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Die verkannte Pille

Abtreibungs­gegner bekämpfen Mifepriston bis aufs Äusserste. Dabei bedeutet das Medikament für Frauen die schonende Option – bei einem Schwangerschafts­abbruch oder dann, wenn der Embryo von selbst stirbt.

Von Marie-José Kolly und Karen Merkel, 20.06.2023

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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Mit viel Aufregung kommt es jeweils daher, wenn in der Öffentlichkeit Schwangerschafts­abbrüche verhandelt werden oder das Medikament, das sie auslöst.

Abtreibungs­gegner schreiben Sätze mit fetten Ausrufe­zeichen. Sie «kämpfen» um Unter­schriften. Für «verzweifelte» Frauen. Gegen «Mord».

Sie beten öffentlich vor dem Spital. Beschimpfen Ärzte und ihre Patientinnen.

Sie lancieren, in der Schweiz, Volks­initiativen, um das Recht auf Abbrüche einzuschränken. (Die Sammelfrist der zwei jüngsten Initiativen läuft am Mittwoch, 21. Juni, aus. Es sieht schlecht für sie aus: Im Mai hatten die Schweizer Abtreibungs­gegner erst drei Viertel der erforderlichen Unter­schriften zusammen. Zum aktuellen Stand wollten sie sich auf Anfrage der Republik nicht äussern.)

Und sie heben, in den USA, die behördliche Zulassung für den Wirkstoff eines Medikaments – Mifepriston – mittels bundes­richterlicher Verfügung auf. (Hätte der amerikanische Oberste Gerichtshof den Entscheid nicht vertagt, legale Schwangerschafts­abbrüche mit dem Medikament wären in den USA seit dem vergangenen April passé.)

Diese Agitation auf der öffentlichen Bühne verdeckt den Blick auf das, was hinter dem Vorhang passiert. Dort geht vor sich: das Leben. Von Menschen, die sich in einer unerwarteten Lage befinden. Und von Ärztinnen, die sie unterstützen.

Und dort ist kaum Aufregung.

Schwangerschafts­abbrüche sind viel ruhiger als die öffentlichen Verlautbarungen dazu. Das hat viel damit zu tun, dass Frauen, wenn auch nur bis zu einer gewissen Frist, selbst­bestimmt wählen dürfen. Und damit, dass die entsprechenden Medikamente legal verfügbar sind. Frauen nehmen Mifepriston, wenn sie ungewollt schwanger sind. Oder, und das ist weniger bekannt: Frauen nehmen Mifepriston, wenn sie ungewollt eine Schwangerschaft verlieren.

Anders als ein Abbruch bedeutet eine Fehl­geburt für Frauen oft Schock, Trauer und Trauma. Ein Lebens­faden reisst, eine werdende Mutter verliert die Hoffnung auf ein Kind, das sie sich gewünscht hat.

Anders als bei Abbrüchen wird dieser schmerzliche Verlust oft banalisiert.

Es ist in der Gesellschaft verankert, dass Frauen ihre Schwangerschaft erst nach der zwölften Woche offiziell machen sollten. Denn vorher ist das Risiko einer Fehl­geburt hoch: Es liegt bei rund 15 Prozent. Frauen, die es trifft, sind damit allein, wenn sie zur Schwanger­schaft selbst im engen Kreis geschwiegen haben.

Mütter hören nach einer Fehlgeburt aus ihrem Umfeld Sätze wie:
«Ihr könnt es ja noch einmal probieren.»
«Immerhin weisst du, dass du schwanger werden kannst.»
«Wahrscheinlich war es besser so, das Kind war wohl nicht gesund.»

Es irritiert, wenn Frauen monate­lang um ihren Verlust weinen. Es stört, wenn sie sogar dann noch trauern, wenn längst ein Geschwister geboren ist. Anders als bei Abbrüchen wird erwartet, dass sie ihre Fehl­geburt abhaken.

Bis Mitte der 1990er-Jahre war es Praxis, dass Frauen selbst Kinder, die spät im Bauch gestorben waren – im fünften, sechsten Monat einer Schwangerschaft –, nicht zu Gesicht bekamen. Sie wurden im medizinischen Abfall entsorgt.

Der Glaube sass tief, dass es besser war, bloss nicht innezuhalten. Nicht zu wissen. Nur nach vorne zu schauen.

