«Schadet es, wenn ein Bundesrat die Politik nicht als Show versteht?»

Vor einem Jahr trat Hans-Ueli Vogt aus dem Parlament zurück, weil der Polit­betrieb nicht zu seinem Naturell passe. Wieso will er jetzt als Bundesrat zurück auf die Bühne? Wie will er die Linke für sich gewinnen? Und warum hat er sich gegen den «Woke-Wahnsinn» positioniert?

Ein Interview von Dennis Bühler (Text) und Philip Frowein (Bild), 22.11.2022

Vorgelesen von Danny Exnar
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Aus Ueli wird Hans-Ueli? Am 7. Dezember ist klar, ob Hans-Ueli Vogt als neuer SVP-Bundesrat Nachfolger von Ueli Maurer wird.

Hotel Bernerhof, Kandersteg: Der Ort, den Hans-Ueli Vogt für das Interview mit der Republik vorschlägt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Schliesslich duelliert sich der Stadt­zürcher mit Albert Rösti um den frei werdenden Bundesrats­sitz der SVP. Mit dem früheren Partei­präsidenten also, der hier, in Kandersteg, aufgewachsen ist.

Hans-Ueli Vogt, wir führen dieses Gespräch in Kandersteg – der Heimat des künftigen SVP-Bundesrats?
Das werden wir sehen. Wir treffen uns in Kandersteg, weil ich hier seit vielen Jahren jeweils im November ein dreitägiges Wirtschafts­rechts­seminar mit Studierenden der Uni Zürich durchführe. Einmal kam Alt-Bundesrat Adolf Ogi, der bekanntlich aus Kandersteg ist, in unserem Seminar vorbei und erzählte den Studierenden über seine Zeit in der Regierung und später bei der Uno. Die Studierenden waren beeindruckt.

Sie auch?
Ja, ich schätze ihn sehr.

Ist Adolf Ogi eines Ihrer politischen Vorbilder?
Er ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Die NZZ schrieb damals vor seiner Wahl, er habe nur eine «begrenzte welt­anschauliche Ausstrahlung». Dieses Vorurteil widerlegte Ogi nach seiner Wahl eindrücklich.

Was gibt Ihnen Zuversicht, dass am 7. Dezember nicht Albert Rösti, sondern Sie zum Nachfolger von Ueli Maurer gewählt werden?
Albert Rösti und ich haben unter­schiedliche Profile, was der Vereinigten Bundes­versammlung eine echte Auswahl ermöglicht. Die National- und Ständeräte werden sich überlegen, welches Profil es im Bundesrat zur Bewältigung der aktuellen und künftigen Heraus­forderungen der Schweiz braucht.

Zur Person

Hans-Ueli Vogt wuchs in Illnau im Zürcher Oberland auf, der Vater Notar und Hobby­landwirt, die Mutter Hausfrau. Er studierte Rechts­wissenschaften an der Universität Zürich, wo er mit 34 Jahren zum Assistenz­professor und zehn Jahre später zum ordentlichen Professor für Privat- und Wirtschafts­recht ernannt wurde. In die SVP trat Vogt erst 2008 ein, drei Jahre später wurde er in den Zürcher Kantonsrat gewählt. Nachdem er 2014 die Selbst­bestimmungs­initiative präsentiert hatte, die Schweizer Recht über Völker­recht stellen wollte, galt Vogt als neuer Vorzeige­gelehrter der Partei. Die Initiative scheiterte an der Urne aber krachend. 2015 wurde Vogt in den Nationalrat gewählt. Ende 2021 trat er zurück – und kehrte vor einem Monat überraschend auf die Polit­bühne zurück: Die Zürcher SVP präsentierte Vogt als ihren Kandidaten für die Nachfolge des abtretenden Bundesrats Ueli Maurer. Am Freitag sprach ihm die SVP-Fraktion das Vertrauen aus. Das Parlament wählt den neuen Bundesrat am 7. Dezember, zwei Tage nach Vogts 53. Geburtstag.

