Strassberg

Der Westernheld reitet wieder

Wir bewundern den Widerstand der Ukrainerinnen, zu Recht. Aber warum identifizieren wir uns so stark mit der Ukraine? Und warum sind wir so empfänglich für Helden-Epen?

Von Daniel Strassberg, 17.05.2022

Synthetische Stimme
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Heldenhaft wehren sich die ukrainische Armee und die Bevölkerung gegen die russischen Invasoren; besonders ihr Präsident, Wolodimir Selenski, hat sich vom Komiker zum grössten Helden der Gegenwart gewandelt. Ungeachtet der Gefahr für Leib und Leben kämpfen die Ukrainerinnen gegen den über­mächtigen Feind, um Demokratie und Freiheit, die auch unsere obersten Werte sind, zu verteidigen. Wie ein Mann (Frauen gehören auch dazu) stellt sich der Westen deshalb hinter (oder vor oder neben) die Kämpferinnen von Kiew.

Helden haben gerade Hoch­konjunktur.

Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Es steht ausser Frage, dass hier ein faschistischer Diktator einen unabhängigen Staat angegriffen, inter­nationales Recht verletzt und unermessliches Leid über die Menschen gebracht hat. Darüber hinaus treibt er die Welt nur deshalb an den Rand eines Atomkriegs, weil er sich in seinem krankhaften Grössen­wahn nicht eingestehen kann, dass er sich gewaltig verschätzt hat. Daran gibt es nichts zu deuteln, und dafür gehört Putin ohne Wenn und Aber vor Gericht gestellt.

Auch versuche ich nicht, wie gerade eben andere Intellektuelle aus unserem nördlichen Nachbar­land, vom sicheren Lehnstuhl aus den Menschen in der Ukraine Ratschläge zu geben, wie sie sich zu verhalten und zu präsentieren haben. Das ist eine Anmassung, um das Mindeste zu sagen.

Hier geht es um etwas anderes, hier geht es um uns, genauer um die Rhetorik, mit der der sogenannte «Westen» auf diese unvorstellbare Gewalt reagiert. Vielleicht lässt sich dann besser verstehen, weshalb ukrainische Flüchtlinge selbst von der SVP mit offenen Armen empfangen werden (bis anhin jedenfalls), während die syrischen Flüchtlinge wie eine abzuwehrende Plage behandelt worden sind, obwohl beide dasselbe Schicksal von demselben Feind erlitten haben. Es ist sogar derselbe General, Alexander Dwornikow, der für Massaker in beiden Ländern verantwortlich ist.

Der «Tages-Anzeiger» vom 2. Mai schreibt über den Geldbetrag, der den ukrainischen Flüchtlingen zur Verfügung steht: «Es handelt sich oft um ein beschämendes Trinkgeld, peinlich in jeder Hinsicht.» Das ist zweifellos richtig, aber ich erinnere mich nicht, im selben Blatt Ähnliches über die syrischen Flüchtlinge gelesen zu haben, die in manchen Kantonen nur ein paar Franken pro Tag erhalten, was nicht einmal reicht, um mit dem ÖV Verwandte und Bekannte zu besuchen, obwohl gerade das für sie überlebens­wichtig wäre. Ganz abgesehen von den willkürlichen Rayon­verboten, die gegen sie erlassen wurden. Die ukrainischen Flüchtlinge hingegen dürfen den öffentlichen Verkehr unentgeltlich benutzen.

Dass Rassismus bei dieser Ungleich­behandlung eine Rolle spielt, steht ausser Frage, doch als alleinige Erklärung genügt er nicht. Vielmehr ist der Rassismus nur eine der Bedingungen, dass sich für den Überfall auf die Ukraine eine andere Erzählung durchgesetzt hat als für die Zerstörung Syriens. Obwohl auch die syrischen Flüchtlinge alle Elemente für eine Helden­erzählung beisammen hätten – eine unterdrückte Bevölkerung setzt sich im Namen von Demokratie und Freiheit gegen einen brutalen Tyrannen zur Wehr –, ist daraus die Geschichte eines fernen Stammes­kampfes geworden, den wir nicht verstehen und der uns deshalb auch nichts angeht.

Aus dem Krieg in der Ukraine hingegen konnte bei schlechteren Ausgangs­bedingungen – Freiheit und Demokratie waren nicht eben die hervor­stechendsten Merkmale der Ukraine vor dem Krieg – ein Helden-Epos erschaffen werden.