Das hat viel Leid verursacht. Eine Mutter schreibt 2022 an die Trauer­beratung Kindsverlust.ch: «Ich bekam dann vier Jahre später einen gesunden Sohn (…). Trotzdem lässt mich meine Geschichte nicht los. Ich konnte mein erstes Kind nie halten, wie soll ich es loslassen?»

Die Tochter dieser Mutter war vor fünfzig Jahren bei der Geburt gestorben.

Die schonende Option

Wenn der Ultra­schall zeigt, dass das Herz des Embryos nicht mehr schlägt, kommt bald die Frage: Was jetzt? Viele Frauen wollen im Schock möglichst schnell damit durch sein.

Da erscheint die Standard­prozedur bei Fehl­geburten naheliegend: die Kürettage. Hier wird der Mutter unter Voll­narkose der abgestorbene Embryo aus der Gebär­mutter geschabt. Eine medizinisch einfache Operation, bei der jedoch ein geringes Risiko auf Vernarbungen in der Gebärmutter­wand besteht, die die Frucht­barkeit belasten – ein wichtiger Punkt für Frauen, die erneut schwanger werden wollen.

Körperlich zwingend ist der Eingriff bei frühen Fehl­geburten nicht. Bis mindestens zur achten Woche können 80 Prozent der Frauen ohne medizinische Risiken abwarten, dass sich der Embryo von selbst löst. Dies kann allerdings mehrere Wochen dauern. Eine Wartezeit von unbekannter Länge, die psychisch oft zur Belastung wird.

Die medikamentöse Option ist ein Weg, ohne chirurgischen Eingriff auszukommen und gleichzeitig Gewissheit zu haben, dass der Körper die Fehlgeburt innerhalb von Tagen verabschieden kann.

Das Vorgehen bei einer Fehl­geburt gleicht dem eines Abbruchs. Und ist an bestimmte Fristen gebunden. Eine Frau kann in der Schweiz innerhalb der ersten zwölf Schwangerschafts­wochen selber entscheiden, dass sie nicht mehr schwanger sein möchte. Das heisst: zwölf Wochen nach Beginn der letzten Menstruation, also zehn Wochen nach der Befruchtung. Danach entscheidet eine Ärztin mit.

Der medikamentöse Abbruch ist gemäss Packungs­beilage des Medikaments auf die sieben ersten Schwangerschafts­wochen beschränkt, denn mit steigendem Spiegel der Schwangerschafts­hormone sinkt dessen Wirksamkeit. Ärzte praktizieren den medikamentösen Abbruch bis zur 9. Woche. Danach brechen sie Schwanger­schaften nur noch chirurgisch mittels Kürettage ab. Manchmal auch davor, wenn eine Frau das so möchte, oder wenn sie die Medikamente aus gesund­heitlichen Gründen nicht einnehmen sollte. Die überwiegende Mehrheit der Schwangerschafts­abbrüche (80 Prozent im Jahr 2021) erfolgt in der Schweiz mithilfe von Medikamenten, nicht durch einen chirurgischen Eingriff.

Nach einem Ultraschall nimmt die Frau, im Spital oder in der frauen­ärztlichen Praxis, eine Tablette mit 600 Milligramm Mifepriston ein. Es hebt die Wirkung des Schwangerschafts­hormons Progesteron auf: Die Schwangerschaft kann sich nicht weiter­entwickeln. Dadurch lösen sich Gebärmutter­schleimhaut und Embryo von der Gebärmutter­wand ab. Der Gebärmutter­hals entspannt und weitet sich.

Anderthalb bis zwei Tage später nimmt die Frau eine weitere Tablette ein, die 400 Mikrogramm Misoprostol enthält. Sie löst Kontraktionen der Gebär­mutter aus, was Gebärmutter­schleimhaut und Embryo ausstösst. (Mifepriston und Misoprostol führen zu vaginalen Blutungen, manchmal auch zu Schmerzen. Wer nichts mitbekommen möchte, entscheidet sich für den chirurgischen Abbruch.)

Rund zwei Wochen nach der ersten Tablette überprüft eine Ärztin, ob die Schwangerschaft vollständig ausgestossen wurde. Bei einer Fehl­geburt ist der Ablauf identisch.