Worin unterscheiden Sie sich von Albert Rösti?
In unseren Positionen und Überzeugungen sind wir ähnlich. Ich habe einen stärker urbanen Hintergrund. Und weil immer mehr Menschen in städtischen Regionen leben, ist es sicher nicht falsch, wenn jemand im Bundesrat vertreten ist, der das Leben und die Probleme dieser Menschen kennt. Mit Blick auf die Heraus­forderungen der Schweiz in der Welt – Stichwort: Verhandlungen mit der EU oder Ukraine-Krieg – wäre es zudem von Vorteil, wenn ein Bundesrat internationale Erfahrung hat. Da biete ich eine gute Ergänzung: Ich habe mehrere Jahre im Ausland gelebt und unter anderem als Anwalt gearbeitet. Dabei habe ich unter­schiedliche politische Ordnungen und Kulturen kennengelernt. Das wäre bei Verhandlungen mit anderen Staaten von grossem Wert.

Rösti gilt als begnadeter Netz­werker, Sie waren während Ihrer sechs Jahre im Parlament eher ein Einzelgänger.
Ich habe bewiesen, dass ich über Partei­grenzen hinweg gut mit anderen Parlamentarierinnen zusammen­arbeiten kann. In der Rechts­kommission habe ich zahlreiche Anträge zu Geschäften durchgebracht, was ohne vorherige Besprechung mit Kollegen der anderen Fraktionen nicht gelungen wäre. Zum Beispiel bei der Aktienrechts­revision, beim Gegenvorschlag zur Konzern­verantwortungs­initiative oder bei den Corona-Massnahmen. Aber man muss auch etwas vorsichtig sein, wenn man von «Netzwerk» und «Netzwerken» spricht.

Wie meinen Sie das?
Manche Politiker denken bei einem Problem zuerst an ihr Netzwerk und schauen, wer ihnen helfen könnte. Das kann einen daran hindern, ein Problem zuerst einmal zu verstehen und sich die verschiedenen Argumente anzuhören. Und dann zu entscheiden.

Sie kritisieren fehlende Unabhängigkeit?
Ich habe in Bundesbern Politiker erlebt, die sich nach Mitstreitern und Gegen­spielerinnen erkundigten, noch bevor sie wussten, worum es bei einer Vorlage genau ging. Diese Herangehens­weise entspricht mir nicht, und sie führt auch nicht zu den besten Lösungen. Es braucht in der Politik und ganz besonders im Bundesrat auch Menschen, die Eisbrecher in den Gedanken sind. Das setzt Unabhängigkeit voraus.

Während die Fraktion Albert Rösti am vergangenen Freitag schon im ersten Wahlgang aufs Ticket setzte, mussten Sie lange zittern – und setzten sich am Ende bloss hauchdünn gegen Werner Salzmann durch. Haben Sie einen derart knappen Ausgang erwartet?
Werner Salzmann ist ein von allen respektierter Ständerat, auch ich schätze ihn sehr. In der Vergangenheit arbeiteten wir mehrfach zusammen an Vorstössen im Bereich der Armee. Ich wusste, dass er in der Fraktion einen grossen Rückhalt hat und dass es nicht einfach werden würde, mich gegen ihn durchzusetzen.

Wie beurteilen Sie Ihren Rückhalt in der Partei angesichts der sehr knappen Ausmarchung?
Eine Mehrheit der SVP-Fraktion hat zum Ausdruck gebracht, dass sie mich für geeignet hält, die Schweiz als ein Mitglied unserer Landes­regierung weiter­zubringen. Das ist eine grosse Ehre. Und das ist, was für mich zählt.

