Briefing aus Bern

Die Sommer­bilanz der Bundesräte, die Suche nach Strom­quellen und der SP-Präsident darf noch mal antreten

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (199).

Von Dennis Bühler, Priscilla Imboden und Cinzia Venafro, 18.08.2022

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Die Sommerferien sind zu Ende: In 17 der 26 Kantone hat der Schul­unterricht wieder begonnen. Und auch für den Bundesrat gilt es nun wieder ernst: Gestern Mittwoch traf sich die Regierung erstmals seit Ende Juni wieder zu einer regulären Sitzung. Dabei diskutierte sie unter anderem über Verhandlungen mit Strom­versorgern und Flüge mit historischen Flugzeugen (mehr dazu weiter unten).

Ob die Bundes­rätinnen bei dieser Gelegenheit auch über ihre internen Konflikte gesprochen haben, ist nicht überliefert. Die Kritik an der Regierung jedenfalls ist über den Sommer lauter geworden. Sie hinterlasse einen dysfunktionalen Eindruck, kommentierte die NZZ. Der «Tages-Anzeiger» schrieb, das ganze Land schaue dabei zu, «wie sich einzelne Magistraten lieber selbst optimal positionieren statt geschlossen hinter Entscheiden zu stehen». Und in einer repräsentativen Umfrage des «Sonntags­Blicks» vertraten fast zwei Drittel der Befragten die Ansicht, die Bundesrats­mitglieder arbeiteten schlecht oder eher schlecht zusammen.

Auch die Grünen und die Grünliberalen haben den Ton verschärft: Anders als früher machten die aktuellen Bundesräte Partei­politik, argwöhnte GLP-Präsident Jürg Grossen am Wochenende, und er warf dem Gremium Versagen in der Europa­politik und bei der Vorbereitung auf eine Strommangel­lage vor. Zugleich kündigte er an, seine Partei werde Anspruch auf einen Bundesrats­sitz erheben, falls es ihr bei den Wahlen im Oktober 2023 gelingt, ihren Wähler­anteil von 7,8 Prozent (2019) auf über 10 Prozent zu steigern. Auch bei den Grünen, denen ein Szenario zuletzt gar den Aufstieg zur zweit­stärksten Kraft hinter der SVP zutraute, sind die Vorbereitungen für eine Bundesrats­kandidatur bereits angelaufen.

Die Vorhersage liegt auf der Hand: Je näher die Wahlen rücken, desto grösser wird die Nervosität werden. Bei den vier in der Regierung vertretenen Parteien genauso wie bei den sieben Bundes­räten.

Jene drei, die wohl am meisten um die Wiederwahl werden zittern müssen, erhielten in den vergangenen Sommer­wochen am meisten Aufmerksamkeit: Gemäss der Schweizer Medien­datenbank fand FDP-Aussen­minister Ignazio Cassis vom 1. Juli bis gestern Mittwoch in insgesamt 3368 Berichten Erwähnung, gefolgt von SP-Energie­ministerin Simonetta Sommaruga (2843) und SP-Gesundheits­minister Alain Berset (2391).

Die Gründe sind unterschiedlich: Cassis wurde Anfang Juli für seine in Lugano ausgerichtete Ukraine-Konferenz gelobt – und geriet zwei Wochen später in die Kritik, weil sein Departement zunächst keine Verwundeten aus dem osteuropäischen Land aufnehmen wollte. Sommaruga musste sich gegen den SVP-Vorschlag wehren, ihr sei das Energie­dossier zu entziehen, und sah sich mit Forderungen derselben Partei konfrontiert, den Energie­notstand auszurufen. Und Berset sorgte mit einem Privat­flug für Schlag­zeilen: Zwei französische Kampfjets zwangen ein von ihm gelenktes einmotoriges Flugzeug zur Landung, nachdem er in gesperrten Luftraum eingedrungen war.

Die übrigen Regierungs­mitglieder verbrachten eine verhältnis­mässig ruhige Sommerzeit, auch wenn auch sie ab und zu kritisiert wurden: SVP-Wirtschafts­minister Guy Parmelin wegen seines in der Ukraine-Krise und der Europa­politik untätigen Staats­sekretariats Seco; Mitte-Verteidigungs­ministerin Viola Amherd, als die Eidgenössische Finanz­kontrolle ihre Angaben zu den Kosten der F-35-Kampfjets anzweifelte; SVP-Finanz­minister Ueli Maurer, weil er trotz positivem Covid-Test ohne Maske shoppen ging.

Bleibt Karin Keller-Sutter. Die FDP-Justiz­ministerin war in den letzten sieben Wochen in den Medien viel seltener Thema als ihre Kollegen – ihr Name wurde in bloss 896 Beiträgen erwähnt. Ruhige Zeiten, gute Zeiten?