Folgen wir Hegel, der meines Erachtens bis heute die luzideste Analyse der Figur des Helden in der Moderne geliefert hat, so gibt es den modernen Helden zunächst nur als Kunst­figur. Reale Heldinnen, ausserhalb von Literatur und Film, gibt es demnach gar nicht. Nicht zufällig behandelt Hegel den Helden in seinen Vorlesungen zur Ästhetik.

Nach Hegels Theorie haben die Bürger des modernen Staates aus psychologischen Gründen ein Bedürfnis nach Helden­literatur:

Die einzelnen Individuen erhalten dadurch im Staate die Stellung, dass sie sich dieser Ordnung und deren vorhandener Festigkeit anschliessen und sich ihr unterordnen müssen, da sie nicht mehr mit ihrem Charakter und Gemüt die einzige Existenz der sittlichen Mächte sind, sondern im Gegenteil, wie es in wahrhaften Staaten der Fall ist, ihre gesamte Partikularität der Sinnesweise, subjektiven Meinung und Empfindung von dieser Gesetzlichkeit regeln zu lassen und mit ihr in Einklang zu bringen haben.

G. W. F. Hegel, «Vorlesungen über die Ästhetik I», Werke 13.

In einem modernen Staat muss sich jede Bürgerin dem Gesetz unterwerfen. Ihre subjektive Ansicht darüber, was gerecht und moralisch ist, spielt, ausser an der Urne, keine Rolle. Darüber hinaus verfügt der Staat über das Gewalt­monopol, das dem Einzelnen die Mittel nimmt, was er für richtig hält, mit Zwang und Gewalt durch­zusetzen. «Hierin unterscheidet sich eben die Strafe von der Rache», schreibt Hegel weiter.

Zwar profitieren der Bürger und die Bürgerin von der Ordnung des Staates, die ihre äussere Existenz und ihr Eigentum schützt, aber dennoch sehnen sie sich nach einem vorstaatlichen Zustand, in dem noch die Gesinnung und Einsicht des Individuums darüber entschied, was Recht und was Unrecht ist. Mit seiner Kraft und Tapferkeit sorgte das Individuum auch dafür, dass ihm bleibt, was ihm gehört und gebührt. «Ein solcher Zustand ist es», schreibt Hegel weiter, «den wir der Heroenzeit zuzuschreiben gewohnt sind.»

Auf den Helden oder die Heldin projiziert deshalb der Bürger, der zu einem unbedeutenden Rädchen im Staats­getriebe herab­gesunken ist, seine Sehnsucht nach Bedeutsamkeit, den Wunsch, dass seine Einsichten und Werte nicht nur an der Urne zählen, sondern sich mit persönlichem Mut durchsetzen lassen, notfalls mit Gewalt. Da dies in einer Demokratie natürlich nicht angeht, muss die Sehnsucht nach Helden in der Literatur und im Film ausagiert werden.

In solchem Zustande [dem modernen Staat, DS] also ist die von uns geforderte Selbständigkeit nicht zu finden. Deshalb haben wir für freie Gestaltung der Individualität die entgegen­gesetzten Zustände gefordert, in welchen das Gelten des Sittlichen allein auf den Individuen beruht, welche sich aus ihrem besonderen Willen und der hervorragenden Grösse und Wirksamkeit ihres Charakters an die Spitze der Wirklichkeit stellen, innerhalb welcher sie leben. Das Gerechte bleibt dann ihr eigenster Beschluss.

Hegel, «Vorlesungen über die Ästhetik I».

In seiner reinsten Form finden wir den hegelschen Helden im Western. Das zeichnet Josef Früchtl in seinem Buch «Das unverschämte Ich» nach: Nur auf sich selber gestellt kämpft der Western­held im Namen der alten Werte des Westens, die die eigentlichen, universalen Werte sind, gegen den Einbruch der Moderne – symbolisiert durch den durch­triebenen Anwalt aus dem Osten, der die anonyme Macht des Kapitals vertritt («The Big Country», William Wyler, 1958), oder durch die Eisenbahn, die die unberührte Natur durchschneidet («Red River», Howard Hawks, 1948). Der Protagonist des Westerns kämpft also gegen das bürgerliche Recht und gegen die moderne Technik – und vor allem für die Bedeutung des Einzelnen.