Nun, da Sie es aufs Ticket geschafft haben, müssen Sie die National- und Stände­rätinnen der anderen Parteien überzeugen. Wie wollen Sie das schaffen?
Sicherlich nicht, indem ich mich verstelle oder etwas verspreche, was nicht meinen Überzeugungen entspricht. Aber ich habe während meiner Zeit im Nationalrat bewiesen, dass mir daran gelegen ist, dass aus einem politischen Streit nicht alle Beteiligten als Verlierer herausgehen. Ich habe gezeigt, dass ich in Situationen, bei denen man zuerst glaubte, die verschiedenen Positionen seien unvereinbar, Lösungen entwickeln kann. Die National- und Stände­rätinnen wissen, dass ich jemand bin, der gern und genau zuhört und sein Gegen­über verstehen will. Das sind Eigenschaften, die für eine gute Zusammen­arbeit im Bundesrat wichtig sind.

Zielen Sie vor allem auf Stimmen der SP, der Grünen und der Grün­liberalen?
Ich werde alle Fraktionen von meiner Kandidatur zu überzeugen versuchen. Mein Profil als Politiker ist für alle interessant.

Sie unterstützen die Förderung erneuerbarer Energien. Um sich für Grüne wählbar zu machen?
Nein, eine intakte Natur war mir immer schon wichtig. Meine Heimat­liebe hat zu einem grossen Teil mit meiner Verbundenheit mit unserer Landschaft und den Bergen zu tun.

Als Kind haben Sie Collagen angefertigt mit Fotos von Schweizer Bergen, die Sie aus Tourismus­prospekten ausschnitten …
… und heute will ich mich dafür einsetzen, dass uns diese unvergleichlich schönen Landschaften erhalten bleiben.

Sie sagten 2014, die SVP sei «zwar urgrün, habe aber heute irgendwie Angst, sich dazu zu bekennen». Mit Verlaub: Was an Ihrer Partei ist grün, vom Logo mit dem Sünneli einmal abgesehen?
Auch wir wollen, dass Energie möglichst umwelt­freundlich produziert und verbraucht wird, auch wir kämpfen gegen den Verlust von Kulturland und gegen Bauten in Landwirtschafts­zonen. Und auch wir wollen den Ausstoss von CO2 reduzieren. Allerdings: Klima- und Naturschutz darf nicht zulasten der Bevölkerung und der Unter­nehmen gehen. Jede Klima­politik ist auch Sozial- und Wirtschafts­politik.

Wie meinen Sie das?
Ein anschauliches Beispiel ist der Benzinpreis: Wer einseitig Klima­politik betreibt und die Auswirkungen auf die Menschen und die Wirtschaft ausblendet, dem ist es egal, wenn der Benzin­preis steigt und steigt – mir nicht, weil damit diejenigen abgehängt werden, die nicht so viel Geld im Portemonnaie haben.

Sie versuchen gerade, der SVP und sich selbst einen grünen und sozialen Anstrich zu verleihen. Doch Ihre Partei sammelt derzeit Unterschriften für ein Referendum gegen den Gegen­vorschlag zur Gletscher­initiative.
Ja, und ich unterstütze dieses Referendum. Zwar sieht das vom Parlament beschlossene Gesetz etliche Massnahmen vor, die ich gut finde. Etwas aber stört mich fundamental: Man will auf fossile Energie­träger verzichten, bevor sicher­gestellt ist, dass die Energie­versorgung weiterhin gewährleistet ist. Und das ist im Moment nicht der Fall, wenn wir uns auf Wind-, Wasser- und Solarkraft beschränken. Das widerspricht meiner Vorstellung einer voraus­schauenden Planung.

Sprechen Sie sich für den Bau neuer Kernkraft­werke aus?
Das Stimmvolk hat Nein zur Atomkraft gesagt, das ist zu respektieren. Gleichzeitig wird an einer neuen Generation von AKW geforscht. Wir wissen also noch gar nicht, was mit neuen Technologien möglich sein wird. Darum sollten wir uns von der Forschung im Nuklear­bereich nicht abkoppeln. Das sage ich auch als Wissenschaftler. In der Wissenschaft gibt es keine Denk­verbote, und es darf auch keine Technologie­verbote geben.

