Getty Images

Diesmal haben sie blaue Augen

Der Krieg in der Ukraine legt den Rassismus in Europa offen.

Ein Kommentar von Emran Feroz (Text) und Anthony Gerace (Illustration), 10.03.2022

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!

Im Hintergrund hört man Schüsse, und Hamza posiert mit seiner Waffe für Schau­lustige, die stecken geblieben sind. Im Pech-Tal in der nordost­afghanischen Provinz Kunar herrscht Stau: Eine Taliban-Mine ist hoch­gegangen und hat die ohnehin schon brüchige Strasse in Stücke gerissen.

Die Menschen verlassen ihre Fahrzeuge. Manche versuchen das Loch zu stopfen. Einige trinken Tee und plaudern mit Freunden und Bekannten, die sie hier zufällig getroffen haben. Andere wollen ein Foto mit dem strahlenden Hamza. Er stammt aus dem Distrikt Dar-i Noor, dem «Tal des Lichts», in der angrenzenden Provinz Nangarhar.

Und während Hamza in die Kamera lächelt und seine Waffe zeigt, schiessen seine Kameraden der afghanischen Armee auf einen hoch gelegenen Taliban-Hinterhalt.

Die Situation ist brand­gefährlich und paradox. Ein «normaler Tag» im Pech-Tal.

Die Soldaten kämpfen unerschrocken, doch sie wirken müde. «Das ist hier seit Jahren Alltag», erzählt einer von ihnen. Eine Woche zuvor haben sie einen Kameraden begraben. Wenige Tage später einen weiteren. Der Kampf gegen die Taliban scheint aussichtslos. Die US-Truppen haben das berühmt-berüchtigte Tal, wo einst bereits die Sowjets eine Nieder­lage nach der anderen erfuhren, vor rund zehn Jahren verlassen.

Hamza und seine Kameraden sind allein und auf sich gestellt. Meist fehlen Munition, Nahrung und ein regel­mässiger Sold. «Wir brauchen niemanden. Das ist unser Kampf – und mit Gottes Wille werden wir siegen», sagt Hamza. Dann eilt er zu den anderen Soldaten, um ihnen beiseite­zustehen.

Das war Anfang 2021.

Heute habe ich keine Ahnung, was aus Hamza und den anderen afghanischen Soldaten geworden ist, die ich nicht nur im Pech-Tal, sondern in vielen anderen Provinzen des Landes über die Jahre getroffen habe. Unter ihnen etwa Karim, ein sehr junger Mann, der einmal mit mir im Bus von Mazar-i Sharif nach Kabul sass, oder Yar Mohammad, den ich an einem Check­point nahe der Provinz Khost traf.

Im August eroberten die militant-islamistischen Taliban fast zwanzig Jahre nach ihrem Sturz Kabul zurück, während die Streit­kräfte der Nato unter der Führung der USA abzogen. Seitdem regieren die Taliban wieder ganz Afghanistan. Und ja, dies ist tatsächlich auch weiterhin der Fall, obwohl man fast schon meinen könnte, dass das Land am Hindukusch und der dazugehörige Krieg in den Köpfen vieler Menschen nicht mehr existieren. Dies hat sicherlich auch damit zu tun, dass mittler­weile auch in Europa Krieg herrscht.

Zum Autor

Emran Feroz ist austro-afghanischer Journalist. Er berichtet regelmässig aus und über Afghanistan, meist für deutsch- und englisch­sprachige Medien wie «Foreign Policy», Deutschland­funk Kultur oder die WOZ. Vor kurzem erschien sein Buch über den Afghanistan­krieg, «Der längste Krieg. 20 Jahre War on Terror».

Es ist erst zwei Wochen her, dass Putin seine gross angelegte Invasion gegen die Ukraine gestartet hat. Seitdem sind viele jener Korrespondenten, die noch im August aus Kabul berichteten, in Kiew präsent.

Klar, das ist der Job eines Kriegs­reporters – und dennoch wird mir bei vielen Szenen etwas mulmig. Da sieht man etwa die CNN-Star­korrespondentin Clarissa Ward, die im Sommer – aus der Sicht vieler Afghaninnen und Afghanen – ordentlich ins Fett­näpfchen trat, als sie Selfies mit den Taliban machte und davon schrieb, nun «Geschichte zu erleben» («witnessing history»).

