Aus der Redaktion

Ohne Namen, ohne Verantwortung?

Warum Frau Huffington der Anonymität den Kampf ansagte und Sie im Republik-Dialog trotzdem als «Anonym 1» schreiben können.

Von Lucia Herrmann, 15.02.2022

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Anonyme Beiträge gehören meiner Meinung nach nicht in eine vertrauens­würdige Diskussion unter Verlegern und Verlegerinnen.

Verleger A. F.

Wenn man schon Kommentare schreiben will, sollte man sich mit Namen zu erkennen geben.

Verlegerin M. P.

Wie viel würden wir verlieren, wenn wir keinen anonymen Dialog mehr hätten und dann halt nur Beiträge von Leuten, die zu ihrer Meinung auch stehen können (wirklich wertvollen Whistleblower-Informationen bin ich bei den anonymen Beiträgen bisher nicht begegnet)? Und wie viel würden wir gewinnen in der Diskussions­kultur und im Niveau?

Verleger M. M.

Diese oder ähnliche Beiträge sind Ihnen vermutlich schon begegnet im Republik-Dialog. Der Umstand, dass hier Kommentare auch anonym veröffentlicht werden können, ruft immer wieder kritische Reaktionen aus der Community hervor. Im Wesentlichen gibt es zwei Einwände dagegen.

  • Erstens wird befürchtet, dass die Anonymität eine Gefahr für die Diskussions­kultur bei der Republik darstelle. Wer anonym kommentiere, so die Vermutung, schreibe Dinge, die er oder sie unter eigenem Namen nie von sich geben würde. Die Konsequenz: Anonymität führe zu einer Verrohung des Debatten­klimas.

  • Der zweite Einwand zielt auf die zwischen­menschliche Ebene: Einige Dialog­teilnehmerinnen reagieren irritiert, wenn ihnen ein «Anonym 1» antwortet. Versteckt sich da nicht jemand vor mir? Verheimlicht mir da jemand etwas? Man misstraut dem Gegenüber.

Ab und zu wird deshalb gefordert, die Anonym-Funktion im Republik-Dialog abzuschaffen. Verleger sollen nur noch unter ihrem eigenen Namen an den Diskussionen teilnehmen dürfen.

Dass Menschen ohne Angabe ihres Namens Dinge schreiben, die sie sich sonst nicht getrauen würden, muss nicht zwingend schlecht sein. Bei der Republik wünschen wir uns, dass sich alle Verlegerinnen ohne Vorbehalte am Dialog beteiligen können. Es gibt Situationen, in denen man seinen eigenen Namen in einer online geführten Diskussion lieber nicht angeben möchte. Sei es, weil man von einem sehr persönlichen Erlebnis berichten will, sei es, weil man nicht möchte, dass der Chef oder sonstige Arbeits­kolleginnen mitlesen.

Deshalb macht die Republik das Angebot, sich anonym am Dialog zu beteiligen.

Dieses Angebot kann missbraucht werden. Wichtig ist, dass so ein Missbrauch Konsequenzen hat. Bei der Republik ist das der Fall, denn für anonym Schreibende gelten dieselben Regeln wie für alle anderen. Jeder anonyme Beitrag ist mit einem Republik-Profil verknüpft. Wer gegen die Etikette verstösst, dessen Beiträge werden verborgen, und auch für anonym verfasste Beiträge kann man aus dem Dialog ausgeschlossen werden.

Das beantwortet aber noch nicht die Frage, ob Anonymität per se das Debatten­klima beeinflusst. Dazu gibt es eine interessante Fallstudie aus den USA.

Anonymität als Gefahr für die Diskussions­kultur

Die Annahme, dass Anonymität einen schlechten Einfluss auf den Umgangs­ton im Internet hat, ist nicht neu. Schon seit Jahrzehnten diskutieren Sozial­wissenschaftler und Psychologinnen unter dem Begriff des «Online-Enthemmungs-Effekts», ob und inwiefern die Möglichkeit, die eigene Identität online zu verbergen, zu einem allgemein aggressiveren Gesprächs­klima beiträgt.

Für Online­medien ist diese Frage nicht nur interessant, sie ist überlebens­wichtig. Denn wer auf seiner Seite die Leser zum Kommentieren einlädt, möchte die Gäste nicht auf direktem Weg in die Hölle schicken. In den USA entbrannte die Diskussion um Anonymität in den Kommentar­spalten vor knapp zehn Jahren, als verschiedene Medien begannen, ihre bis dahin eher lockere Hand­habung von Online­kommentaren zu überdenken.

«Anonymität holt das Schlimmste aus den Menschen heraus – wir sehen das immer und immer wieder», erklärte etwa Arianna Huffington, die Gründerin der «Huffington Post», im Sommer 2013. Bei der «Huffington Post» erschienen zu jenem Zeitpunkt 270’000 Kommentare pro Tag, darunter eine Flut von Hass­kommentaren. Kein Wunder, dass sich Frau Huffington darüber ärgerte. Überhaupt war sie überzeugt, dass Leute zu ihren Meinungen stehen und sich nicht hinter Anonymität verstecken sollten. Also traf die Zeitung eine Entscheidung: Um einen anständigen Umgangston gewährleisten zu können, werde die Anonymität in den Kommentar­spalten aufgehoben.