Dann sind Sie dagegen, dass die Schweiz die Verpflichtungen einhält, die sie mit dem Klimaschutz­abkommen von Paris eingegangen ist?
Verträge sind einzuhalten, das gilt auch für das Klimaschutz­abkommen. Es soll aber so umgesetzt werden, dass wir die eigene Energie­versorgung sicher­stellen und die sozialen und wirtschaftlichen Folgen von energie- und klima­politischen Massnahmen abfedern.

Die «SonntagsZeitung» schrieb jüngst, als «offen homosexuell lebender Mann ohne schwule Mission» wären Sie eine «bürgerliche Antwort auf die aktuell doch eher irrlichternde Gender­debatte». Wie finden Sie das?
Ich musste schmunzeln. Ich bin für Freiheit. Jeder Mensch soll so leben, wie er will, solange er nicht in die Freiheit eines anderen eingreift. Darum war ich für die «Ehe für alle», weil mit ihr niemandem etwas weggenommen wird. Aber wir können nicht unsere ganze gesellschaftliche Ordnung auf den Kopf stellen, nur weil nicht alle die gleiche sexuelle Orientierung haben oder sich nicht entweder als Mann oder Frau verstehen.

Also finden Sie die Gender­debatte auch «irrlichternd»?
Jeder und jede soll die Freiheit haben, sein Mannsein oder ihr Frausein für sich so zu definieren, wie er oder sie will. Und die anderen müssen das akzeptieren. Wenn wir das schaffen, sind wir eine echt freie Gesellschaft. Ich sehe aber keinen Grund, die Sprache zu verkomplizieren, in den Pässen unzählige Geschlechter­optionen anzubieten oder alle öffentlichen Gebäude mit geschlechter­neutralen Toiletten auszustatten.

Als einziger der ursprünglich fünf Kandidaten für die Nachfolge von Ueli Maurer haben Sie eine Absichts­erklärung der Jungen SVP unterzeichnet und sich damit verpflichtet, dem «Woke- und Transgender­wahn» den Kampf anzusagen. Weshalb?
Ich möchte das mit einem Beispiel erklären. Ursprünglich hat die Community der Transgender-Menschen das Pronomen «es» selbst vorgeschlagen. Nun habe ich kürzlich gelesen, dass man Personen, die sich weder als Mann noch als Frau definieren, nicht mit «es» ansprechen dürfe, weil «es» abwertend sei – schliesslich benutze man «es» in der Tierwelt für den Nachwuchs, und früher habe man so junge Frauen, «Fräuleins», bezeichnet. In meinen Augen haben solche Diskussionen tatsächlich etwas Wahnhaftes, weil hinter allem und jedem eine versteckte Botschaft gesehen wird.

Sie sehen nicht, dass es abwertend ist, eine Person als «es» zu bezeichnen?
Sprache ist Vereinfachung, Sprache ist Konvention. Man muss akzeptieren, dass sie nicht imstande ist, Personen in ihrer gesamten Individualität zu beschreiben.

Angesichts Ihres Plädoyers für Freiheit: Warum sind Sie eigentlich nicht in der FDP?
Mit der FDP teile ich die Überzeugung, dass es uns als Gesellschaft und Land am besten geht, wenn sich Menschen und Unter­nehmen frei entfalten können. Deshalb teile ich auch ihre Abneigung gegen staatliche Regulierungen. Für Freiheit bin ich aber auch, weil ich ein Mensch mit einer skeptischen Grund­haltung bin.

