Die lahmste Behörde der Schweiz

Das Staatssekretariat für Wirtschaft könnte die wichtigste und einfluss­reichste Bundes­behörde sein. Doch es macht in allen grossen Krisen der Gegenwart eine schlechte Figur – in der Pandemie, der Europa­politik und bei Russlands Krieg in der Ukraine. Warum?

Von Dennis Bühler, Priscilla Imboden (Text) und Illumüller (Illustration), 05.07.2022

Synthetische Stimme
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Am 24. Februar dieses Jahres sitzt Erwin Bollinger im Medien­zentrum des Bundes auf dem Podium, neben sich drei Chef­beamte und den Vizekanzler, vor sich zwei Dutzend Journalistinnen. Doch auch wenn der «Leiter des Leistungs­bereichs Bilaterale Wirtschafts­beziehungen» des Staats­sekretariats für Wirtschaft (Seco) alles andere als allein ist: Er sieht in diesem Moment ziemlich einsam aus.

Wenige Stunden zuvor ist Russland in die Ukraine einmarschiert. Und weil Bundes­präsident Ignazio Cassis nach einer eilig vorgetragenen Regierungs­erklärung überstürzt von dannen gezogen und Wirtschafts­minister Guy Parmelin gar nicht erst zur Medien­konferenz erschienen ist, obliegt es Bollinger, zu erklären, was der Bundesrat denn nun überhaupt beschlossen hat. Trägt die Schweiz die von der EU beschlossenen Sanktionen gegen russische Parlamentarierinnen und Oligarchen mit? Oder erlässt sie bloss Massnahmen, damit diese Sanktionen nicht via Schweiz umgangen werden können?

Der Auftritt gerät zum Fiasko. Selbst auf simple Fragen wissen Bollinger und die ihn flankierenden Beamten keine überzeugenden Antworten. Stattdessen suchen sie Ausflüchte und verheddern sich in Wider­sprüche. Kein Wunder, hagelt es danach aus dem In- und Ausland Kritik, die während Tagen nicht abebbt.

Im Auge des Sturms: das Seco, an dem sich die Geister ohnehin scheiden wie an keiner anderen staatlichen Schweizer Behörde. Nicht nur im Kriegsfall, sondern seit seiner Gründung vor einem knappen Viertel­jahrhundert.

«Politikferne Technokraten», «heillos überfordert», «Schönwetter-Staatssekretariat», «ideologisch in den neoliberalen Neunziger­jahren verhaftet»: National- und Stände­rätinnen gehen mit dem Seco hart ins Gericht. Egal ob sie für die Mitte, die GLP, die Grünen oder die SP politisieren.

Ich will es genauer wissen: Das Seco – ein Fusions­produkt

Das Staatssekretariat für Wirtschaft ist mit seinen rund 800 Mitarbeiterinnen ein Moloch in der Bundes­verwaltung. In anderen Ländern befassen sich zwei Ministerien mit seinen Aufgaben: ein Wirtschafts- und ein Arbeits­ministerium. Schon zu Beginn war das Schweizer Konstrukt hochumstritten: FDP-Bundesrat Pascal Couchepin schuf es 1999 als Fusion des damaligen Bundes­amtes für Aussen­wirtschaft und des Bundes­amts für Industrie, Gewerbe und Arbeit. Damit führte Couchepin zwei Kulturen zusammen, die schlecht zueinander­passten: hier die weltläufigen Handels­diplomaten in feinen Anzügen, dort die hemds­ärmeligen Bürokratinnen, die sich mit der Binnen­wirtschaft und den Sozial­partnern befassten.

Die Gewerkschaften kritisierten die Fusion und forderten ein eigenständiges Bundesamt für Arbeit. Der damalige Präsident des Gewerkschafts­bunds und heutige SP-Ständerat Paul Rechsteiner bezeichnet das Seco auch 23 Jahre später noch als Fehl­konstruktion. «Beim Seco meint man, Freihandel sei Wirtschafts­politik», sagt er. «Aber der Freihandel wird immer unwichtiger. Wichtig wären Arbeits­politik, Wirtschafts­politik, Europa­politik.»

Seltene Einigkeit herrscht in dieser Frage unter den Sozial­partnern. Denn auch Arbeitgeber­präsident Valentin Vogt sagt: «Die Fusion hat viele Nachteile mit sich gebracht, der Arbeits­markt und die Sozial­partnerschaft haben dadurch an Bedeutung verloren.»