Weil er sie verachtet, kann der Held sich auch nicht an die bürgerlichen Regeln halten. Er muss das Gesetz zwangsläufig übertreten, wenn er es in die eigene Hand nimmt, sodass er am Ende vom Bösewicht nur noch durch die Farbe des Hutes zu unterscheiden ist. Der Gute trägt Weiss, der Böse Schwarz. Die Heldin vollbringt im Unter­schied zum gewöhnlichen Verbrecher ihre Taten jedoch nicht aus Eigennutz oder aus niederer Gesinnung, sondern für eine bessere Welt und für höhere Werte. Sie bricht das Recht im Dienst der Gerechtigkeit.

Wenn Dieter Thomä, Philosophie­professor an der HSG, verkündet, die Demokratie brauche Heldinnen, hat er ironischer­weise recht: Der Bürger braucht Helden-Epen, ob nun Homers «Odysseus» oder «James Bond», als Ventil für die Schmach seiner Bedeutungs­losigkeit. Während zweier Stunden leben John Wayne oder Daniel Craig stellvertretend seine (Gewalt-)Fantasien aus. An seiner statt nimmt die Heldin das Gesetz in die Hand. (Eine kleine Umfrage im Bekannten­kreis ergab, dass eine überraschend grosse Anzahl schon den Tagtraum hatte, im Alleingang Putin auszuschalten. Der Schreibende miteingeschlossen.)

So weit wäre alles im Lot, wäre in den Neunziger­jahren des letzten Jahrhunderts die politische Landschaft nicht nachhaltig erschüttert worden, wahrscheinlich eingeläutet von Ronald Reagan. Der vierzigste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika war in seinem ersten Leben tatsächlich Western­held gewesen. Doch der Film­schauspieler verliess die Leinwand und gab den Cowboy als Gouverneur in Kalifornien und später als Präsident in Washington D.C. Von da an gab es kein Halten mehr. Ein völlig neues Phänomen beherrscht die politische Landschaft seither: Die Western­helden gehen in die Realpolitik.

Die ersten Politiker, die offen das Gesetz brachen und dadurch an Beliebtheit gewannen, waren wohl Jörg Haider und Silvio Berlusconi, und seither haben sie viele Nachfolger gefunden. Die Regeln zu brechen und das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen, ist plötzlich kein Rücktritts­grund mehr wie noch bei US-Präsident Richard Nixon, sondern es ist zum politischen Vorteil geworden. Der Bürger fühlt sich von solchen Politikern vertreten, nicht weil sie für seine Interessen kämpfen, sondern weil sie stellvertretend seine Fantasien und Träume ausleben.

Da sich in der realen Welt immer mehr selbst ernannte Helden tummeln, die sich über das Gesetz stellen, heften sich zunehmend auch die Projektionen des Bürgers (hier, wie an ein paar anderen Stellen des Artikels, absichtlich nicht gegendert) an reale Situationen. Es mag zynisch klingen, aber in unserer Medien­bericht­erstattung und in der öffentlichen Debatte erfüllt der Krieg in der Ukraine eine ähnliche Funktion wie der Western: Er erlaubt eine Identifikation mit den Helden.

Im Krieg in Syrien war eine solche Identifikation nicht möglich, weil die unter­schiedliche Hautfarbe und Kultur einerseits eine Identifikations­sperre darstellten und weil andererseits die entsprechenden Helden­erzählungen fehlten. Es gab nur Opfer, und mit Opfern will man lieber nichts zu tun haben.

Dass die Menschen in der Ukraine gerade unglaublichen Mut an den Tag legen, vor dem man sich nur still verneigen kann, soll überhaupt nicht infrage gestellt werden. Doch das Gerede vom Helden birgt Gefahren. Unter dem Banner des Kampfes für Demokratie und Freiheit erblüht auch eine zutiefst antidemokratische Tendenz: der Wunsch, die demokratischen Errungenschaften der Moderne wenigstens für einen Augenblick zu suspendieren. Sich einmal im Leben, und sei es nur stellvertretend, an kein Gesetz und an keine Regel halten zu müssen, dadurch gerechtfertigt, dass auch der Aggressor sich an keine Regel hält.

Die Heldenrhetorik ist mit anderen Worten unheimlich, weil sie in einen kollektiven Rausch führt, der rationale Überlegungen ausschliesst – wie derzeit das Thema Aufrüstung zeigt.

Und weil jeder Rausch im Kater endet.

Illustration: Alex Solman

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