Das müssen Sie erklären.
Politische Überzeugungen wandeln sich. Nachdem Russland in die Ukraine einmarschiert ist, hat sich gezeigt, wie rasch in der Politik vermeintliche Gewissheiten über Bord geworfen werden – bezüglich Energie- und Sicherheits­fragen etwa. Noch bis vor einem Jahr wäre man als Schwarz­maler abgekanzelt worden, wenn man gesagt hätte, es werde in Europa wieder Krieg geben. Tatsache ist: Wir mögen heute glauben, zu wissen, was gut und richtig ist, aber wir müssen immer mitbedenken, dass Über­zeugungen innert kurzer Zeit zu Irrtümern werden können.

Und was hat das mit Freiheit zu tun?
Wenn man nicht genau weiss, was in der Zukunft richtig sein wird, verzichtet man im Zweifel besser auf Gesetze, politische Eingriffe und staatliche Regulierungen und vertraut darauf, dass die Menschen und die Unter­nehmen ihre Freiheit verantwortungs­voll einsetzen werden. Wenn der Staat irrt, gehen wir alle miteinander in die falsche Richtung. Wenn einzelne Menschen irren, können andere es immer noch besser machen.

Noch einmal: Warum sind Sie nicht in der FDP?
Das hat auch mit dem Umfeld zu tun, in dem ich aufgewachsen bin.

Sie haben mal gesagt, dass die FDP in Illnau-Effretikon die Partei der «Mehbesseren» gewesen sei.
Genau. Jene Mitschülerinnen und Mitschüler, deren Väter in der FDP waren, wohnten am Hang mit den teuren, grossen Häusern. Ich passte nicht zu ihnen.

Und was stört Sie heute an der FDP?
Dass sie der Ansicht ist, die Probleme dieser Welt liessen sich am besten lösen, indem wir sie an eine internationale Organisation delegieren: sei es die EU, die OECD, die Uno oder die Nato. Ich bin ein überzeugter Föderalist. Das bezieht sich nicht nur auf die Schweiz, sondern auch auf die globale Ebene. Als Föderalist bin ich überzeugt, dass man Probleme am besten im Kleinen löst und Verantwortung nicht nach oben delegieren darf.

Vor einem Jahr fuhr die SVP eine aggressive Kampagne gegen «links-grüne Schmarotzer-Städte». Wie fanden Sie das als Vertreter der urbanen Schweiz?
Ich fand die Kritik an der ideologischen Politik, die in den Städten zum Teil gemacht wird, berechtigt. Solche Exzesse gibt es zum Beispiel in der Stadt Zürich, wo Tempo 30 auf Strassen­abschnitten eingeführt wird, wo niemand wohnt und keine Fussgänger unterwegs sind. Das hat mit Sach­politik nichts zu tun.

SVP-Präsident Marco Chiesa sagte in seiner 1.-August-Rede 2021: «Die Luxus-Linken und Bevormunder-Grünen in den Städten wollen allen anderen im Land vorschreiben, wie sie zu denken und zu leben haben. Die linken Städter schauen verächtlich auf die Land­bevölkerung herab und leben gleichzeitig auf deren Kosten.» Wie wollen Sie als Bundesrat Brücken bauen zwischen Stadt und Land, wenn Ihre Partei nichts unversucht lässt, diese Gräben zu vertiefen?
Parteien haben eine andere Rolle als der Bundesrat. Es ist ihre Aufgabe, das ganze Spektrum der politischen Meinungen darzustellen und Missstände anzuprangern. Der Bundesrat hingegen muss für Ausgleich und Lösungen sorgen. Das entspricht meinem Naturell ohnehin besser.

In den letzten Monaten feilten Sie gemeinsam mit Christoph Blocher an einer Volks­initiative für eine integrale Neutralität. Wie nahe stehen Sie ihm?
Ich habe sporadisch Kontakt mit ihm. Zum Beispiel sehen wir uns an Partei­anlässen.

Dann sind Sie nicht der Kandidat Herrlibergs?
Christoph Blocher hat mich nicht gebeten, zu kandidieren – falls das Ihre Frage ist. Wir haben nicht einmal telefoniert.