Weshalb bringt das Staats­sekretariat für Wirtschaft die Gemüter derart in Wallung? Womit ärgert es Exponentinnen von links bis weit ins bürgerliche Lager? Wieso ist es in der Schweizer Europa­politik zurzeit kaum ein Faktor? Und welche Rolle spielt es in den beiden grössten Krisen des laufenden Jahrzehnts – der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine?

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, hat die Republik mit knapp zwei Dutzend Personen gesprochen. Mit Parlamentarierinnen, ehemaligen und aktuellen Mitarbeitern des Seco, Vertreterinnen anderer Bundes­ämter und Departemente, Mitgliedern kantonaler Regierungen. Und sie hat mit der per Ende Monat abtretenden Staats­sekretärin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch ein ausführliches Gespräch geführt.

Zum Interview mit Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch: «Das beweist, dass wir keine Wind­fahnen sind»

Neoliberal, stur, zaghaft: Ist das Staats­sekretariat für Wirtschaft (Seco) genau so, wie es von Kritikerinnen bezeichnet wird? Die Direktorin nimmt dazu Stellung. Hier gehts zum Interview.

«Eine Hauptaufgabe meiner letzten elf Jahre als Seco-Direktorin war es, mehr Regulierung abzuwehren», sagte Ineichen-Fleisch zum Abschied.

Das mag in guten Zeiten sinnvoll sein. Doch es gibt Situationen, in denen aus politischen Gründen Eingriffe in das Wirtschafts­geschehen angesagt sind. Welt­umspannende Krisen etwa, wie sie in den letzten Jahren häufiger auftraten. Da zeigt sich, wie die reflexartige Laisser-faire-Haltung des Seco Existenzen gefährden und die Reputation der Schweiz beschädigen kann.

1. Der Krieg

In den ersten Tagen nach der russischen Invasion in die Ukraine blamiert sich die Schweiz vor aller Augen. Daran trägt das Seco die Haupt­schuld. Weil es keine formellen Anträge vorbereitet hat, sprechen die sieben Bundes­rätinnen an einer ausser­ordentlichen Sitzung wenige Stunden nach Kriegs­beginn zwar über allfällige Sanktionen, sie fällen aber keine Entscheide. Denn: ohne schriftliche Anträge keine Bundesrats­beschlüsse.

Hatte man im Departement von Wirtschafts­minister Guy Parmelin schlicht nicht für möglich gehalten, dass Russlands Präsident Wladimir Putin seine Truppen tatsächlich im Nachbar­land einmarschieren lassen würde? Oder liess das Seco seinen obersten Chef bewusst ins Messer laufen? Schnell schossen in Bundesbern die Gerüchte ins Kraut. Gewissheit gibt es bis heute nicht.

Klar ist: Parmelin und sein Staats­sekretariat – bisher ist das keine Liebes­beziehung.

Erstens aus ideologischen Gründen: Als Landwirt und Winzer sowie ehemaliger langjähriger Verwaltungs­rat und Vize­präsident des Agrar­unternehmens Fenaco ist der SVP-Politiker staatlichen Inter­ventionen gegenüber nicht abgeneigt – und alles andere als ein Freihandels­enthusiast. «Zwischen Parmelin und die offizielle Verbands­politik geht kein Blatt Verordnungs­papier», schrieb die «Bauern­zeitung» einst.

Dass sich daran bis heute wenig geändert hat, zeigte sich zuletzt vor wenigen Tagen, als der Bundesrat seinen Bericht zur «zukünftigen Ausrichtung der Agrar­politik» vorstellte. Nachdem der Bauern­verband mit seinen Verbündeten im Parlament die vom Departement Parmelin aufgegleiste Agrarpolitik 2022+ schubladisiert hatte, folgte der neue Vorschlag in grossen Linien den Wünschen des Verbands.

Im Seco hingegen haben in den letzten Jahren international ausgerichtete Handels­diplomaten den Ton angegeben, die Zölle und Protektionismus am liebsten abschaffen würden. Zuoberst Ineichen-Fleisch, die zusätzlich zur Leitung des Staats­sekretariats auch für die Welthandels­organisation, die Organisation für wirtschaftliche Zusammen­arbeit und Entwicklung sowie für Freihandels­abkommen zuständig ist. Unmittelbar darunter Chefökonom Eric Scheidegger. Beide gehören zum Freisinn oder stehen ihm nahe: Ineichen-Fleisch wurde von der «NZZ am Sonntag» einst gar als FDP-Bundes­rätin gehandelt, Scheidegger unterstützte Bundesrat Pascal Couchepin um die Jahrtausend­wende als wirtschafts­politischer Berater.