Der afghanischen Journalistin Fatima Faizi, die damals für die «New York Times» tätig war und unter schwersten Bedingungen aus Kabul evakuiert werden musste, fiel es schwer, Wards Worte unkommentiert zu lassen. «Du erlebst es, aber wir müssen es erfahren», antwortete sie ihr auf Twitter.

Der berechtigte Vorwurf: Ward und andere westliche Journalisten würden sich in sensations­lüsterner Art und Weise Hals über Kopf nach Afghanistan stürzen, um – oft mit Halb­wissen und ohne jegliche Sprach­kenntnisse – zu «berichten», während die Menschen vor Ort praktisch vor die Hunde gehen und ihr Leid gleichzeitig in voyeuristischer Art und Weise rund um den Globus gestreamt wird. Ein deutsch­sprachiger Reporter, der in dieses Raster fiel, war etwa «Bild»-Korrespondent Paul Ronzheimer, der sich nun ebenfalls in der Ukraine aufhält und dort unter anderem mit den Klitschko-Brüdern unterwegs ist.

«Echte Flüchtlinge» aus «unserem Kultur­kreis»

Umso trauriger ist es, dass ausgerechnet der brutale Krieg in der Ukraine nicht nur den Rassismus der westlichen Medien und vieler Menschen in Europa und anderswo offenbart, sondern auch dazu instrumentalisiert wird, um auf das angebliche «Versagen» von jungen Männern wie Hamza aufmerksam zu machen.

Um zunächst bei Ersterem zu bleiben: Worum geht es genau? Bereits wenige Tage nach Kriegs­beginn hiess es seitens amerikanischer oder britischer Journalistinnen, dass die Ukraine «kein Drittwelt­land» oder «nicht der Irak oder Afghanistan» sei, sondern vor allem «europäisch» und «zivilisiert». Während eines Interviews mit der BBC meinte ein ehemaliger ukrainischer Staats­bediensteter sogar, dass er besonders emotional sei, weil die Opfer «blond und blauäugig» sind.

Auch der Chefredaktor der NZZ Deutschland liess, wie erwartet, nicht lange auf sich warten und meinte: «Die Ukraine ist nicht irgendein Land. Sie ist ein europäisches Land.» Gefolgt von der Fest­stellung, dass es sich «diesmal» um «echte Flüchtlinge» handeln würde, denn: «Niemand kann die Gefahr leugnen, in der sie stecken. Das ist bei vielen Migranten, die in der Vergangenheit als vermeintliche Flüchtlinge nach Europa gekommen sind, anders.»

Im deutschen Fernsehen, in Frank Plasbergs Talkshow «Hart, aber fair» (ab 1:13:00), schwadronierten einige der Gäste wie auch der Moderator von «unserem Kultur­kreis», der Konfession der meisten Ukrainerinnen – sie sind Christen! – und der Feigheit jener «wehrfähigen, starken Männer», die 2015 nach Deutschland kamen und nicht Manns genug waren, ihre Heimat zu verteidigen.

Ich war schockiert – und musste sofort an Hamza denken.

Eins vorweg: Mir geht es hier weder darum, Militarismus zu zelebrieren, noch darum, die afghanische Armee – eine der korruptesten und auch brutalsten Institutionen im Afghanistan der letzten zwanzig Jahre – zu verteidigen. Doch gleichzeitig ist es einfach grund­legend falsch, den gegen­wärtigen Krieg in der Ukraine mit jenem in Afghanistan zu vergleichen und jungen Männern wie Hamza so etwas wie Feigheit vorzuwerfen.

In den letzten zwei Jahrzehnten starben Zehn­tausende von Afghanen, die in der Armee dienten. Jahr für Jahr war die Zahl der getöteten Soldaten drei- bis viermal so hoch wie jene von Zivilistinnen. So genau weiss es wohl niemand, weil diese Menschen von niemandem richtig gezählt wurden. Dies betrifft natürlich auch jene Regierungen, die vor den Taliban in Kabul «regierten», sprich: korrupte Akteure, die durch Washington und seine Verbündeten an die Macht gebracht wurden.

