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Drum prüfe, wer sich ewig windet

Beim Bund will man weiterhin mutmassliche russische Schwerkriminelle nicht sanktionieren. Warum?

Von Dennis Bühler, 08.04.2022

Synthetische Stimme
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Warum sanktioniert die Schweiz russische Söldner nicht, die in Syrien Zivilisten enthauptet haben sollen und aktuell in der Ukraine kämpfen? Wieso lässt sie russische Hacker unbehelligt, die den Deutschen Bundestag infiltriert haben? Weshalb geht sie nicht gegen Geheim­dienst­agenten vor, die Feinde des Kreml vergiftet haben sollen?

Wer derzeit in Bern solche Fragen stellt, bekommt zwar Antworten. Aber nur sehr komplizierte.

Man könne die Sanktionen, die die Europäische Union gegen knapp zwei Dutzend mutmassliche Schwer­kriminelle erlassen hat, nicht so einfach übernehmen, heisst es beim Bund. Schliesslich handle es sich um «neuartige» Sanktions­regimes, die man erst gründlich prüfen müsse.

Letzte Woche hat die Republik enthüllt, dass auf der Sanktions­liste des Staats­sekretariats für Wirtschaft (Seco) rund zwei Dutzend Personen fehlen, denen schwere Verbrechen zur Last gelegt werden und welche die EU auf sogenannte thematische Sanktions­listen gesetzt hat. Das sind Sanktionen, die sich nicht primär gegen Staaten oder ihre Exponenten richten, sondern gegen Einzel­personen, Gruppen oder Institutionen, die für schwere Menschen­rechts­verletzungen, Cyber­kriminalität oder den Einsatz chemischer Waffen belangt werden sollen – unabhängig davon, wo in der Welt und in welchem Kontext sie handelten.

Zur Recherche: «Das Gruselkabinett»

Wenige Tage nach Kriegsbeginn schloss sich der Bundesrat den EU-Sanktionen gegen Russland an. Seither behaupten die Behörden, die Schweiz übernehme die EU-Sanktions­listen vollständig. Ende März zeigte die Republik in der Recherche «Das Gruselkabinett» auf, dass auf der Liste des Staats­sekretariats für Wirtschaft etliche von Brüssel sanktionierte Personen fehlen – darunter Angehörige der rechtsextremen Söldner­firma Gruppe Wagner und Männer, die Feinde des Kreml vergiftet haben sollen. Fälschlicher­weise schrieben wir dabei allerdings: Auch der ehemalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch sei «von der Schweiz unbehelligt», aber seine Vermögen gesperrt. Richtig ist: Janukowitschs Name steht nicht auf der Ukraine-Sanktionsliste des Staats­sekretariats für Wirtschaft, wohl aber auf einer Liste des Aussen­departements EDA.

Dennoch sagte Wirtschafts­minister Guy Parmelin vor einer Woche vor den Medien, er könne kein Reputations­risiko für die Schweiz erkennen. Zwar liege die Frage, ob die Schweiz thematische EU-Sanktionen übernehmen soll, auf dem Tisch des Bundesrats. «Aber angesichts der Krise und der Unsicherheit denken wir derzeit, dass die von der Schweiz übernommenen Sanktionen ohnehin schon extrem kompliziert sind.»

Am Mittwoch hat das Thema nun auch im Bundesrat zu reden gegeben, wie Vizekanzler André Simonazzi bestätigt. In der Sitzung sei darauf hingewiesen worden, dass die in der ständigen Koordinations­gruppe Sanktions­politik vertretenen Departemente und Ämter die Vor- und Nachteile der thematischen Sanktionen sowie mögliche Handlungs­optionen für die Schweiz erarbeitet hätten. «Diese Entscheidungs­grundlagen sollen jedoch im Lichte der veränderten Situation erneut aufgegriffen, aktualisiert und zu gegebener Zeit dem Bundesrat vorgelegt werden.»