Der zweite Grund für die konflikt­reiche Beziehung zwischen Parmelin und dem Seco reicht in die Anfangs­phase der Pandemie zurück: Der Wirtschafts­minister soll sich von seiner Equipe derart schlecht beraten gefühlt haben, dass er irgendwann nur noch den Sozial­partnern – Arbeit­gebern und Gewerkschaften – Gehör schenkte.

Nun kommt es zur Stabsübergabe an der Seco-Spitze. Wie Anfang Mai bekannt wurde, setzt Parmelin nicht etwa auf eine Person mit Stall­geruch, sondern auf eine Quer­einsteigerin aus dem Aussen­departement: Helene Budliger Artieda ist aktuell Schweizer Botschafterin in Thailand, zuvor war sie in derselben Funktion in Südafrika. Mit wirtschafts­politischen Analysen hat sie sich in ihrer bisherigen Laufbahn nicht hervorgetan.

Falls es Budliger Artieda gelingt, das Seco mit mehr politischem Gespür zu leiten als ihre Vorgängerin, kann das dem Staats­sekretariat nur guttun.

Denn daran fehlte es der Behörde nicht nur unmittelbar nach Kriegs­beginn in der Ukraine, sondern auch im weiteren Verlauf der Kampf­handlungen.

Obwohl der Bundesrat nach anfänglichem Zögern entschied, die EU-Sanktionen gegen russische Bürgerinnen und Behörden vollumfänglich zu übernehmen, tat sich das Seco schwer damit. Während der vergangenen vier Monate verging kaum eine Woche ohne negative Schlagzeilen.

  • «Auf der Schweizer Sanktions­liste fehlen mehr als zwei Dutzend Personen, die von der EU sanktioniert worden sind. Darunter Angehörige einer rechtsextremen Söldnerfirma und Männer, die Feinde des Kremls vergiftet haben sollen», enthüllte die Republik im März.

Kritisiert wird das Seco nicht nur in den Medien. Die SP verlangte erfolglos, dass der Bund eine Taskforce einsetzt, um Vermögen russischer Oligarchen aufzuspüren – und erstattete beim Gesamt­bundesrat sogar eine Aufsichts­beschwerde gegen das Seco. Diese hat das Bundesamt für Justiz am 10. Juni aber abgewiesen, wie es der Republik auf Anfrage mitteilt.

Sowohl der ukrainische als auch der US-amerikanische Botschafter in Bern forderten den Bundesrat auf, aktiver nach russischen Vermögen zu suchen.

Die Helsinki-Kommission, ein unabhängiges Gremium der US-Regierung, beschuldigte die Schweiz, ein sicherer Hafen für Gelder des russischen Regimes und damit eine Gehilfin Putins zu sein.

Und sowohl die national- als auch die stände­rätliche Geschäfts­prüfungs­kommission starteten Unter­suchungen, um dem schleppenden Vollzug der Sanktionen auf den Grund zu gehen.

Den vielleicht eindrücklichsten Beleg für die zaghafte Seco-Reaktion aber lieferte die Bündner Kantons­regierung. In einer Antwort auf eine dringliche Anfrage eines SP-Politikers schrieb sie im April, das Seco habe mehr als einen Monat gebraucht, um die kantonalen Steuer­verwaltungen mit einem Merkblatt darüber zu informieren, wie sie mit Vermögens­werten sanktionierter Russen umgehen sollen. «Aus Sicht der [Bündner] Steuer­verwaltung war die Zusammen­arbeit mit dem Seco somit lange unbefriedigend.»

Mit Blick auf die Schweizer Praxis in jüngster Vergangenheit kommt das nicht überraschend. Das Seco führt auf seiner Website insgesamt 24 geltende Sanktions­regimes auf, unter anderem gegen Russland, Simbabwe oder Venezuela. In den letzten zehn Jahren hat es aber in all diesen Sanktions­regimes lediglich 22 Sanktions­verstösse festgestellt und geahndet.