Viele Soldaten entstammten armen Familien. Sie reisten meist quer durch das ganze Land, um Wochen oder gar Monate an einem dreckigen, abgelegenen Stütz­punkt zu verbringen – permanent unter Lebens­gefahr und meist ohne genügend Munition, regel­mässige Mahlzeiten und Sold. All dies taten diese Männer, weil sie davon überzeugt waren, ihrem Land zu dienen und es zu verteidigen. Während sich die westliche Bericht­erstattung fast ausschliesslich auf getötete Nato-Soldatinnen konzentrierte, hörte man über die grossen Opfer ihrer afghanischen Kameraden, die den Krieg in erster Linie austrugen, kaum etwas.

Dies geschah zwanzig Jahre lang, und es war klar, dass irgendwann genug sein würde. Man kann von niemandem, und ja, tatsächlich auch von keinem Mann, wie es heute im Kontext der Ukraine zelebriert wird, verlangen, jahre­lang zu kämpfen. Vor allem dann nicht, wenn ebenjener Kampf lediglich dem Erhalt korrupter Eliten dient und kriminellen Militär­chefs, die dich im erstbesten Moment verkaufen. Genau das und nichts anderes geschah in Afghanistan im vergangenen Sommer.

Viele Soldaten waren gezwungen, ihre Waffen nieder­zulegen, nachdem ihnen bewusst geworden war, dass viele ihrer Führer schon längst Deals mit den Taliban abgeschlossen und das Weite gesucht hatten. Sie mussten fliehen, weil sie weder Munition noch Geld hatten, weil korrupte Politiker, etwa im Verteidigungs­ministerium, jahrelang die Gehälter ihrer Soldaten einsteckten und mit Fress- und Trink­orgien beschäftigt waren, während die Männer an der Front von Brot und Tee lebten. Vielen Soldaten wurde klar, dass sie lediglich die Zahn­räder eines gigantischen Systems waren, das von Korruption und Kriminalität durch­seucht wurde.

Der tapfere weisse Mann

Mit derart komplexen Realitäten können heute viele wenig anfangen. Warum? Weil sie nicht ihr Narrativ bedienen. Stattdessen benutzen sie den Russland-Ukraine-Krieg, um auf die Tapferkeit des weissen Mannes aufmerksam zu machen. Jenes Mannes, der nicht flieht, wenn die bösen Russen kommen, sondern Frau und Kind auf die Flucht schickt und selbst zur Waffe greift.

Während ich diese Zeilen schreibe, erreichen mich abermals rassistische Nachrichten von Menschen, die meist nicht einmal anonym im Internet unterwegs sind. Sie schreiben mir Dinge wie: «Die Ukrainer nehmen wir, aber keine Scheiss­muslime!», oder: «Das sind Frauen und Kinder und keine Vergewaltiger.» Und was natürlich auch nicht fehlt: «Hätten SIE doch Ihr Land verteidigt!» Solche Sätze haben mich in den letzten Tagen zuhauf erreicht – sie machen deutlich, dass in unserer Gesellschaft vieles falsch läuft.

Die rassistische Bericht­erstattung im Kontext des Russland-Ukraine-Krieges hat bereits verdeutlicht, dass derartiges Gedanken­gut nicht nur in den Köpfen von zahllosen Facebook-Userinnen herum­schwirrt, sondern auch in jenen von Politikern und in politischen Institutionen präsent ist. Jean-Louis Bourlanges, ein hochrangiger französischer Politiker, bezeichnete ukrainische Geflüchtete als «hoch­qualifiziert», während der bulgarische Minister­präsident ihm nicht nur zustimmte, sondern noch deutlicher, ja, noch wider­wärtiger wurde: «Das ist nicht die Flüchtlings­welle, die wir kennen, sprich, Menschen, über deren Identität wir uns nicht sicher sein können, die Terroristen gewesen sein könnten.» Ein spanischer Kongress­abgeordneter meinte klipp und klar: «Ukrainische Geflüchtete sind willkommen, muslimische sind es nicht!»

Die deutsche Bundes­innen­ministerin Nancy Faeser kündigte vor kurzem an, dass ukrainischen Geflüchteten schnell und unbürokratisch geholfen werde. Die Schweizer Justiz­ministerin Karin Keller-Sutter erklärte letzte Woche, dass ukrainischen Geflüchteten rasch und unbürokratisch geholfen werden solle. Die Schweiz hat erstmals den sogenannten Schutz­status S aktiviert, der Flüchtlingen aus der Ukraine einen vorläufigen Aufenthalt sichern soll.