Übersetzt heisst das: Vorderhand geschieht nichts.

Der Fall Janukowitsch

Gemäss Vizekanzler Simonazzi hat der Bundesrat auch über den ehemaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch gesprochen.

Sein Fall ist ein wenig anders gelagert.

Denn von der Schweiz völlig «unbehelligt», wie die Republik schrieb, ist Janukowitsch nicht. Das Schweizer Aussen­departement (EDA) fror bereits Ende Februar 2014 Vermögens­werte von ihm und Personen in seinem Umfeld ein: Insgesamt handelte es sich dabei um rund 70 Millionen Franken. Wie das EDA nun präzisiert, sind diese Vermögen bis heute gesperrt. Die 2016 in Kraft gesetzte Verordnung wurde schon sechsmal um jeweils ein Jahr verlängert.

Doch bald ist damit Schluss: Vermögens­werte dürfen von Gesetzes wegen für maximal zehn Jahre eingefroren werden. Spätestens 2024 müssen sie deshalb an Janukowitsch und seine ehemaligen Mitstreiter retourniert werden, wenn es bis dahin nicht gelingt, sie an die Bevölkerung zurück­zugeben – wofür Urteile ukrainischer Gerichte nötig wären, die die unrecht­mässige Herkunft der Gelder bestätigen.

Noch aber sind die Strafverfahren gegen Janukowitsch und Co., für welche die Schweiz laut EDA zahlreiche Beweis­mittel an die Ukraine übermittelt hat, nicht zu einem Abschluss gekommen. Wegen des Krieges dürfte sich daran so schnell nichts ändern.

Zurzeit entspricht der Schweizer Umgang mit dem seit 2014 in Russland lebenden Janukowitsch ungefähr jenem der EU. Diese führt den ehemaligen Präsidenten (sowie seinen Sohn und einige seiner Minister) auf der Sanktions­liste «Ukraine». Entsprechend schreibt das EDA: «Eine zusätzliche Sperrung mittels Sanktionen, für die das Seco zuständig wäre, würde nichts an seiner Situation ändern und ist deshalb nicht nötig.»

Janukowitsch sorgte zuletzt vor einem Monat für Schlag­zeilen, als er den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski dazu aufrief, «seinen Stolz zu überwinden» und den Wider­stand gegen die russischen Truppen einzustellen. Es gibt Gerüchte, dass Russlands Präsident Wladimir Putin damals geplant haben soll, Janukowitsch wieder als Präsidenten der Ukraine einzusetzen.

Warum sanktioniert nicht das EDA?

Während Wiktor Janukowitsch zwar nicht vom Seco sanktioniert ist, wohl aber vom EDA, bleiben 21 Personen der thematischen EU-Sanktions­listen «Cyber­angriffe», «chemische Waffen» und «Menschen­rechte» von der Schweiz gänzlich unbehelligt. In den letzten Tagen berichteten nach der Republik-Recherche auch der «Blick», «20 Minuten» und Tamedia-Zeitungen über die auf der Seco-Liste fehlenden russischen Staats­bürger. Und heute Freitag zeigte sich die Redaktion von CH Media erstaunt, dass die Schweiz auf eine Sanktion der Gruppe Wagner verzichtet, obwohl ihre Söldner gemäss Erkenntnissen des deutschen Auslands­geheim­dienstes BND massgeblich an den Gräuel­taten im ukrainischen Butscha beteiligt waren.

Könnte also vielleicht das Aussen­departement aktiv werden und Sanktionen gegen diese mutmasslichen Schwer­kriminellen verhängen?

Nein, heisst es beim EDA. Zuständig sei man nur für Sperren eingezogener Vermögens­werte, die an Staaten und Bevölkerungen zurück­gezahlt werden sollen. «Dieses Ziel unterscheidet sich von jenem der Sanktionen, die in die Kompetenz des Seco fallen. Sanktionen sollen politischen Druck auf einen Staat ausüben, der Völker­recht verletzt, damit er sich wieder völker­rechts­konform verhält.»