Bewundern Sie Christoph Blocher?
«Bewundern» ist ein Wort, für das es in der Welt eines rationalen Menschen eigentlich keinen Platz hat: Bewundern würde ja bedeuten, den Verstand auszuschalten.

Welches Wort trifft Ihre Beziehung besser?
Ich habe grosse Achtung vor Christoph Blocher: Er beeindruckt mich als Unter­nehmer, als Politiker und als gebildeter, belesener Mensch.

Mit Christoph Blocher scheint Sie noch etwas anderes zu verbinden: der Glaube, einen höheren Auftrag zu erfüllen. «Viele verstehen das nicht», sagten Sie einst. «Doch mir geht es ähnlich.»
In der blocherschen Terminologie bedeutet «Auftrag», dass es etwas gibt, was nicht selbst gewählt ist und das grösser und wichtiger ist als das, was man aus rein egoistischen Gründen aus dem eigenen Leben machen will. Man könnte statt «Auftrag» auch sagen: eine Aufgabe haben. Den Gedanken, als Mensch eine Aufgabe zu haben, findet man im Religiösen und Spirituellen, aber auch in der Führungs­lehre. Es geht darum, einen Beitrag zu einem grösseren Ganzen zu leisten.

Welchen Beitrag möchten Sie leisten?
Als Mitglied der Landes­regierung dazu beitragen, dass es der Schweiz auch in Zukunft gut geht.

Christoph Blocher behauptete stets, er habe gar nicht Bundesrat werden wollen, sondern es gemusst. Sie haben am Tag Ihrer Kandidatur in einem Interview gesagt, Sie möchten «ein Opfer erbringen». Wie meinten Sie das?
«Opfer» im Sinn von «Verzicht». Ich mache mir keine Illusionen: Selbst­verständlich ist das Amt eines Bundesrats mit Verzicht verbunden, mit viel Arbeit und ständiger Einsatz­bereitschaft, mit einer Einschränkung der persönlichen Freiheit. Für die Schweiz nehme ich das gerne auf mich.

Ihre gemeinsam mit Blocher lancierte Neutralitäts­initiative will, dass die Schweiz nur noch in absoluten Ausnahme­fällen gegen Kriegs­treiber vorgeht. Erachten Sie es als Fehler, dass die Schweiz Sanktionen gegen Russland ergriffen hat?
Zunächst möchte ich klarstellen, dass ich die in jeder Hinsicht ungerechtfertigte russische Invasion in die Ukraine ohne jede Einschränkung verurteile. Eine andere Frage ist, wie sich die Schweiz in so einer Situation verhalten soll. Ich finde: Wie bisher soll sie die Umgehung von Sanktionen verhindern – wenn eine sanktionierte Person in Deutschland kein Bankkonto eröffnen darf, soll sie das auch nicht in der Schweiz tun können. Darüber hinaus aber sollte sich die Schweiz aus Kriegen heraushalten.

Sie sind der Ansicht, die Schweiz habe sich mit den Sanktionen gegen Russland am Krieg beteiligt?
Ja, mit eigenen Sanktionen beteiligt sie sich am Konflikt. Sanktionen stören mich aber auch, wenn man betrachtet, was ihre Absicht ist: Man hofft, dass es den Menschen in Russland dank Wirtschafts­sanktionen so schlecht geht, dass sie sich vor Hunger, Not und Elend irgendwann einmal auflehnen werden gegen ihren Diktator. Das finde ich gegenüber all denjenigen Menschen unethisch, die das System nicht unterstützt, sondern vielleicht sogar darunter gelitten haben. Hier werden Menschen als Objekt eingesetzt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.