Ab Dezember 2013 mussten sich alle Nutzerinnen, die neu auf der Nachrichten­seite kommentieren wollten, über ihr Facebook-Profil anmelden. Ein Sprecher der «Huffington Post» erklärte bereits wenige Wochen nach der Umstellung zufrieden: «Die Kommentare sind besser, die Kommentierer verhalten sich anständiger, die Moderation ist einfacher geworden und der Community geht es gut.»

Glücklich über diese Umstellung waren längst nicht alle. Und als die «Huffington Post» im Sommer 2014 schliesslich entschied, die Kommentare komplett zu Facebook auszulagern, reagierten einige Leserinnen und Beobachter fassungslos. Die Kontroverse drehte sich um grosse Themen: Meinungs­freiheit, Verantwortung und Privat­sphäre in der digitalen Öffentlichkeit.

Sind Klar­namen die Lösung?

Selbstverständlich ist die «Huffpost» (wie das Portal heute heisst) eine ganz andere Art von Medium als die Republik. Was das Beispiel aber so interessant macht: Ein Forschungs­team hat über 42 Millionen Kommentare aus dem Zeitraum von 2013 bis 2015 systematisch ausgewertet, um die Frage zu beantworten, was die Änderung im Diskussions­setting auf der Seite tatsächlich bewirkte.

Die Forscher bestätigten, dass der Anteil beleidigender Beiträge signifikant zurück­gegangen war (um 11 Prozent). Aber sie relativierten die Bedeutung, die die Angabe eines Klarnamens für diese Entwicklung gehabt hatte. Trotz Facebook-Registrierung war es Beitrag­schreibern nämlich bis im Sommer 2014 weiterhin möglich, unter einem Pseudonym an Diskussionen teilzunehmen. Und: Als die «Huffington Post» mit der kompletten Auslagerung der Kommentare zu Facebook eine De-facto-Klarnamen­pflicht einführte, wirkte sich diese Änderung nicht weiter positiv auf das Debatten­klima aus. Im Gegenteil.

Wichtiger als die Angabe eines Klarnamens war nach Einschätzung der Forscher der Umstand, dass sich Kommentiererinnen nicht mehr beliebig oft und einfach registrieren konnten. Anonymität war nicht mehr «easy», die Identität der Teilnehmer im Online­forum wurde dauerhafter. Und sie betonten: Die simple Gegen­überstellung Anonym vs. Klarname wird der Vielschichtigkeit von online geführten Debatten nicht gerecht.

Wie das Klima innerhalb eines Forums ist, hängt nicht bloss vom Setting ab, sondern vom gesamten Kontext. Weitere Faktoren wie die klare Kommunikation von Anstands­regeln, eine sichtbare Moderation oder die Beteiligung von Journalistinnen beeinflussen, wie sich der Ton in den Kommentar­spalten von Online­medien entwickelt. Die Publizistin Ingrid Brodnig hat die Klarnamen­debatte bereits 2014 als Stellvertreter­krieg bezeichnet: «Im Kern geht es darum, wie wir das menschliche Miteinander in digitalen Zeiten regeln wollen, wie wir ein Mindest­mass an Respekt wahren können», schreibt sie in ihrem Buch «Der unsichtbare Mensch».

Und damit zurück zum Republik-Dialog.

Namenlos bedeutet nicht ohne Verantwortung

Die Republik-Crew und die meisten Verleger melden sich unter ihrem Klarnamen zu Wort. Wer im Republik-Dialog hingegen einen anonymen Beitrag schreibt, ist für die anderen Leserinnen und die Redaktion nicht mit Namen erkennbar. Und was ist mit dem Zwischen­menschlichen? Dem fehlenden Vertrauen, wenn der Name fehlt?

Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit. Deshalb hier zwei abschliessende Gedanken und eine Erinnerung.

Für alle, die sich von der Anonymität eines Kommentars provoziert fühlen: Bevor Sie ein Urteil über Ihr Gegenüber fällen und über dessen finstere, fiese Beweg­gründe mutmassen, fragen Sie nach. Vergangene Gesprächs­verläufe haben gezeigt, dass eine ehrlich gemeinte Frage auf Verständnis stösst.

Und für alle, die sich dazu entscheiden, einen Beitrag anonym zu verfassen: Auch wenn Sie Ihren Namen nicht nennen möchten, mit dem Angeben einer «Rolle» können Sie den anderen Diskussions­teilnehmern trotzdem signalisieren, mit wem diese es zu tun haben. Sie können gezielt entscheiden, welche Angaben über Ihre Person oder über Ihren Blick auf die Welt für die laufende Diskussion relevant sind.

Und wenn Ihnen dennoch ein Beitrag negativ auffällt, anonym oder nicht, dann melden Sie ihn bitte mit einer «Flagge» (zu finden im Menü rechts oberhalb des Kommentar­felds).

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