. Brian Keller griff die Aufseher immer wieder an, selbst wenn es völlig aussichtslos war, und zerstörte und verschmutzte dabei Zelle und Gefängnis­inventar.

In einem Fall habe Brian Keller versucht, einen Gefängnis­aufseher schwer zu verletzen, als er ein Stück Sicherheits­glas gegen eine Tür warf und den Aufseher dabei verletzte. Staatsanwalt Ulrich Krättli forderte deshalb im Prozess, dass das Gericht Brian Keller zu einer Freiheits­strafe von neun Jahren und sieben Monaten verurteile.

Seine Verteidiger hingegen stellten sich auf den Standpunkt, dass Keller im Notstand gehandelt habe. Keller habe sich bloss gegen die unmenschlichen und unrechtmässigen Haft­bedingungen gewehrt. In diesem Lichte seien die Taten zu bewerten. Nur sein Widerstand habe Brian Keller vor dem Wahnsinn bewahrt, sagte Anwalt Stolkin vor Gericht.

Tatsächlich waren die Umstände, unter denen Brian Keller zum Tatzeitpunkt inhaftiert war, ohne jedes Beispiel.

Er sass dreieinhalb Jahre lang in strikter Einzelhaft, war von Mitgefangenen isoliert, konnte nicht arbeiten, sich weiterbilden oder Sport treiben. Die Aufseher kommunizierten nur durch die Gefängnis­klappe mit ihm. Besuche fanden bloss hinter Trenn­scheiben statt. Hofgang hatte er lediglich allein und war stets an Händen und Füssen gefesselt. Fast vier Jahre lang hatte er keine einzige liebevolle Berührung. Der Reizentzug, hielt ein Gutachten fest, das die Verteidiger in Auftrag gegeben hatten, sei geeignet, die psychische Identität des Häftlings zu zerstören.

Und das betrifft nur die Haft im Gefängnis Pöschwies, wo Brian Keller die ihm vorgeworfenen Delikte begangen haben soll.

Dem war eine lange Reihe unmenschlicher und rechts­widriger Behandlungen durch die Polizei voraus­gegangen (die ihn als 10-Jährigen fälschlicher­weise mit Handschellen vor den Eltern abführte), durch Psychiater (die ihn als Teenager dreizehn Tage lang ununterbrochen an ein Bett fesselten und mit Medikamenten vollpumpten) und durch den Justiz­vollzug (der ihn im Gefängnis Pfäffikon zwei Wochen lang bis auf einen Poncho nackt am Boden schlafen liess).

Gefängnischef bittet um Entschuldigung

Während der Haupt­verhandlung am Bezirks­gericht Dielsdorf hatten vor allem die Äusserungen des Sach­verständigen Jonas Weber für Aufsehen gesorgt. Der Berner Strafrechts­professor war vom Gericht als Zeuge befragt worden, ob das Haftregime von Brian Keller im Gefängnis Pöschwies menschenrechts­konform gewesen sei und ob Keller genügend medizinisch versorgt worden sei.

Weber äusserte sich so deutlich, wie es nur ging: «Es lag eine nach menschen­rechtlichen Vorgaben verbotene Langzeithaft vor», sagte er vor Gericht. Auch die medizinische Versorgung hielt er für ungenügend.

Weber ist mit dieser Einschätzung nicht der Einzige. Verschiedene nationale und internationale Gremien hatten die Haft­bedingungen im Gefängnis Pöschwies als rechtswidrig und unmenschlich kritisiert.

Aber die Einschätzung des von Amtes wegen eingesetzten Experten Jonas Weber löste diese Woche dennoch ein kleines Erdbeben aus.

In den Tagen, in denen sich das Gericht zur Beratung des Urteils zurückzog, meldete sich ausgerechnet der ehemalige Leiter des Justizvollzugs, Thomas Manhart, zu Wort. Manhart hatte von 2007 bis 2019 den Justizvollzug im Kanton Zürich geleitet und war damit der zweithöchste Verantwortungs­träger im Justiz­drama um Brian Keller (die höchste ist Justiz­direktorin Jacqueline Fehr).

Manhart bat Brian Keller in einem handgeschriebenen Brief um Verzeihung – «in aller Form für das Unrecht, das Ihnen unter meiner Verantwortung angetan wurde, für die Verletzung Ihrer Menschen­rechte, die überlange Einzelhaft, die Hoffnungs- und Perspektiv­losigkeit, welche ich mitverursacht habe».

Er hoffe «von Herzen», dass die schwierige Zeit für Brian Keller nun ein Ende habe, schrieb Manhart im Brief, den der «Tages-Anzeiger» am Montag publik machte.

Die Entschuldigung kam also ausgerechnet von der Person, die für die verschiedentlich als rechtswidrig eingestufte Haft von Brian Keller verantwortlich war.