Bloss aus der Ferne zuzusehen, ist doch auch keine Option.
Deshalb sieht die Neutralitäts­initiative vor, dass die Schweiz ihre Neutralität nutzt, um in Konflikten als Vermittlerin zu agieren und sich für den Frieden einzusetzen. Ich habe diesen Passus bei der Ausarbeitung der Initiative eingebracht und mich damit durchgesetzt.

Noch ist der Krieg in der Ukraine in vollem Gang, und schon fürchtet man einen nächsten zerstörerischen Krieg: China könnte versuchen, Taiwan zu annektieren.
Auch deshalb sind die Schweizer Sanktionen gegen Russland so gefährlich. Hätten wir wirklich den Willen und die Fähigkeit, auf dieselbe Weise China zu sanktionieren? Könnten wir uns das leisten?

Sagen Sie es mir.
Wohl kaum. Russland ist für die Schweiz kein besonders wichtiger Handels­partner und auch aussen­politisch nicht von grosser Bedeutung – bei China sieht das vollkommen anders aus. Wir stehen vor der Situation, dass die Welt in zwei grosse Blöcke zerfällt. Hier der Westen, dort China, Russland, Indien und wohl grosse Teile des asiatischen Raumes. Da darf sich die Schweiz nicht einseitig politisch und wirtschaftlich auf eine Seite schlagen. Die Schweiz muss in einer bipolaren Welt als Vermittlerin und Verfechterin des Friedens zur Verfügung stehen. Das kann sie glaubwürdig nur, wenn sie nicht selbst Konflikt­partei ist.

Wenn man die Porträts liest, die seit Ihrem Einstieg in die Politik vor gut zehn Jahren erschienen sind, hat man den Eindruck, Sie seien schon immer Aussen­seiter gewesen: als Schüler, Student, Professor und Nationalrat. Warum behagt Ihnen diese Rolle so?
Wenn Sie unter einem Aussen­seiter jemanden verstehen, der unabhängig ist, sich nicht verleugnet und standfest ist, kann ich mit dieser Bezeichnung leben. Ich sehe diese Eigenschaften nicht als Schwäche, sondern als Stärke.

Der «Tages-Anzeiger» bezeichnete Sie 2015 als «Antipolitiker», weil Sie so ungern im Mittel­punkt stünden. Ein damals nach Ihnen gefragter Student sagte, er sehe Sie eher im Backoffice als im Parlament. Und ein namentlich nicht genannter Nationalrats- und Fraktions­kollege analysierte 2018: «Der Hans-Ueli wäre eigentlich perfekt geeignet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im SVP-General­sekretariat. Er hat gute Ideen, aber ein anderer müsste sie vortragen.»
Als Professor stehe ich im Hörsaal regelmässig vor 400 Studierenden. Da stehe ich im Mittel­punkt, und ich mache das gern. Auch an Partei­anlässen und auf Podien bin ich vor Hunderten von Leuten aufgetreten, und es hat mir Spass gemacht. Ich halte die erwähnten Einschätzungen für falsch.

Wirklich?
Klar: Ich bin kein Volks­tribun. Aber schadet es denn, wenn es im sieben­köpfigen Bundesrat auch Personen gibt, die Politik nicht als Show verstehen und nicht immer wie Sonnen­könige im Mittel­punkt stehen wollen?

Sie sagten einst, Sie seien ein Mensch, der manchmal gern allein sei. Werden Sie in den Bundesrat gewählt, werden solche Momente sehr, sehr rar sein.
Ich tausche mich jeden Tag mit meinen Mitarbeitern und Fach­kollegen aus, ich verbringe meine Freizeit mit Freunden oder mit meinem Bruder. Ich bin ein sozialer Mensch. Aber es trifft zu, dass ich manchmal Zeit für mich selbst brauche. Um zu überlegen, um Dinge einzuordnen. Ich erachte das als eine Qualität. Vor einiger Zeit habe ich auf einem Zucker­päckchen eine Weisheit gelesen, die mir in Erinnerung geblieben ist: «Wer viel spricht, hat weniger Zeit zum Denken.»

