Auf lange Sicht

Sechs Dinge, die Sie zu Schwangerschafts­abbrüchen wissen sollten

Abtreibungsgegner argumentieren gern mit Zahlen. Doch wer die Statistiken kennt, lässt sich davon nicht so leicht in die Irre führen.

Von Marie-José Kolly, 14.02.2022

Zahlen, Balken, Pfeile: Jeden Montag schärfen wir Ihren Blick für die ganz grossen Zusammenhänge.

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Vielleicht kennen Sie die Bericht­erstattung der Republik zu Schwangerschafts­abbrüchen. Und vielleicht wundern Sie sich deshalb grade, das Thema nun im Datenbriefing anzutreffen.

Denn wiederholt schrieben wir, bei öffentlichen Debatten und bei politischen Vorstössen rund um Abbrüche gehe es eben gerade nicht um Zahlen, sondern um seit Jahrtausenden tradierte Vorstellungen über den weiblichen Körper. Oder um ethische Grundsatz­fragen. Und um die damit verbundenen politischen Ideologien.

So schrieben wir etwa im Herbst 2020:

(…) in Debatten zu diesem Thema geht es oft nur vordergründig um Zahlen. Im Kern streitet man sich um eine ethische Grundsatzfrage.

Aus: «Sag, wie hast du’s mit der Frist», 28.10.2020.

Oder, vor ein paar Wochen, im Januar 2022:

Der Verdacht liegt nahe, dass es bei solchen (politischen) Vorstössen um Tatsachen oder Empirie sowieso nicht geht – sondern um eine fest verankerte Vorstellung vom Frauen­körper.

Aus: «Die Frau, eine Verpackung», 25.01.2022.

Das ist nach wie vor richtig: Daten, und werden sie noch so laut, noch so selbstsicher eingebracht, sind in Debatten um Abtreibungs­rechte häufig ein Deckmantel für eine viel grundsätzlichere Agenda. Trotzdem bleibt die Tatsache: Leute, die nach eigener Angabe eine Reduktion der Zahl der Schwangerschafts­abbrüche anstreben, nutzen sie immer wieder als Krücke für eigentlich ideologische Anliegen. Also schauen wir uns die so oft erwähnten Zahlen einmal an – nicht zuletzt, weil der Verdacht naheliegt, dass manche Akteure ihr Publikum bewusst in die Irre führen.

Und damit zu den sechs daten­gestützten Tatsachen über Schwangerschafts­abbrüche.

1. In der Schweiz sind Abbrüche selten

Abbrüche pro 1000 Frauen im Alter von 15 bis 44 bzw. 15 bis 49 Jahren, 2020

ItalienDeutschlandSchweizSpanienFrankreichSchwedenEngland und Wales0 10 20

Ausgewählte europäische Staaten, die Schwangerschafts­abbrüche statistisch erfassen. Deutschland: 15–49-jährige Frauen, Quelle: Destatis; England und Wales: 15–44-jährige Frauen, Quelle: Department of Health and Social Care; Frankreich: 15–49-jährige Frauen, Quelle: Ined, Italien, Stand 2020, 15–49-jährige Frauen, Instituto Superiore di Sanità; Schweden, 15–44-jährige Frauen, Quelle: Socialstyrelsen; Schweiz: 15–44-jährige Frauen, Quelle: Bundesamt für Statistik; Spanien: 15–44-jährige Frauen, Quelle: Ministerio de Sanidad.

Im weltweiten wie im europaweiten Vergleich ist die Rate der abgebrochenen Schwangerschaften pro 1000 Frauen im Alter, wo sie typischerweise schwanger werden können, in der Schweiz niedrig.

Vielleicht kann man wie folgt über diese niedrigen Zahlen nachdenken:

Keine Frau strebt aktiv eine ungewollte Schwangerschaft an. So können niedrige Abbruchraten ein Hinweis auf einen offenen Diskurs über Sexualität sein, auf leichten Zugang zu Verhütungs­mitteln. Wenn nur wenige Frauen einen Abbruch brauchen, umso besser.

Eine Frau, die eine Schwangerschaft abbrechen möchte, sollte aber Zugang dazu haben – das steht ihr rechtlich zu. Mancherorts ist eine niedrige oder eine sinkende Abbruchrate auch ein Hinweis darauf, dass Frauen von diesem Recht keinen Gebrauch machen können, etwa weil, wie in Italien oder in Spanien, viele Ärztinnen aus ethischen oder religiösen Gründen die Dienstleistung verweigern. Oder weil, wie in manchen US-amerikanischen Regionen, ganze Kliniken geschlossen werden – und der Weg in die nächste zu weit ist.

2. Die Abbruch­raten sind stabil, bei Jugendlichen gar rückläufig

Entwicklung der Abbrüche pro 1000 Frauen

15–19 Jahre
15–44 Jahre
2004200920152020048

Quelle: Bundesamt für Statistik.

Die Rate ist in der Schweiz also vergleichsweise niedrig, und sie verändert sich seit mehr als einem Jahrzehnt nicht gross – ausser bei Frauen im Jugendalter, dort sinkt sie.

Wenn sich also Politikerinnen oder Mitmenschen über «bedenklich hohe» Abbruch­zahlen äussern, fehlt ihnen – jenseits von ethischen Grundsatz­fragen – eine evidenzbasierte Bezugsgrösse.

3. Ungewollt schwanger werden nicht primär Teenager

Anteil der Abbrüche pro Alters­gruppe, 2020

< 1515-1920-2425-2930-3435-3940-44≥ 4501020 %

Quelle: Bundesamt für Statistik.