Sowohl ein Abbruch als auch eine Fehl­geburt sind ohne Mifepriston, allein mit der Dosis Misoprostol möglich. Allerdings ist das Verfahren dadurch deutlich weniger zuverlässig, sodass viel häufiger doch noch eine Kürettage erfolgen muss.

Die medikamentöse Option schont die Betroffenen – bei einem Abbruch oder wenn ein Embryo ungewollt stirbt. Und Gynäkologen beschreiben, dass viele Frauen eine Fehl­geburt so besser verarbeiten können, als wenn der Embryo unter Voll­narkose entfernt wird, weil die Frau anders durch den Prozess des Abschieds geht. Es ist einfacher für sie, das Erlebte in ihre Geschichte zu integrieren.

Denn ja, Schwangerschafts­abbrüche und Fehl­geburten gehören zum Leben. Natürlich plant sie niemand ins Leben ein: Niemand möchte ein Kind verlieren. Niemand will ungewollt schwanger werden. Aber viele werden es. (Und sprechen nicht darüber.)

Vor den Ärztinnen und Fach­personen, mit denen wir gesprochen haben, stehen meist nicht verzweifelte Frauen, die der Entscheid – Schwangerschafts­abbruch ja oder nein? – zerreisst. Manche haben zwar ambivalente Gefühle und brauchen etwas Zeit. Aber die meisten Frauen wissen, ob sie gerade schwanger werden möchten oder nicht. Wer verhütet, will keine Schwangerschaft herbei­führen. Werden sie dennoch schwanger, so ist für viele Frauen rasch klar, ob sie es bleiben oder die Schwangerschaft abbrechen möchten.

Zur öffentlichen Aufregung gehört auch die Erzählung, viele Frauen würden den Abbruch ihrer Schwangerschaft bereuen, sich schuldig fühlen oder tief­traurig. Ärzte sagen das Gegenteil: Die Frauen sind erleichtert. Und wissenschaftliche Studien bestätigen: Abbrüche beeinträchtigen weder die psychische noch die körperliche Gesundheit – wohl aber der mangelnde Zugang dazu.

Das, was Frauen aufreibt, ist die ungewollte Schwangerschaft.

Und was sie vielerorts gefährdet, ist die Illegalität des Abbruchs. Die führt nicht zu weniger Abbrüchen. Aber zu mehr Komplikationen und mehr Todes­fällen, weil Frauen dann unter gefährlichen Bedingungen abbrechen.

Umgekehrt lässt sich nicht verhindern, dass Frauen radikal unvorbereitet mit dem Verlust ihres Babys konfrontiert werden. Ein Embryo stirbt leider meist ohne Vorwarnung im Bauch, speziell im ersten Trimester.

Doch erst seit wenigen Jahren dringt ins Bewusstsein von Gesellschaft und Experten, dass zählt, wie Ärztinnen mit Patientinnen über ihren Verlust sprechen, wie diese wahrgenommen und begleitet werden. Ob sie ihre Trauer zeigen dürfen.

Wenn sie legal sind, sind Abbrüche sicher. Wenn sie gut begleitet werden, können Frauen eine Fehl­geburt überwinden. Die medikamentöse Option ist eine wichtige in beiden Fällen: In den mehr als hundert wissenschaftlichen Studien zu Mifepriston und Misoprostol wurden kaum Komplikationen beobachtet.

Der Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft ist meist kein Drama. Für viele Frauen ist er die Rückkehr zur Ruhe.

Der Verlust eines gewollten Kindes ist ein Drama. Für viele Frauen bedeuten die passenden Medikamente Hilfe in der Not.

Das Aufreibende ist in beiden Lagen, der ungewollten Schwangerschaft und der Fehlgeburt, das Ungewollte. Da findet der Schmerz statt. Mifepriston gibt der Frau oder dem Paar die Möglichkeit, die ungewollte Situation selbst­bestimmter zu erleben.

Dass davon auf der öffentlichen Bühne wenig zu hören ist, rührt einerseits daher, dass die Aufgeregten wenig Ahnung davon haben, unter welchen Umständen Frauen Schwangerschaften abbrechen. Und andererseits daher, dass ihnen die Aufregung nützt. Selbst wenn die Schweizer Abtreibungs­gegner zu wenig Unter­schriften beisammen­haben, dass ihre Volks­initiativen zustande kämen: Aufregung verursacht Aufmerksamkeit, aus der sie politisches Kapital schlagen.

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