Was bedeutet Ihnen dieser Spruch?
Wenn es um den Bundesrat geht, ist immer von Anspruchs­gruppen die Rede, die es bei der Sitzvergabe zu berücksichtigen gebe: Frauen, Männer, Welsche, Tessiner, Deutsch­schweizer, Jüngere und Ältere, Geber- und Nehmer­kantone gemäss dem Finanz­ausgleich. Ebenso wichtig ist für den Bundesrat als Kollegial­behörde, dass auch unterschiedliche Persönlichkeiten vertreten sind. Der Bundesrat funktioniert besser, wenn es darin auch das eine oder andere etwas ruhigere Mitglied gibt.

Politik ist aber eher die Disziplin der Lauten.
Wenn alle nur reden und niemand dem anderen zuhört, kommen wir in der Politik nicht weiter. Wie will ich einen Kompromiss mit einer Grünen oder einem Sozial­demokraten finden, ohne mich für einen Moment zurück­zunehmen und zu versuchen, mich in ihre Person hinein­zuversetzen? Ohne Kompromisse ist unser Land blockiert.

Vor zwei Jahren sagten Sie mir in einem Interview, dass es Ihnen zunehmend zu viel werde, wenn Sie im Tram angeschaut werden. Sind Sie sich bewusst, dass Sie künftig wohl regelrecht angestarrt würden, wenn Sie in zwei Wochen in den Bundesrat gewählt würden?
Ja.

Und das macht Ihnen nichts aus?
Ganz und gar nicht. Ich freue mich sogar darüber. Als Bundesrat würde ich mich so für unser Land einsetzen, wie es meinen Eigenschaften und Fähigkeiten entspricht. Das war im Nationalrat anders.

Warum fühlten Sie sich dort unwohl?
Ich war nicht an dem Ort, an dem ich meine Stärken einbringen konnte. Zudem musste ich erkennen, dass zwei anspruchs­volle Engagements neben­einander, ein Parlaments­mandat und eine volle Professur, für mich als jemanden mit hohen Ansprüchen an sich selbst auf Dauer nicht mehr zu erfüllen waren. Da musste ich einen Entscheid treffen. Ich nahm ein Blatt Papier und notierte jene Punkte, die für einen Verbleib im Nationalrat sprachen, und jene, die für einen Rücktritt sprachen. Bald war der Befund klar. Es wäre nicht richtig gewesen, im Parlament zu verharren, wenn jemand anders nachrücken konnte, der sich voll auf das Parlaments­mandat konzentrieren kann.

Bei Ihrem Rücktritt verglichen Sie sich mit einem Tennis­spieler, der gezwungen gewesen sei, Fussball zu spielen. «Ich kann schon auch einen Pass spielen, aber viel besser bin ich auf dem Tennis­court», sagten Sie. Verstehen Sie, dass sich nun manch einer wundert, dass Sie mit Vehemenz zurück in die Politik drängen?
Wenn man sich bloss an diesen einen Satz erinnert, kann ich die Verwunderung nachvollziehen. Aber ich habe mich nicht aus der Politik verabschiedet – denken Sie etwa an die erwähnte Neutralitäts­initiative. Ein Exekutivamt konnte ich mir immer schon vorstellen. Diese Art des Politisierens sagt mir zu: zusammen in einem kleineren Team Lösungen erarbeiten, in dieser Rolle liegt meine Stärke. Als Bundesrat würde aus meinem politischen Engagement ein Beruf. Ich würde mich ganz für das Amt und unser Land einsetzen und wäre nicht mehr wie als Nationalrat ständig zwischen Beruf und Politik hin- und hergerissen.

Dann war der Entscheid nicht nur das Ergebnis einer Pro-und-Kontra-Abwägung?
Ja, es war nicht nur ein rationaler, sondern auch ein leiden­schaftlicher Entscheid.

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