Ungeplante Schwangerschaften betreffen Frauen in unterschiedlichen Alters­gruppen und Lebens­situationen. Manche sind single, manche leben in einer Partnerschaft, andere sind verheiratet. Manche sind kinderlos, andere leben mit einem oder mehreren Kindern zusammen. Frauen, die eine Schwangerschaft abbrechen, haben einen Universitäts­abschluss oder eine Matura, sie haben eine Lehre absolviert oder die obligatorische Schulzeit. Sie sind in Ausbildung, sie sind erwerbstätig, sie sind Hausfrau, sie sind arbeitslos.

Frauen, die eine Schwangerschaft abbrechen, lassen sich also nicht schubladisieren: Niemand rechnet damit, irgendwann eine Schwangerschaft abzubrechen. Und doch stehen verschiedenste Frauen und Paare irgendwann im Leben vor der Frage, ob sie eine ungeplante Schwangerschaft fortführen möchten oder können.

4. Schwanger kann auch werden, wer verhütet

Verhütungsmethode der Frauen und Paare vor dem Abbruch, 2014

keine Verhütung
Pille
Kondom
weniger verlässliche Verhütungsmethode
unbekannt
40 %keine Verhütung0 50 100 %

Weniger verlässliche Verhütungsmethoden sind zum Beispiel die Kalender­methode oder der Coitus interruptus. Quelle: Bundesamt für Statistik.

Die neuesten Initiativtexte, mit denen Politikerinnen und Aktivisten in der Schweiz nach eigener Angabe Schwangerschafts­abbrüche reduzieren wollen, zeichnen das Bild der sorglosen Frau, die reproduktive Entscheide leichtsinnig fällt.

Nun gibt es erstens verschiedene Gründe, weshalb Menschen auf Verhütung verzichten: religiöse Motive, mangelnde Information, mangelnder Zugang. Eine der einfachsten Möglichkeiten, ungeplante Schwangerschaften zu verhindern, ist ein leichter Zugang zu Verhütungs­mitteln.

Und zweitens ist es wichtig zu betonen: Ein grosser Anteil der Schwangerschaften, die zu Abbrüchen führten, ist trotz einer als sicher geltenden Verhütungs­methode entstanden. Warum? Weder Pille noch Kondom schützen zu 100 Prozent – bei einwand­freier Anwendung können Kondome etwa einen 98-prozentigen Schutz bieten. Das heisst: Pro Jahr werden also von 100 Frauen, die ausschliesslich mit Kondomen verhüten, im besten Fall nur zwei ungewollt schwanger, im realistischeren Fall sechs oder mehr.

5a. Spätabbrüche sind sehr selten

Anteil nach Zeitpunkt des Abbruchs, 2020

bis 8 Schwangerschaftswochen
9–10 Wochen
11–12 Wochen
13–16 Wochen
17–22 Wochen
ab 23 Wochen
unbekannt
77 %bis 8 Schwangerschaftswochen0 50 100 %

Quelle: Bundesamt für Statistik.

Der grösste Teil der Abbrüche – mehr als 95 Prozent – erfolgt in der Schweiz vor der Frist, bis zu welcher Frauen den Entscheid darüber selbstständig fällen können: 12 Schwangerschafts­wochen, das sind 12 Wochen nach der letzten Menstruation (und das sind rund 10 Wochen nach der Befruchtung).

Eine der erwähnten Initiativen, lanciert im Dezember 2021, will mit dem Verbot von Abbrüchen ab dem Zeitpunkt, wo ein Fötus ausserhalb der Gebärmutter und mit intensiv­medizinischer Unterstützung überleben könnte, nach eigener Angabe jährlich rund 100 Spät­abbrüche verhindern.

Ein Fötus kann ab der 22. Schwangerschafts­woche lebensfähig sein.

Und so lassen sich mit dieser Initiative gar nicht jährlich 100 Abbrüche vermeiden: So weit die Daten zurück­reichen, wurden nach der 22. Woche nie mehr als 70 Schwangerschaften abgebrochen.

5b. Diese Verhältnisse sind über die Zeit stabil

Anteil nach Zeitpunkt des Abbruchs

bis 8 Schwangerschaftswochen
9–10 Wochen
11–12 Wochen
13–16 Wochen
17–22 Wochen
ab 23 Wochen
unbekannt
202020192018201720162015201420132012201120100 50 100 %

Quelle: Bundesamt für Statistik.

Zudem sind Spätabbrüche aus Gründen spät und selten: Es handelt sich dabei um Situationen, in denen man eine fetale Fehlbildung erst spät erkennt oder die Gesundheit der schwangeren Frau gefährdet ist. Solche Situationen sind für alle Beteiligten sehr belastend.

6. Restriktionen führen nicht zu weniger Abbrüchen

Verbote führen nicht dazu, dass es keine Schwangerschafts­abbrüche mehr gibt, im Gegenteil: Typischer­weise nehmen Abbrüche in Ländern, die Abtreibungs­rechte einschränken, zu. Und typischer­weise finden sie dann unter unsicheren Bedingungen statt, die Komplikationen nach sich ziehen oder zum Tod der Frau führen können.

Debatten über polarisierende Themen wie dieses bieten Potenzial für Aufregung. Und Aufregung verursacht Aufmerksamkeit. Auch deshalb werden Schwangerschafts­abbrüche von manchen Parteien immer wieder instrumentalisiert: Um ihren Wählern eine bestimmte Werte­haltung zu signalisieren. Oder um von anderen, für die Partei unbequemen Themen abzulenken. Oder davon, dass die Partei zurzeit vielleicht gar nicht so viel anderes zu sagen hat.

Häufig helfen gegen diese Aufregung dann eben doch die Zahlen: Wer sie kennt, kann ruhiger an Diskussionen teilnehmen.

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