«Habe Putin auch schon mal erdolcht»
Die Republik-Community diskutiert, fragt, erzählt. Schon gelesen? Hier finden Sie eine Auswahl aktueller Dialogbeiträge – und einige Überlegungen zum Thema Anonymität.
Von Pascal Müller, 27.05.2022
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Jemand verfasst einen Dialogbeitrag, während er sich weinend hinter dem Sofa versteckt: Sein Sohn lebt mit einer Autismus-Spektrum-Störung und hatte gerade einen Wutanfall. «Ich weiss, dass ich weiterhin stark sein muss», heisst es im Kommentar: «Aber ich weiss nicht mehr, wie.»
Ein anderes Community-Mitglied erzählt von seinem Kind, das unter einer Angststörung leidet und vor der Schule in Tränen ausbricht. Im Dialog beschreibt diese Person den schmerzhaften Moment, in dem sie das weinende Kind am Morgen aus der Tür schieben und hinter ihm abschliessen muss.
Eine dritte Person liest den Text «Der Ekel» über Menschen, die an einer Körperdysmorphen Störung leiden, und merkt zum ersten Mal, dass sie mit ihrer Krankheit nicht allein ist.
Diese Erfahrungsberichte haben Verlegerinnen ohne Angabe ihres Namens geteilt. Warum das bei der Republik möglich ist und bleiben wird, können Sie hier in aller Ausführlichkeit nachlesen.
Was die Beispiele oben zeigen: Die Anonymität kann einen Raum öffnen, der es ermöglicht, persönliche Erlebnisse zu teilen. Erlebnisse, die jemand – aus Rücksicht auf andere oder zum eigenen Schutz – nicht mit Namen im Internet veröffentlichen will.
Weitere anonyme Beiträge aus der Community finden Sie zum Schluss dieses Beitrags. Sie erhalten einen Einblick in die Welt von ADHS-Betroffenen und von Eltern, die nicht mehr weiterwissen. Und Sie erfahren, wie es ist, wenn die eigenen Gedanken ständig darum kreisen, wie man wahrgenommen wird – begleitet von der Angst, sich total daneben zu verhalten. Und dann beichtet auch noch jemand einen mörderischen Tagtraum.
Damit zu den Stimmen aus dem Dialog:
Geständnisse eines privilegierten Mannes
«Ich habe Sexismus nicht gebilligt, sondern übersehen», schreibt der Autor Tobias Haberl in seinem Essay «Der lange Weg zum neuen Mann». Es ist das Geständnis eines Mannes, der jahrelang weder seine Männlichkeit noch die damit einhergehenden Privilegien hinterfragte. Und nun? Tobias Haberl möchte sich ändern. Praktikantinnen nicht mehr mit «Baby» ansprechen und sich bewusst werden, dass «ein Mensch», der die Bühne betritt, nicht zwingend ein weisser heterosexueller Mann sein muss. Das alles fällt Haberl nicht leicht. Die Debatte, die sein Essay auslöste, hatte Resonanz über die Republik hinaus.
Die Kommentare bei @RepublikMagazin geben mir amel bitzli den Glauben an die Menschheit zurück
Die Diskussion zeigt, dass sich auch andere Männer aufgemacht haben. Und dass der Weg zum neuen Mann für manche tatsächlich noch ein langer ist.
(…) die Frage ist, was, wie, wo kann ich beitragen, um mich zu verändern? Was, wie und wo kann ich meine Mitmenschen dafür sensibilisieren und ihnen beistehen, dass sie sich selbst von diesen geschlechtsspezifischen Denk-, Gefühls- und Verhaltensweisen befreien können, wenn sie dafür bereit sind? (…)
Allerdings waren bei weitem nicht alle Verlegerinnen mit dem Beitrag einverstanden:
Ein solcher Text in der Republik? (…) Geht es der Republik um die Erschliessung neuer Käufer-, Pardon, Verlegersegmente? Der Text ist peinlich!
Hier schaltete sich Republik-Reporter Elia Blülle ein, der Haberls Ansichten nicht unbedingt teilt, dem Beitrag aber trotzdem etwas abgewinnen konnte:
(…) Bisher wurden die Debatten von Männern über Männlichkeit oft sehr einseitig und polarisiert geführt. Es trafen selbsterklärte «Feministen» auf durchgeknallte Jordan-Peterson-Anhänger. Und das war es. Produktiv ist das nicht. Haberl finde ich deshalb spannend, weil er eine Position dazwischen einnimmt, dabei m.E. auch ziemlich viel Unsinn erzählt, aber (vergleichsweise) erstaunlich reflektiert bleibt. Daran können wir uns jetzt reiben. So entstehen breite Debatten, die nicht nur in den Nischen geführt werden, wie es bei Fragen rund um Männlichkeit oft der Fall ist. Und diese breiten Debatten sind wichtig.
Wer sind Helden?
«Helden haben gerade Hochkonjunktur», stellte Daniel Strassberg in seiner Kolumne fest. Denn nebst Hunderttausenden von Opfern bringt ein Krieg auch Heldinnen hervor. Weshalb faszinieren uns diese so? Und was ist das überhaupt, ein Held?