Das ist gut, wichtig und notwendig. In der gegen­wärtigen Situation sind es solche Schritte, die viele von der Politik erwarten. Und dennoch fragt man sich, warum all dies nicht auch für die Menschen aus Syrien galt, die wie die Ukrainerinnen heute vor Putins Bomben und seinem Schergen Bashar al-Assad geflüchtet sind. Warum galt das nicht für all die Afghanen, die in den letzten Jahren aufgrund von Krieg und Zerstörung ihr Land verlassen haben und zuletzt im vergangenen August nach der Rück­eroberung Kabuls durch die Taliban von jenen Deutschen, mit denen sie jahrelang zusammen­gearbeitet haben – Stichwort Orts­kräfte –, nicht evakuiert wurden?

Wer solch berechtigte Fragen nicht hören will und sie sogar als What­aboutism oder Ähnliches bezeichnet, liegt nicht nur falsch, sondern macht seine eigene Ignoranz deutlich. Ich selbst habe zu viele afghanische Freundinnen und Verwandte, die in den letzten Jahren aufgrund massiver bürokratischer Hürden, die von den Behörden oft bewusst aufgebaut wurden, regelrecht zermürbt worden sind und an Depressionen litten – während ihre Kriegs­traumata sie weiterhin belasteten. Diese Traumata existieren bis heute und können nicht durch ein, zwei Besuche bei einem von der Kranken­kasse bezahlten Psychiater aus der Welt geschafft werden. Manche dieser Menschen sind sogar abgeschoben worden.

Muslime kämpfen für die Ukraine

Umso abstossender ist es, dass ebenjene Menschen nun dem Hohn und dem Spott des rassistischen Bildungs­bürgers ausgesetzt sind. Ironischer­weise will dieser Bildungs­bürger auch gewisse Realitäten in der Ukraine nicht anerkennen oder übersieht diese bewusst. Der heldenhafte Präsident des Landes ist kein blauäugiger, blonder Christ, sondern Jude.

Ein beträchtlicher Anteil der ukrainischen Milizen besteht aus Muslimen, darunter etwa Tataren, die bereits 2014 bei der Annektierung der Krim durch Putin ihre Heimat verloren haben, oder Tschetschenen, die zu den ersten grossen Opfern des russischen Staats­chefs zählen. Ihre Heimat wurde vor zwei Jahrzehnten in Schutt und Asche gebombt. Vieles, was in Tschetschenien geschah, wiederholt sich nun in ukrainischen Städten. Schon 2014 wurde bekannt, dass einige afghanische Kämpfer auf proukrainischer Seite präsent waren. Ich erinnere mich an das Interview mit einem afghanischen Kämpfer, der in fliessendem Ukrainisch davon sprach, seine Heimat verteidigen zu wollen.

Bis zu Beginn des Krieges lebten rund 5000 Afghanen in der Ukraine. 370 von ihnen wurden erst im vergangenen August nach der Rückkehr der Taliban aus Kabul evakuiert. Es ist tragisch, dass diese Menschen nun abermals fliehen müssen – und dass ihr lang­jähriges Leid nun bewusst ausgeblendet wird, weil sie laut einigen Menschen nicht die richtige Haut- oder Augen­farbe haben – oder den richtigen Glauben.

Es gibt in diesen Tagen nicht wenige Menschen, die meinen, es sei aufgrund der geografischen Nähe völlig in Ordnung, für die flüchtenden Ukrainerinnen mehr Mitleid zu empfinden als für andere Menschen in Not. Doch was bedeutet das überhaupt in der globalisierten Welt des 21. Jahr­hunderts? Wäre die Distanz so gross, wären ebenjene Afghanen doch gar nicht in der Ukraine – und mittler­weile in Warschau, Berlin oder anderswo.

Ein Beispiel hierfür ist Ramez, Anfang zwanzig. Er flüchtete vor zwei Jahren über Russland in die Ukraine. Kurz vor unserem letzten Gespräch wartete er auf seinen Bus nach Deutschland. Seine zweite Flucht, diesmal aus Odessa, war zum Glück innerhalb weniger Tage vorbei. «Jeder hat das Recht auf ein sicheres Leben, egal ob Ukrainer oder Afghanen. Ich hoffe sehr, dass es uns allen in Deutschland gelingt», sagte er, bevor er in den Bus stieg.

Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus mit einem Monatsabonnement oder einer Jahresmitgliedschaft!