Gestützt auf das Öffentlichkeits­prinzip der Verwaltung hat die Republik Einblick in diese Straf­bescheide erhalten. Während mehr als die Hälfte der Straf­bescheide die Iran-Verordnung betreffen, sind auch zwei im Zusammen­hang mit der Ukraine-Verordnung aus dem Jahr 2014 darunter: Vor sechs Jahren wurde eine Person gebüsst, nachdem Sturm- und Scharfschützen­gewehre aus Russland eingeführt worden waren; und vor drei Jahren wurde eine Schweizer Firma sanktioniert, die eine Entsorgungs­anlage für eine Deponie auf der Krim exportiert hatte.

Dass so wenig Sanktions­verstösse bestraft wurden, kann zweierlei bedeuten: Entweder halten sich alle besonders brav an die Schweizer Sanktionen. Oder dem Seco fehlt es an Ermittlungs­eifer.

In den rund vier Monaten seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine habe sich das grösste Defizit des Seco gezeigt, sagt Grünen-National­rätin Franziska Ryser zur Republik: «Die Seco-Führung predigt ständig, die Wirtschaft habe flexibel zu sein und Entwicklungen zu antizipieren – doch sie selbst scheint dazu nicht imstande.» In dieselbe Kerbe schlägt Mitte-Präsident Gerhard Pfister: «Der Bundesrat und das Seco haben bis heute nicht gemerkt, dass sie im Kriegsfall proaktiver vorgehen müssen als bei der Agrar­politik oder einem beliebigen anderen innen­politischen Geschäft, das nur einen kleinen Kreis interessiert.»

2. Die Pandemie

Am 25. Februar 2020 wird bei einer Person im Tessin das Covid-19-Virus nachgewiesen. Drei Tage später stuft der Bundesrat die Situation in der Schweiz als «besondere Lage» ein und verabschiedet erste Massnahmen, gut zwei Wochen später schickt die Regierung den grössten Teil der Wirtschaft in einen Shutdown.

Beim Seco aber herrscht Ende Februar noch Courant normal. Das bestätigen Vertreter sämtlicher Lager, die in jenen Tagen regelmässig an Sitzungen mit der Spitze des Staats­sekretariats in Bern waren.

«Die Seco-Führung hätte voraus­schauender und aktiver agieren müssen», sagt Daniel Lampart, der Chef­ökonom des Gewerkschafts­bundes. «Sogar die Arbeit­geber gaben bei den Lohn­garantien und beim Gesundheits­schutz mehr Gas. Viele Massnahmen kamen dank den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen von Bundesrat Berset, den Gewerkschaften und den Arbeit­gebern zustande. Die Seco-Spitze hinkte lange hinterher.»

Der Urner Mitte-Regierungsrat Urban Camenzind, Präsident der Kantonalen Konferenz der Volkswirtschafts­direktoren, sagt: «Das Seco hat das Problem zu Beginn nicht erkannt, sie waren zu weit weg. Gleichzeitig haben uns die betroffenen Unternehmen in den Kantonen die Hütte eingerannt.» Immerhin: Nach der schwierigen Anfangs­phase habe das Seco dann einen guten Job gemacht.

Noch Mitte März 2020 sagte Chefökonom Eric Scheidegger der «Weltwoche», er setze auf automatische Stabilisatoren wie die Kurzarbeit, um die Krise zu überwinden: Diese wirkten zuverlässig, sodass man auf möglicher­weise vorschnelle staatliche Inter­ventionen verzichten könne. Darüber hinaus wollte er abwarten: «Wenn es zu einer schweren Rezession mit einem starken Einbruch des BIP über längere Zeit und einer absehbaren erheblichen Zunahme der Arbeits­losigkeit kommen sollte, können weitere Massnahmen sinnvoll sein», sagte Scheidegger. Es sei dann Schritt für Schritt vorzugehen.

Dann ging es plötzlich schnell.

Aus den ursprünglich vom Seco beantragten 15 Millionen Wirtschafts­hilfe wurden 40 Milliarden Franken. Wobei dafür nicht Ineichen-Fleisch, Scheidegger oder Boris Zürcher, der Leiter der Direktion für Arbeit, ausschlag­gebend waren, sondern eine gemeinsame Inter­vention der Sozial­partner bei Wirtschafts­minister Parmelin.

Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt sagt: «Es ist ein für die Bundes­verwaltung typisches Problem: Man findet bei Krisen nicht schnell genug aus dem Silodenken heraus und verpasst es, auf übergeordneter Ebene eine Lage­beurteilung vorzunehmen und rasch Entschlüsse zu fassen. Nach Pandemie­beginn kam das Seco erst richtig in die Gänge, als es von den Sozial­partnern zu einer deutlichen Reaktion aufgefordert wurde.»

Druck kam auch aus dem Parlament. Während der Pandemie habe sich gezeigt, dass die Wirtschaft in der Vorstellung des Seco vor allem aus hoch rentablen Gross­konzernen bestehe, sagt die Grünen-Nationalrätin und Wirtschafts­politikerin Franziska Ryser: «Die Realität einer Beizerin oder eines Coiffeurs mit knappen Margen war der Seco-Spitze völlig fremd.» So habe das Staats­sekretariat keine Vorstellung davon gehabt, was ungedeckte Fixkosten seien.

Die Seco-Spitze war auch in der pandemischen Ausnahme­situation kaum dazu bereit, von ihrer Über­zeugung abzurücken, staatliche Interventionen seien auf ein absolutes Minimum zu beschränken. So hob sie die Entscheidung für Kurzarbeit für arbeit­geberähnliche Angestellte Ende Mai 2020 auf, ohne Branchen und Betroffene zu informieren.

Wie restriktiv das Seco agierte, zeigt sich auch an einer weiteren Episode, die bei den Kantonen für besonders viel Ärger sorgte: Das Seco verbot ihnen, Kurzarbeits­gelder für Ferien und Feiertage auszuzahlen, was rund 10 Prozent der Entschädigungen ausmachte. Ein Unter­nehmen aus Luzern klagte bis vor Bundesgericht und erhielt recht. Danach liess das Seco einen Rechts­streit fallen, den es mit dem Kanton Zürich in gleicher Sache führte. Die Rechnung kommt den Bund nachträglich teuer zu stehen: Das Parlament sprach 2,1 Milliarden Franken für Firmen, die die Entschädigung nun einfordern dürfen.

Trotzdem haben sich die Wogen nicht geglättet, wie ein jüngst von der freisinnigen Zürcher Volks­wirtschafts­direktorin Carmen Walker Späh publizierter Gastbeitrag in der NZZ zeigt. «Diese ganze Übung hätte sich vermeiden lassen, wenn das Seco vor zwei Jahren mit den Kantonen in einen echten Dialog gestiegen wäre und für die Kantone, welche die Covid-Verordnung richtig interpretiert und korrekt gehandelt hatten, ein offenes Ohr gehabt hätte», schrieb Walker Späh und forderte: «Die Kantone erwarten (…), dass der Bund mit ihnen auf Augenhöhe umgeht.»

Während das Seco zögerlich reagierte, zeigte das Finanz­departement zu Beginn der Pandemie, dass rasche Hilfe möglich ist. Innert kürzester Zeit gleiste es ein Not-Hilfskredit­programm auf, wofür es von allen Seiten Lob erhielt – bis heute.

3. Die Europa­politik

Im Juni 2018 gibt Aussen­minister Ignazio Cassis zur Überraschung aller in einem Radio­interview bekannt, er sei zu Zugeständnissen beim Lohnschutz bereit. Damit rückt der Bundesrat von einer seiner «roten Linien» ab, die er noch drei Monate zuvor selbst bekräftigt hat. Ein Sololauf des Tessiners?

Womöglich hat das Wirtschafts­departement eine bedeutendere Rolle gespielt, als man bisher annahm. Wie verschiedene Beobachterinnen berichten, soll der damalige General­sekretär von Bundesrat Johann Schneider-Ammann, Stefan Brupbacher, über Aussen­departements-General­sekretär Markus Seiler eingefädelt haben, dass dessen Vorgesetzter Cassis gegenüber der EU Verhandlungs­bereitschaft bei den flankierenden Massnahmen signalisiert. Das Ziel der FDP-Bundesräte und der beiden hochrangigen Beamten mit demselben Parteibuch: über das Rahmen­abkommen den Arbeits­markt zu liberalisieren und dabei die SP zu spalten.

Die Reaktion der Gewerkschaften folgte umgehend: Unter wilden Protesten stoppten sie alle Gespräche und wandten sich gegen das Rahmen­abkommen. Die SP folgte im Gleichschritt. Von da an war das Projekt innen­politisch blockiert: Gegen den Willen der zwei grössten Schweizer Parteien SVP und SP ist jedes politische Vorhaben chancenlos. Das Seco liess es geschehen. Eine «historische Fehl­leistung» sei das gewesen, kommentiert Mitte-Präsident Gerhard Pfister.