Die Behandlung war «menschen­unwürdig»

Das Gericht folgte am Mittwoch nun in weiten Teilen der Einschätzung des Experten Jonas Weber. Die Haft­bedingungen, unter denen Brian Keller die Delikte in der Pöschwies begangen hatte, bezeichnete es bei der Urteils­verkündung als «konventions­widrig» und sprach von «menschen­unwürdiger Behandlung».

«Die Behandlung von Brian Keller war klarer­weise nicht korrekt. Das ist zu bedauern.»

Allerdings widersprach das Gericht der Darstellung des Verteidiger­teams, Brian Keller habe sich in einer Notstands­situation befunden und sich nur gegen ein unrechtes Regime gewehrt. «Das wird durch die Akten mannigfach widerlegt», sagte Richter Gmünder.

Brian Keller habe sich nicht erst im Gefängnis Pöschwies renitent verhalten. Er sei von klein auf gewalt­tätig gewesen, sagte der Richter und zitierte Berichte aus Hort, Schule und weiteren Stationen in Brian Kellers Leben. Auch im Regional­gefängnis Burgdorf, wo Keller nicht in menschen­rechtswidriger Weise untergebracht war, sei es gemäss Gefängnis­journal zu ähnlichen Ausbrüchen gekommen wie in der Pöschwies. Nur habe man dort keine Anzeige erstattet.

Das Gericht könne nicht zustimmen, dass die menschenrechts­widrige Haft für Brian Kellers Verhalten ursächlich sei. Er habe schon vor Verlegung in die Pöschwies angekündigt, er werde dagegen in den Krieg ziehen. Die Gewalt sei also mit Ansage erfolgt und nicht eine Reaktion gewesen.

Strafe fällt massiv tiefer aus als gefordert

Beim Urteil vom Mittwoch­vormittag sprach das Gericht Brian Keller von drei Vorwürfen frei. Für die anderen Delikte bestrafte ihn das Gericht zu zweieinhalb Jahren Freiheits­entzug, davon hat Keller bereits 370 Tage abgesessen.

Den härtesten Vorwurf der versuchten schweren Körper­verletzung wies das Gericht ab. Es korrigierte während der Urteils­begründung die Darstellungen der Staats­anwaltschaft. Brian Keller habe in der Pöschwies nicht eine grosse scharfkantige Glas­scherbe auf einen Aufseher geschleudert, sondern ein «Konglomerat von kleinen Sicherheitsglas­splittern» in Richtung einer Tür geworfen. Die Tür stand einen Spalt breit offen, die Scherben prallten ab und verletzten dabei einen Aufseher leicht, den Brian Keller aber hinter der Tür gar nicht habe sehen können. Es handle sich deshalb nur um eine einfache Körper­verletzung.

Auch die zahlreichen und heftigen verbalen Drohungen, die Brian Keller dem Gefängnis­personal gegenüber bei fast jeder Gelegenheit ausstiess, relativierte das Gericht. Damit habe Keller zwar gezeigt, dass er über keinerlei Empathie und eine hohe kriminelle Energie verfüge, aber die ständigen Drohgebärden seien eher als Ausdruck einer unwahrscheinlichen Wut zu verstehen. Und deshalb seien auch die Strafen deutlich tiefer anzusetzen, als die Staats­anwaltschaft gefordert hatte.

Staatsanwalt Ulrich Krättli hat Berufung angemeldet. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.

Wie es weitergeht

Brian Keller wird nach der Entlassung am Freitag die nächsten Tage bei seiner Familie verbringen. Dann wird die Stadt Zürich ihm eine Wohnung zur Verfügung und vor allem einen Sozial­pädagogen zur Seite stellen. Die Verteidiger von Brian Keller haben ein Konzept ausgearbeitet, wie Brian Keller die Rückkehr in die Gesellschaft gelingen soll. Keller hat dem Konzept zugestimmt.

Die vergangenen knapp zwei Jahre verbrachte Brian Keller nicht mehr in der Pöschwies. Keine Isolation, keine besonderen Massnahmen. Stattdessen sitzt er im Gefängnis Zürich, mit den gleichen Regeln wie viele andere Häftlinge auch. Im Führungs­bericht des Gefängnisses heisse es laut Richter Gmünder, Brian Keller beachte die jeweils gewünschten Umgangs­formen. Er verhalte sich angemessen, sei höflich zu anderen Gefangenen. Er sei fähig, Absprachen einzuhalten, komme gut mit der Tages­struktur zurecht und bewege sich auch in grösseren Gruppen angemessen.

Dann schloss der Richter die Verhandlung. Er sagte, das Gericht hoffe, dass Brian Keller nun in eine bessere Zukunft schreite.

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