Bei den thematischen Sanktionen der EU hingegen handle es sich «um ein neuartiges Konzept, das anders funktioniert als bisherige geografisch orientierte Sanktionen».

Allerdings: So neu, wie es das EDA darstellt, sind thematische Sanktionen nicht.

Bereits 2018 erliess Brüssel thematische Sanktionen gegen Personen und Organisationen, die gegen das Chemie­waffen­verbot verstossen. Im Jahr darauf kam eine Liste hinzu, auf der Verantwortliche für Cyber­attacken aufgeführt sind. Und seit 2020 verfügt die EU über rechtliche Grund­lagen, um Menschen­rechts­verletzungen zu sanktionieren. Mit Blick auf die Begründung für das Schweizer Abseits­stehen sagt ein EU-Sprecher auf Anfrage der Republik: «Es kommt wohl darauf an, wie man ‹neuartig› definiert …»

Zaudern gegenüber China

Der Bundesrat steht nicht zum ersten Mal in der Kritik, weil er thematische EU-Sanktionen nicht übernehmen will. Ähnlich war es vergangenen Juli, als er auf Menschen­rechts­sanktionen gegenüber China verzichtete. Der Bundesrat mache, «was er in schwierigen Situationen häufig tut», mahnte die NZZ damals: Er spiele auf Zeit. Eine Arbeits­gruppe des Wirtschafts- und Aussen­departements prüfe «seit Monaten, wie Bern mit den Straf­massnahmen umgehen soll, die Brüssel wegen der Repression der Uiguren gegen China ergriffen hat».

Zwei Monate zuvor, im Mai 2021, hatte der Bundesrat auf eine Anfrage eines Grünen-Nationalrats geantwortet, eine allfällige Übernahme der thematischen Menschen­rechts­sanktionen der EU im Rahmen des Embargo­gesetzes werde «derzeit bundes­intern diskutiert». Der Bundesrat habe dazu noch keinen Beschluss gefasst.

Denselben Wortlaut übermittelten Seco und EDA der Republik in den letzten Wochen mehrmals.

Auf eine entsprechende Nachfrage der Republik betonte ein Seco-Vertreter an einer Medien­konferenz gestern Donnerstag erneut: «Das ist ein neues Konzept. Bevor der Bundesrat einen Entscheid fällt, muss das genau angeschaut werden. Diese Frage geht weit über den aktuellen Kontext mit dem Krieg in der Ukraine hinaus.»

In den Augen von Historikerinnen, Politologen und ausländischen Regierungen mag der russische Angriffs­krieg gegen die Ukraine eine Zeiten­wende markieren.

Der Bundesrat hingegen sieht keinen Grund zur Eile.

Ich will es genauer wissen: Wer und was ist aktuell von der Schweiz sanktioniert?

Nach der russischen Invasion in der Ukraine unterzog das Seco seine Sanktionsliste, die seit 2014 besteht, einer Totalrevision. Die Liste umfasst derzeit – sechs Wochen nach Kriegsbeginn – 874 Personen sowie 62 Unternehmen und Organisationen. Bis gestern Donnerstag wurden in der Schweiz Vermögens­werte von 7,5 Milliarden Franken gesperrt, zudem sind dem Seco 11 Liegenschaften in 4 Kantonen gemeldet worden. Die von der EU seit Ende Februar verabschiedeten vier Massnahmen­pakete hat der Bundesrat übernommen, dasselbe will er mit dem in dieser Woche in Brüssel beschlossenen fünften Paket tun. Hingegen hat der Bundesrat Ende März entschieden, auf Netz­sperren zu verzichten, die die Verbreitung von Inhalten der russischen Propaganda­sender RT und Sputnik verhindern würden. Es sei wirksamer, unwahren Äusserungen mit Fakten zu begegnen, statt sie zu verbieten.

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