«In seiner reinsten Form finden wir den (…) Helden im Western», schreibt Daniel Strassberg. Der Filmheld kämpfe gegen das bürgerliche Recht und die moderne Technik, vor allem aber für die Bedeutung des Einzelnen. «Weil er sie verachtet, kann der Held sich auch nicht an die bürgerlichen Regeln halten. Er muss das Gesetz zwangsläufig übertreten, wenn er es in die eigene Hand nimmt (…)» Die Community reflektierte dies kritisch:
Wieso wird das "sich an Gesetze halten" hier als die pauschal richtige Entscheidung postuliert (und das abweichen davon als nicht-rationaler Rausch)? Das ist offensichtlich nachweislich nicht der Fall, man denke z.B. an die Jim-Crow-Gesetze oder die Gesetze zur Homosexualität.
Dieser Gedanken erlaubt dann auch, dass man darüber nachdenkt, dass es bei Heldenfiguren nicht im Prinzip um Gesetzesübertretung geht, sondern um Gerechtigkeit, oder wichtige Anliegen (z.B. Klimakatastrophe), die ja (offensichtlich) nicht durch den Staat geschaffen oder angegangen wird.
Und andersherum wird auch suggeriert, dass Helden implizit ausserhalb des Gesetzes agieren. Das ist ja auch nicht wie der Begriff verwendet wird, man denke an all die Feuerwehrleute oder Pflegys, die oft so betitelt werden. (…)
Die Frage etwa, ob ein Whistleblower ein Held ist, hat unabhängig vom russischen Angriffskrieg eine höchst aktuelle Dimension.
(…) Bei Zivilcourage, den sog. «Helden des Alltags», und manchen Fällen von Widerstand, bei denen Gesetze übertreten werden – man denke hierbei auch an Whistleblowing – wird der Raum zwischen Legalität und Legitimität, Recht und Gerechtigkeit ausgelotet.
Doch es geht auch um «Helden» i. S. von Avengers und Vigilantes, die das Recht in die eigene Hand nehmen, Selbstjustiz ausüben, etwa Entrechtete rächen und damit das Gewaltmonopol des Staates verletzen. (…)
Darauf aufbauend diskutierte die Community die Ambivalenz des Heldenkults. Übrigens: Falls Sie zu jenen Menschen gehören, bei denen Wladimir Putin Mordfantasien auslöst: Sie sind nicht allein.
Grossartig. Danke für diesen warnenden Blick. Habe Putin auch schon mal erdolcht.
In meinem Tagtraum war es ganz einfach, denn ich war sein Koch...
Daneben gibt es in der Community auch friedvollere Ansätze, Putin umzustimmen:
Spannend. Ich habe Putin bei einer Tasse Tee Basisdemokratie, Frauenrechte und den evolutionären Vorteil von Vielfalt und Diversität erklärt. […] Vielleicht wäre es fruchtbar, einmal über Freiheit und Selbstbestimmung nachzudenken. Wie frei sind wir demokratischen Westler:innen tatsächlich? Wie frei fühlen wir uns? Und wie gehen wir damit um? Ich vermute mal total unbedarft, dass erträumtes Westernheldentum und persönlich gefühlte Unterdrückung irgendwie korrespondieren.
Spiegelreflex
Wenn Adrienne Saxer sich im Spiegel anschaute, verspürte sie nur eines: Ekel. Saxer lebte lange mit einer Körperdysmorphen Störung. Betroffene finden sich so abstossend, dass sie daran verzweifeln und deshalb psychisch krank werden. Welch weitreichende Auswirkungen diese Krankheit auf ein Leben haben kann, spiegelt sich im Debattenbeitrag dieser Person:
(…) Ich habe mich darin wieder gefunden und bin dankbar zu hören, dass es auch andere gibt, die sich ständig solche Gedanken machen. (…) Meine Gedanken kreisen ständig darum, wie ich wahrgenommen werde oder wie ich bei einem Gespräch rüber gekommen bin. Oft kann ich kaum dem Inhalt einer Unterhaltung folgen oder mir den Inhalt merken, weil ich mich ständig selbst beobachte und wie ich wohl rüber komme. Ich kann nie spontan, ehrlich oder authentisch sein, weil ich denke, dann kehren sich alle sofort von mir ab. Da ist die grosse Angst als total daneben zu gelten. Auch ich spreche nie darüber, weil ich nicht glaube, dass es jemand versteht und verzweifele täglich über die Energie, die diese Gedanken verschwenden. Ich habe Hemmungen, jetzt auf "publizieren" zu klicken - gut dass man hier anonym kommentieren kann, aber vielleicht gibt es noch mehr Leute, die sich darin wieder finden, so wie ich mich in dem Artikel.
In der Community erhielt diese sehr persönliche Schilderung viel Zuspruch.
Wenn Kinder nicht funktionieren
Volle Kinderpsychiatrien, überlastete Therapeutinnen und verzweifelte Familien: eine Situation, die sich während der Pandemie noch einmal drastisch verschärfte und nicht nur viel Leid, sondern auch hohe Kosten verursacht. In die Debatte zum Beitrag flossen Perspektiven ein von Betroffenen und von Fachpersonen.
Ist das eigene Kind von einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) betroffen, kann das für Eltern zur grossen Belastung werden:
Daraufhin meldeten sich mehrere ADHS-Betroffene zu Wort – ebenso Eltern, deren Kinder mit einer psychischen Krankheit leben.
Und sie erzählten von ihren Erfahrungen mit ADHS-Medikamenten (und deren Stigma):
Danke für die kritische, fundierte und wache Diskussion!
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