Damit zum Briefing aus Bern.

Energiekrise: Strom aus Öl herstellen?

Worum es geht: Der Bundesrat sucht fieberhaft nach zusätzlichen Kraft­werken, um Strom zu produzieren. Mit den zusätzlichen Anlagen soll eine Leistung im Umfang von 80 Prozent von jener des abgeschalteten AKW Mühleberg erreicht werden. Die Regierung hat deshalb das Bundesamt für Energie und das Bundesamt für wirtschaftliche Landes­versorgung beauftragt, Verhandlungen mit Strom­versorgern aufzunehmen, die noch über alte mit Öl oder Gas betriebene Kraftwerke verfügen. Mit wem genau verhandelt wird, darüber herrscht Still­schweigen. Das Bundesamt für Energie bestätigt lediglich, dass die neueste Einrichtung, eine Test­anlage in Birr, für diesen Winter nicht verfügbar sein wird.

Warum Sie das wissen müssen: Der kommende Winter könnte kalt und dunkel werden. Europa droht eine Energie­knappheit, da Wladimir Putin das Erdgas als Druck­mittel einsetzt und es nur noch spärlich nach Europa fliessen lässt. Die Schweiz verfügt über keine Gas­reserven und versucht deshalb, Solidaritäts­abkommen mit Nachbar­ländern abzuschliessen – bisher erfolglos. Da im europäischen Ausland Gas auch zur Strom­erzeugung dient, viele Atom­kraftwerke in Frankreich derzeit in Revision sind und die Schweiz im Winter auf Strom­importe angewiesen ist, könnte hierzulande der Strom knapp werden.

Wie es weitergeht: Bald wird bekannt, ob zusätzliche Kraftwerke aktiviert werden können. Ausserdem wird der Bundesrat eine Kampagne starten, um die Bevölkerung zu animieren, Strom und Gas zu sparen. Gleichzeitig bereiten sich der Bund und die Strom­wirtschaft darauf vor, den Strom und das Gas zu rationieren – falls nötig. Der Präsident der Elektrizitäts­kommission Elcom riet neulich dazu, für diesen Winter Holz und Kerzen zu kaufen.

OECD-Mindest­steuer: Grosse Unter­schiede bei den Kantonen

Worum es geht: Finanz­minister Ueli Maurer rechnet damit, dass mit der OECD-Mindest­steuer jährlich 1 bis 2,5 Milliarden mehr in die Staatskasse fliessen. Nun kommt eine von der SP in Auftrag gegebene Studie zu einem ähnlichen Schluss – ganz zur Enttäuschung der Linken, die in den vergangenen Debatten weitaus höhere Beträge erwartet hatten. Verteilt würden diese auf wenige Kantone, Zug und Basel-Stadt würden am meisten einnehmen. Zu diesem Schluss kommt auch eine Analyse der Denk­fabrik Avenir Suisse, die die Steuer kritisch sieht.

Warum Sie das wissen müssen: Bis in zwei Jahren müssen die Gewinn­steuersätze für Konzerne auf mindestens 15 Prozent angehoben werden. Das verlangt eine Vereinbarung der Organisation für wirtschaftliche Zusammen­arbeit und Entwicklung (OECD). Es ist eine der wichtigsten und delikatesten Steuer­reformen derzeit. Der Bundesrat schlägt dem Parlament vor, dass drei Viertel der zusätzlichen Einnahmen den Kantonen zugute­kommen.

Wie es weitergeht: An der Herbst­session im September wird sich voraussichtlich der Ständerat dem Streit um die Milliarden widmen. Der Bundesrat hat die Vernehmlassung dazu eröffnet. Weil für die Umsetzung eine Verfassungs­änderung nötig ist, wird die Stimm­bevölkerung das letzte Wort haben.

Historische Flugzeuge: Weit­gehendes Flugverbot

Worum es geht: Künftig werden kommerzielle Flüge mit historischen Flugzeugen nicht mehr möglich sein. Der Bundesrat hat dazu gestützt auf eine Analyse des Bundesamts für Zivilluftfahrt (Bazl) zum Flugzeug­absturz einer Ju-52-Maschine im Jahr 2018 die betreffende Verordnung angepasst.

Warum Sie das wissen müssen: Beim Absturz der als «Tante Ju» bekannten Maschine 2018 kamen 20 Personen ums Leben. Laut Schluss­bericht führte eine hoch riskante Flug­führung durch die Piloten zum Unglück oberhalb von Flims im Kanton Graubünden. Das Flugzeug stürzte beim Piz Segnas nahezu senkrecht zu Boden. Die Flugzeug­gesellschaft Ju-Air, die ein ähnliches historisches Flugzeug aus dem Jahr 1939 flugtauglich machen wollte, war zuletzt gegroundet.