Die Beziehungen zur EU, dem grössten Schweizer Handels­partner, wären eine zentrale Aufgabe des Wirtschafts­departements. Ein halbes Jahrhundert lang war das sogenannte Integrations­büro zuständig für die Beziehungen zwischen Bern und Brüssel. Es war dem Wirtschafts- und dem Aussen­departement gemeinsam unterstellt. Im Zuge einer Reorganisation, während der die Bildung im Wirtschafts­departement konzentriert wurde, schanzte der Bundesrat das Integrations­büro 2012 auf Wunsch von SP-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey jedoch integral dem Aussen­departement zu.

Seither ist das Wirtschafts­departement nicht mehr am Steuer, wenn es um die Europa­politik geht. Das heisst aber nicht, dass das Seco hier keine Rolle spielen kann. Es überwacht die Umsetzung der flankierenden Massnahmen und ist die Bundes­stelle, die den intensivsten Austausch mit den Sozial­partnern pflegt.

Die Direktion für Arbeit des Seco ist damit in der Poleposition, um eine vermittelnde und konstruktive Rolle zu spielen. Sie könnte eingreifen und Lösungen herbeiführen – sofern der Arbeitgeber­verband und die Gewerk­schaften mitmachten. Aber die Direktion und ihr Chef Boris Zürcher glänzen in dieser Frage durch Abwesenheit. «Das Seco müsste eine stärkere Vermittler­rolle zwischen den Sozial­partnern wahrnehmen», sagt Valentin Vogt, Präsident des Arbeitgeber­verbandes.

Die Behörde sei in dieser Phase ein Ausfall gewesen, statt die Stärken der Schweizer Sozial­partnerschaft einzubringen, sagt Paul Rechsteiner, der damals als Präsident des Gewerkschafts­bunds die Tür zuknallte: «Das Gleichgewicht zwischen den Sozial­partnern ist sehr labil. Man muss die Verbände kennen und auf Augen­höhe einbeziehen.»

Dieses Verständnis sei im Seco verloren gegangen, seit Boris Zürcher zuständig sei.

Seither hat der Bundesrat das Wirtschafts­departement in dieser Frage entmachtet: Er übertrug die Gespräche mit den Sozial­partnern an Mario Gattiker, den ehemaligen Direktor des Staats­sekretariats für Migration im Justiz­departement. Gattiker – und nicht etwa die Seco-Chefin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch – ist seither damit beauftragt, mit den Sozial­partnerinnen nach einem europa­politischen Kompromiss zu suchen. Sogar noch nach seiner Pensionierung.

4. Ausblick

Die nächste Krise steht bevor: Steigende Preise und weniger Wachstum, es droht eine Stagflation. An den traditionellen Von-Wattenwyl-Gesprächen zwischen Partei­spitzen und Bundesrat fragten die Mitte und die SP kürzlich, ob das Wirtschafts­departement darauf vorbereitet sei und Vorschläge parat habe, wie Preis­steigerungen gedämpft werden könnten. Wie verschiedene Anwesende berichten, lautete die Antwort von Bundesrat Parmelin: Nein, wir warten ab.

Auch für die nächste mögliche Krise heisst das: Das Seco bleibt so passiv wie eh und je.

Dabei könnte die Superbehörde eine der mächtigsten Kräfte in Bundesbern sein. Aber dafür brauche es ein Umdenken in den Amts­stuben, sagt der seit Jahrzehnten bestens vernetzte Politik­lobbyist Martin Schläpfer: «Die neo­liberale Epoche ist vorbei, man findet den Staat angesichts der grossen Krisen nützlicher denn je.»

Auf die neue Seco-Chefin Helene Budliger Artieda wartet eine anspruchs­volle Aufgabe. Sie muss das Seco so aufstellen, dass es den modernen Heraus­forderungen gewachsen ist: Dekarbonisierung der Wirtschaft, Versorgungs­sicherheit, Digitalisierung; und eine Geopolitik, die den Handel neu gestaltet.

In einer Zeit, in der eine Krise die andere jagt, bräuchte es Behörden, die fähig sind, voraus­schauend zu agieren.

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