Wie es weitergeht: Die Flugzeuge bleiben am Boden. Rundflüge mit Gästen wird es nicht mehr geben. Einzig Vereins­mitglieder dürfen noch mit den alten Maschinen fliegen, falls sie jemand flugtauglich macht.

Oligarchen­gelder: Kommission will Taskforce

Worum es geht: Eine Taskforce soll russische Vermögens­werte in der Schweiz aufspüren und sich um die Umsetzung der Sanktionen gegen Russland und Belarus kümmern. Die Wirtschafts­kommission des Nationalrats hat eine entsprechende Motion mit 13 zu 12 Stimmen knapp verabschiedet. SVP, FDP und Mitte-Parlamentarier stellten sich dagegen.

Warum Sie das wissen müssen: Die Schweiz setze die Sanktionen gegen russische Staats­bürger zu lasch um – dieser Meinung war zuletzt eine Mehrheit des Nationalrats, sie forderte, die Schweiz solle eigenständig Sanktionen erlassen. Der Umgang mit russischem Vermögen in der Schweiz sorgt seit dem Überfall auf die Ukraine für anhaltende Kritik.

Wie es weitergeht: Als Nächstes nimmt sich die grosse Kammer der Motion an. Noch im Sommer wies der Nationalrat eine ähnliche Forderung der SP mit 103 zu 78 Stimmen bei 3 Enthaltungen ab. Diese hatte jedoch anders als die jetzige Motion den Einzug der Vermögens­werte verlangt.

Eigenmietwert: Streit über Abschaffung spitzt sich zu

Worum es geht: Die Wirtschafts­kommission des Nationalrats (WAK-N) hat sich diese Woche für die Abschaffung des Eigen­mietwerts ausgesprochen. Dabei will sie noch weiter gehen als der Ständerat, der seinen Entscheid bereits 2021 getroffen hat: Die WAK-N will den Eigen­mietwert nämlich auch bei Zweit­wohnungen aufheben. Gleichzeitig sollen Hypothekar­zinsen und Kosten für den Unterhalt – anders als vom Ständerat vorgeschlagen – weiterhin vollständig von den Steuern abgezogen werden dürfen.

Warum Sie das wissen müssen: Beim Eigen­mietwert handelt es sich um eine fiktive Miete, die Haus- oder Wohnungs­eigentümer als Einkommen versteuern müssen. So sollen Eigentümerinnen mit Mieterinnen gleichgestellt werden, weil Letztere keine Abzüge für Unterhalt und Zinsen geltend machen können. Die von der WAK-N propagierten Gesetzes­anpassungen würden gemäss Berechnungen der Eidgenössischen Steuer­verwaltung bei einem Hypothekarzins­niveau von 1,5 Prozent zu Minder­einnahmen von total 3,8 Milliarden Franken führen. Entsprechend erbost reagieren die politischen Kräfte, die in der Kommission knapp mit 10 zu 12 Stimmen unterlegen sind: Der Mieter­verband hält den Vorschlag für «völlig einseitig und inakzeptabel», SP-Nationalrätin Prisca Birrer-Heimo spricht von einem «finanz­politischen Desaster zugunsten von privilegierten Eigentümerinnen und Eigentümern». Sogar dem Haus­eigentümer­verband geht der Vorschlag der WAK-N zu weit: Er schreibt in einer Mitteilung, eine derart «angereicherte» Vorlage erscheine als politisch chancenlos, weshalb er die Version des Ständerats bevorzuge.

Wie es weitergeht: Das Nationalrats­plenum wird sich voraussichtlich in der Herbst­session mit dem Geschäft befassen. Sollte sich der Vorschlag der WAK-N sowohl im National- als auch im Ständerat durchsetzen, würden die SP, der Mieter­verband und weitere Mitstreiter aller Voraussicht nach das Referendum ergreifen.

Einigkeit der Woche

Eigentlich hätte er den Hut nehmen müssen. Nach drei Legislaturen unter der Bundeshaus­kuppel wäre für Cédric Wermuth eine Amtszeit­beschränkung in Kraft getreten: Der Co-Präsident der Sozial­demokraten sitzt seit 2011 im Nationalrat. Und ein Jahr später führten die Aargauer Genossinnen eine Klausel für sogenannte Sessel­kleber. Aber eben, für Wermuth gilt sie doch nicht: Am Dienstag hat der ausser­ordentliche Parteitag der SP Aargau entschieden, dass ihr Präsident für eine vierte Amtszeit antreten darf. Gebraucht hätte er dafür zwei Drittel der Stimmen. Geholt hat er sie alle, keine einzige Gegen­stimme erhob sich gegen den Präsidenten. Grosse Einigkeit also im Moment bei der Personalie Wermuth – zumindest bis zu den nächsten Wahlen.

Illustration: Till Lauer

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